Morgenpost

Nahost: Mitmarschieren, aber richtig

Mit Rassisten gegen Antisemitismus, mit Judenhassern für einen Waffenstillstand – welchen Unterschied es macht, an wessen Seite man demonstriert.

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Was im Nahen Osten gerade passiert, geht uns alle an. Das hat historische, geopolitische, emotionale Gründe. Bei manchen spielen auch verwerfliche Motive eine Rolle. Aber kommen wir zunächst zu den respektablen.

Es ist zutiefst menschlich, angesichts der vielen getöteten Zivilisten in Gaza ein Ende des Krieges herbeizusehnen – oder zu fordern. Allein der Gedanke an tausende tote Kinder ist unerträglich. Das weckt in vielen Leuten den Drang, für ein Ende der israelischen Angriffe zu demonstrieren. Daran ist nichts Antisemitisches. Auch US-Außenminister Antony J. Blinken, der seit Beginn der Krise bewundernswerte Klarsicht zeigt, sagte, dass „viel zu viele Palästinenser getötet“ worden seien. 

Doch Blinken bringt einen wichtigen Einwand gegen die Forderung nach einem raschen Kriegsende vor. Wer dies verlange, müsse einen Antwort darauf haben, wie die inakzeptablen Konsequenzen daraus verhindert werden könnten: die Terrororganisation Hamas wäre weiterhin in Gaza präsent, sie hielte immer noch Geiseln in ihrer Gewalt, und sie würde versuchen, die schreckliche Attacke des 7. Oktober zu wiederholen. profil berichtet hier, wie es in Gaza nach dem Krieg weitergehen könnte.

Der US-Chefdiplomat beschreibt damit das quälende moralische Dilemma des Gaza-Krieges. Der Begriff „Dilemma“ deutet bereits an, dass man sich zwischen zwei ähnlich unbefriedigenden Optionen entscheiden muss, also ist es wohl auch legitim, für ein Kriegsende auf die Straße zu gehen. Ebenso wenig ist es antisemitisch, sich für die Schaffung des Staates Palästina auszusprechen – unter der Voraussetzung, dass dieser sich nicht auf das Gebiet des Staates Israel erstrecken soll.

Bloß: Bei einer solchen Demonstration findet man sich rasch neben Leuten wieder, die den Staat Israel ablehnen, oder, noch schlimmer, Juden hassen.

Was tun?

Ehe ich eine Antwort zu geben versuche, will ich noch ein Beispiel für eine ähnliche Zwickmühle geben.

Am Sonntag gingen in Frankreich mehr als 100.000 Menschen unter dem Slogan "Für die Republik, gegen den Antisemitismus" auf die Straße. Gegen eine solche Kundgebung gibt es nun wahrlich gar nichts einzuwenden… außer: dass auch die als rechtsextrem eingestufte Partei Rassemblement National dazu aufgerufen hatte und Parteichefin Marine Le Pen mitmarschierte. Die Motivlage dieser Partei zumindest zweifelhaft. Antisemitismus mag ihr ein Anliegen sein, ihre rassistische Einstellung gegen Muslime ist jedoch unleugbar.

Auch hier stellt sich die Frage: Was tun?

Kann man an der Seite von Israel-Feinden demonstrieren? Oder an der Seite von Ausländerfeinden?

Die Antwort ist nicht eindeutig. Es hängt davon ab, ob es gelingt, den eigentlichen Zweck der Kundgebung klarzumachen. Steht das, was man will, unzweifelhaft im Vordergrund? Oder wird die Kundgebung von unerwünschten Teilnehmern mit extremistischen Parolen und Plakaten gekapert? Demonstrationen können kippen und Botschaften aussenden, die nicht beabsichtigt sind. Wenn das passiert, oder auch nur wahrscheinlich ist, sollte man abbrechen. 

Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron war eine gemeinsame die Antisemitismus-Kundgebung mit Marine Le Pen zu heikel. Er blieb der Demo fern und sandte eine Grußbotschaft.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur