Morgenpost

Raus aus dem Meinungsmorast

Blicke in den Abgrund und Lesevergnügen: profil zum Jahreswechsel.

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„Wenn der Zeitungsleser dann die Zeitung in der Frühe aufmacht, verdirbt sich der Zeitungsleser schon in der Frühe den Magen und den ganzen Tag und auch noch die darauffolgende Nacht, weil er mit einem immer noch größeren politischen Skandal konfrontiert ist, mit einer immer noch größeren politischen Schweinerei”*), schrieb Thomas Bernhard, der übrigens ein manischer Zeitungs- und Magazinleser war. Das Bernhard-Prinzip war immer, egal, ob es sich um Menschen, Österreich, Fritattensuppen oder das Burgtheater handelte: Was man liebt, muss man in Konsequenz verbal zerstören. Die Formel lautete: Je gnadenloser die Schimpftiraden, desto höher auch Bernhards Zuwendungsgrad.

Im Zuge der expandierenden Empörungs-Maschinerien von Twitter, Facebook, Instagram oder TikTok, wo jeder seinen Meinungsschaum ohne Wenn und Aber los werden kann, hoffen und zählen wir auf Ihren Zuwendungsgrad, liebe Leser:innen. Denn „Qualitätsjournalismus darf nicht zu einem Charityprojekt werden”, schrieb die „New York Times” kürzlich in eigener Sache und spricht damit für uns alle. Und Qualitätsjournalismus ist genau wegen dieses ausufernden Meinungsmorasts noch nie so wertvoll wie heute.

Dass das Aufspüren und Offenlegen von „scheußlichen und niedrigen” (Bernhard) Machenschaften zur Kernkompetenz dieses Magazins gehören, hat es über mehr als fünf Jahrzehnte bewiesen. In unserem traditionellen X-Large-Heft gibt Michael Nikbaksh, der demnächst eine Kaderschmiede für investigativen Journalismus unter dem Bannern Kurier und profil gründen wird, einen intimen „Werkstättenbericht”, wie hart, frustrierend und oftmals von jeder Menge leerer Kilometer begleitet, diese Arbeit sich gestalten kann -  zu deren Alltag „Oligarchenvillen, Anwaltsbriefe, Offshore-Konstrukte, klandestines Lobbying und Auskunftsverweigerung” gehören. „Investigativen Journalismus zu betreiben, heißt auch, immer wieder daran zu scheitern,” lautet die Bilanz. Gemeinsam mit Stefan Melichar („Wenn der einen Datensatz nicht findet, dann ist er auch tatsächlich nicht da”) hat Nikbaksh in vergangenen Jahren Artikel von insgesamt 900.000 Anschlägen publiziert und wahrscheinlich ebensoviele „Blicke in den Abgrund”, wie er das beschreibt, getätigt. Scheitern war also in diesem Jahr definitiv keine Option.

 

Dass die Lektüre eines Magazins nicht nur Informationsvorsprung, Einordnung und Erklärung komplexer Dynamiken liefert, sondern auch Lesevergnügen sein soll, ist uns wichtig. Und Sebastian Hofer, der Projektleiter unseres X-Large-Hefts, hat ausreichend dafür gesorgt, dass echte Filetstücke an Essays in dem Heft serviert werden und die klügsten Köpfe zu Wort kommen: der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Dialog mit der Klima-Aktivistin Lena Schilling, der Medienwissenschafter Bernhard Pörksen, der Schriftsteller Ilija Trojanow, der im Gespräch mit Wolfgang Paterno anmerkte: „Nachrichten sind die ewige Wiederkehr einer sich penetrant gebärdenden mangelnden Einsicht.”

Genau dagegen werden wir auch im nächsten Jahr anschreiben. Im Spirit von Albert Einstein, der sagte: „Kreativität ist Intelligenz, die Spaß macht.”

Einen fröhlichen Rutsch und bleiben Sie uns treu!

Die erste profil-Ausgabe 2023 erscheint am 8. Jänner.

Ihre Angelika Hager

*) aus „Thomas Bernhard für Boshafte”, Insel-Taschenbuch

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort