Mensch des Jahres

Wolodymyr Selenskyj: Der Mann, der die freie Welt wachrüttelte

Er bietet Wladimir Putin die Stirn und haucht dem Westen neues Leben ein. Wolodymyr Selenskyj ist der profil-„Mensch des Jahres“.

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Wenn die profil-Redaktion alljährlich im Dezember den „Mensch des Jahres“ kürt, tun wir dies aus der Perspektive eines weltoffenen Magazins, das in Österreich beheimatet ist. Will heißen: Manchmal kommt eine Persönlichkeit aus dem Ausland zum Zug (Angela Merkel 2015, Greta Thunberg 2019), manchmal jemand aus dem eigenen Land (Arigona Zogaj 2009, Thomas Schmids Handy 2021). Das Besondere in diesem Jahr ist, dass der profil-Mensch des Jahres 2022, Wolodymyr Selenskyj, zwar Staatspräsident der Ukraine ist, dass er es aber geschafft hat, weltweit nicht nur als der Repräsentant der von Russland angegriffenen Ukraine angesehen zu werden, sondern als der Mann des Westens.

Wer sich gedanklich, ideologisch, real als Teil des Westens begreift – und das gilt für die Republik Österreich ebenso wie für das Nachrichtenmagazin profil –, kommt zu dem unumgänglichen Schluss: Selenskyj ist unser Mann. Es liegt kein Mangel an Originalität zugrunde, wenn die britische Tageszeitung „Financial Times“, das US-Magazin „Time“ und nun auch profil dieselbe Person als die wichtigste und einflussreichste in diesem Jahr erachten. „Der Westen“ schien als Begriff ebenso wie als dominierende Macht der Geopolitik langsam ausgedient zu haben. Er taugte nach weit verbreiteter Ansicht nur noch für Abgesänge auf seine schwindende militärische Potenz (der demütigende Abzug der US-Truppen aus Afghanistan im August 2021), seine sinkende wirtschaftliche Bedeutung (der Aufstieg Chinas nach allen Kriterien) und seine Unfähigkeit, mit den Mitteln der liberalen Demokratie des Phänomens des autoritären Rechtspopulismus Herr zu werden.

Dann, am 24. Februar dieses Jahres, überfällt Putins Russland die Ukraine, und plötzlich steht der 44-jährige Ex-Komödiant Selenskyj im Mittelpunkt des Weltinteresses. Zunächst, weil er trotz der scheinbar übermächtigen russischen Streitkräfte entscheidet, nicht das Land zu verlassen und nicht zu kapitulieren, sondern seine Armee anweist, Widerstand zu leisten. Mit diesem Akt der Tapferkeit erwirbt er sich Respekt.

Diesen Respekt will sich der zum Kriegsherrn Verdammte nicht nutzlos an die Wand hängen. Er benutzt ihn als Investment, um sich die Unterstützung des Verbündeten zu erwerben, den er zu Hilfe ruft: den Westen. Selenskyj stellt den Krieg als existenzielles Endspiel zwischen einer autoritären Macht und einem demokratischen Staat dar und verspricht, er und seine Nation würden alle denkbaren Opfer bringen, um die Attacke Putins zurückzuschlagen, wenn die westlichen Verbündeten sie dabei unterstützen. Anfangs erscheint Selenskyjs Ziel mehr als kühn, zugleich aber alternativlos. „Warum der Westen siegen muss“ lautet der Titel eines profil-Leitartikels einen Monat nach Kriegsbeginn.

„Dass es Selenskyj gelingt, den Pakt mit seinen Verbündeten aufrechtzuerhalten, ist eine politische und kommunikative Meisterleistung.“

Selenskyj und US-Aussenminister Antony Blinken. Der Westen ist geeint und gestärkt.

Der Mann mit der ernsten Miene und dem olivgrünen T-Shirt ist omnipräsent. Er wendet sich in den folgenden Wochen und Monaten in aufsehenerregenden Reden per Video-Schaltung an den US-Kongress, an das Europäische Parlament, an den Deutschen Bundestag, an den Sicherheitsrat und die Generalversammlung der Vereinten Nationen, an den NATO-Gipfel und an jede Menge weiterer Parlamente und Institutionen. Immer und immer wieder warnt er, dass Putins Angriff auf die Ukraine in Wahrheit ein Angriff auf die freie Welt sei und diese sich deshalb auf die Seite der Ukraine stellen müsse.

