Die tausend Neins der ESC-Veranstalter
Es gibt doch dieses eine Sprichwort: Mögest du in interessanten Zeiten leben. Inwieweit damit direkt auf die Popkultur abgezielt wurde, ist wahrscheinlich umstritten, jedenfalls passt es dort in den letzten Wochen am besten. Die britische Musikerin Lorde hat ein neues Album angekündigt, im Vatikan wurde, zum ersten Mal mit TikTok-Live-Begleitung, ein neuer Papst gewählt und morgen beginnt in Basel der Eurovision Song Contest (ESC).
Interessant sind diese drei Dinge unter anderem auch, weil sie politisch extrem aufgeladen werden. Lordes Musik klingt erstaunlich stark nach „Recession-Pop“, also diese Feel-good-Musik, die während der Weltwirtschaftskrise ab 2007 im Radio lief. „Just Dance“ von Lady Gaga gehört da beispielsweise dazu oder „I Kissed a Girl“ von Katy Perry. Die Rezension hat sich also wieder die Popmusik unter den Nagel gekrallt. Geht’s der Wirtschaft schlecht, machen Musikerinnen und Musiker wieder Songs, zu denen man gerne in den Club geht, um kurz einmal die anstehende Klarna-Ratenzahlung zu vergessen.
Der neue Pontifex Leo XIV. ist ein US-Amerikaner, was in Zeiten von Donald Trump per se eine politische Tangente aufreißt. Der Präsident hat ja vor dem Konklave noch gemeint, er fände sich selbst als neues Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche am qualifiziertesten, jetzt wurde es ein Trump-Gegner – zumindest lesen das viele aus alten Tweets von Leo XIV.
Der ESC hat derweil sein altes Problem: Man will unter keinen Umständen politisch sein und ist es dadurch dann oft erst recht. Malta musste wegen einer Beschwerde der Europäischen Rundfunkunion (EBU) heuer bereits im Vorhinein das Wort „Kant“ (Maltesisch für „Gesang“) aus seinem Musikbeitrag streichen, weil es zu stark an die Beschimpfung „Cunt“ erinnere. Das Outfit von Erika Vikman aus Finnland war der EBU zu anzüglich, ein neues musste her. Politische Botschaften bleiben wie in den vergangenen Jahren verboten, darunter fällt neuerdings allerdings auch die Regenbogenflagge. Die Anordnung: Teilnehmer:innen dürfen einzig und allein mit ihrer Landesflagge auf die Bühne.
Hintergrund dafür dürfte weniger die LGBTIQ-Gemeinschaft sein, sondern der Krieg im Nahen Osten. Beim ESC 2024 im schwedischen Malmö kam es immer wieder zu Großdemonstrationen gegen die Teilnahme Israels, während der Veranstaltung wurde die israelische Teilnehmerin Eden Golan von einem Teil des Publikums regelmäßig ausgebuht. Dieses Jahr wird Yuval Raphael für Israel bei dem Eurovision Song Contest auftreten. Sie überlebte den Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023. Der Nationale Sicherheitsrat Israels rät seinen Staatsbürger:innen zu besonderer Umsicht bei Reisen zum ESC: Israelische und jüdische Symbole sollten in der Öffentlichkeit vermieden werden, es wird Zurückhaltung bei Gesprächen über militärische Themen empfohlen.
Neu ist das nicht. Der ESC ist schon letztes Jahr seinem Motto „United By Music“ nicht wirklich gerecht geworden. Der krampfhafte Versuch der EBU, jegliche Politik aus dem ESC herauszuhalten, endete im wohl politisch umstrittensten ESC seit langem. Das Ergebnis: Ein wegen Drohgebärden ausgeschiedener Niederländer inklusive verärgerten niederländischen Rundfunk, der die Punktevergabe im Finale schwänzte, Polizeischutz für die israelische Sängerin, abgeschaltete Mikrofone, abgesagte Pressekonferenzen, mehrere EBU-Krisensitzungen.
Wirklich gefragt, wie man dieses Musikevent trotz aktueller politischer Krisen durchführen kann, ohne Künstler:innen einen Katalog von „darf man“ und „darf man nicht“ vorzulegen, hat man sich offenbar immer noch nicht überlegt. Im Gegenteil, von außen hat man das Gefühl, die EBU ist noch nervöser als sonst, noch strenger.
Für Österreich geht dieses Jahr der Countertenor JJ und mit seinem Song „Wasted Love“ ins Rennen. Und die Chancen stehen gar nicht schlecht. Im zweiten Halbfinale am Donnerstag singt er sich hoffentlich eine Runde weiter, morgen Abend geht es mit dem ersten Halbfinale los. Auf profil.at werden wir uns das ganze natürlich ansehen – und hoffen, dass „United by Music“ heuer besser funktioniert als letztes Jahr.