Wolodymyr Selenskyj hat überhaupt kein Problem, sich im Kampf gegen Putin auf westliche Werte zu berufen, und jeder versteht, was er meint. Es ist ein Kampf für Freiheit und demokratische Selbstbestimmung. Der Präsident der Ukraine lässt keinen Zweifel daran, dass dies das einzige Modell ist, für das sich der Einsatz des Lebens lohnt. Und so verblassen die Selbstzweifel des Westens mit einem Mal, denn wer wollte einem demokratischen gewählten Präsidenten, dessen Land von Panzern einer undemokratischen Macht überrollt wurde, widersprechen, wenn er die freie Welt beschwört?

Der Westen ist wieder da. Seine Existenzberechtigung, sein Zusammenhalt und auch die eben noch für obsolet erklärte NATO. Keine unbedeutende Errungenschaft, die Selenskyj da angestoßen hat.

Alle westlichen Staats- und Regierungschefs stimmen ihm zu und beteiligen sich seither an der Unterstützung der Ukraine, wahlweise durch Waffenlieferungen und/oder Sanktionen gegen Russland.

Das westliche Modell der liberalen Demokratie ist im Zweifelsfall eben doch das einzige, das Freiheit verspricht. Russland greift an, China sieht zu, nur der Westen hält zur Ukraine. Wo auch immer Menschen ihre Freiheit bewahren oder erringen wollen, berufen sie sich auf Rechte, für die der Westen steht.

Ihre Gegner können autoritäre Nationalisten sein wie Wladimir Putin in Moskau oder totalitäre Theokraten wie Ayatollah Ali Khamenei in Teheran. Die protestierenden Frauen im Iran mit ihrer Parole „Frau, Leben, Freiheit“ wären als Menschen des Jahres eine würdige Alternative zu Selenskyj. Ihre große Zeit wird – hoffentlich – im Jahr 2023  anbrechen.

Selenskyj kämpft weiter mit den Mitteln eines Politikers. Auf der offiziellen Website des Präsidialamtes veröffentlicht er unermüdlich jeden Tag eine Rede an sein Volk, in der er die Lage einschätzt, den Feind geißelt und die Ukrainerinnen und Ukrainer zum Durchhalten ermuntert. 

Dass es Selenskyj gelingt, den Pakt mit seinen Verbündeten aufrechtzuerhalten, ist eine politische und kommunikative Meisterleistung. Selenskyj spricht zu den US-Amerikanern, deren Treibstoffpreise in die Höhe geschnellt sind. Er spricht zu den Deutschen, die Vorbehalte gegenüber Waffenlieferungen haben. Er spricht zu den europäischen Regierungschefs, die sich in der Frage der Sanktionen oft uneins sind. Fast immer erreicht er zumindest ein Stück dessen, was er verlangt.

Das Resultat ist vorsichtig formuliert unerwartet, weniger vorsichtig formuliert: eine Sensation. Die russischen Streitkräfte erreichen ihre Ziele nicht, laufen sich fest und müssen schließlich zurückweichen. Mittlerweile mussten sie die Hälfte des Territoriums, das sie seit dem Einmarsch am 24. Februar erobert hatten, wieder räumen. 

Doch nicht alle sind von Selenskyjs Vorgehen und seiner Strategie, aus dem Krieg eine geopolitische Existenzfrage zu machen, begeistert. In erster Linie schnaubt das russische Regime vor Zorn. Außenminister Sergej Lawrow urteilt gegenüber der russischen Nachrichtenagentur „Tass“, der Westen „benutzt“ Selenskyj in seinem Kampf gegen Russland. In Europa, auch in Österreich, gilt Selenskyj manchen als Kriegstreiber, der mögliche Verhandlungen mit Putin verhindere (eine unsinnige Umkehrung der Realität), die Welt an den Rand eines Atomkrieges bringe (detto) und Mitschuld an hohen Energiepreisen und der damit zusammenhängenden Inflation trage (siehe oben). 

Es liegt in der Natur der liberalen Demokratie, Widerspruch zuzulassen. Die Aufforderung des ukrainischen Kulturministers, russische Kultur in Europa zu boykottieren, zeigt, dass die Ukraine noch nicht in der Lage ist, alle Grundsätze der Freiheit zu achten. Das mag auch dem Krieg geschuldet sein.

Ist Wolodymyr Selenskyj selbst ein unantastbarer Held? profil bezeichnete ihn auf dem Cover der Ausgabe vom 6. März als „Held des Westens“, aber das bedeutet nicht, dass er nicht auch stürzen könnte. Demokratien kennen keine Ewigkeitsansprüche und machen auch für Kriegshelden keine Ausnahme. Winston Churchill verlor im Juli 1945, weniger als zwei Monate nach Ende des Zweiten Weltkrieges, die Unterhauswahlen.

Wolodymyr Selenskyjs Einfluss auf das Schicksal der Ukraine und das des Westens in diesem Jahr machen ihn aus Sicht dieser Redaktion zum profil-„Mensch des Jahres“.

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Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur