Morgenpost

Speichern Sie Ihre Patientendaten doch in der Blockchain!

Ein neuer Prachtband liefert die erste kulturgeschichtliche Betrachtung von NFT-Kunst. Ist dieser Hype nicht längst vorüber? Vielleicht, aber in der Medizin und Wissenschaft könnten diese digitalen Zertifikate nützlich sein.

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Erinnern Sie sich noch an NFTs? Jene digitalen Zertifikate, die mittels einer Codierung die Echtheit und Einzigartigkeit eines bestimmten Objekts bescheinigten? Vor drei Jahren löste NFT, was für Non-fungible token steht, einen gewaltigen Hype in der Kunstwelt aus. Digitale Kunstwerke wurden als NFTs gespeichert und in Kryptowährungen versteigert und gehandelt, wobei Rekordwerte für Schlagzeilen sorgten. Eine Collage beispielsweise erzielte einen Preis von beinahe 70 Millionen Euro.

Um ansatzweise zu verstehen, was hier abging, mussten wir versuchen, die Bedeutung einiger neuer Begriffe zu durchdringen. Zunächst NFT: „Fungible“ stammt aus der Wirtschaftswissenschaft und steht für die Tauschbarkeit eines Guts. Ein Dollarschein ist so gut wie der andere, und im Tausch gegen ein Bündel Geldscheine lassen sich Produkte erwerben, solange der Gegenwert stimmt. „Non-fungible“ dagegen weist ein Gut als nicht tauschbar aus, sondern als Unikat. Das zugehörige Zertifikat, Token genannt, belegt die Authentizität des Guts sowie die Identität des Besitzers, es ist wie ein digitaler Pass, der das Unikat einem konkreten Besitzer zuordnet.

Eine neue Form von Sammlerstück

Das war der Clou hinter den Kunstwerken, die im Grunde nur als Datei existierten: Mittels NFT wurden sie als Original definiert, das (beziehungsweise dessen Metadaten) eindeutig einem bestimmten Kunstliebhaber zuordenbar ist. Er besaß daher nicht eine beliebig kopierbare Datei, sondern die digitale Entsprechung eines Unikats, was sie zu einer neuen Form von Sammlerstück machte. Technisches Rückgrat und Trägermedium dieser Innovation war die Blockchain: ein digitales, dezentrales Register ohne zentrale Verwaltung, in welches sich NFT-Transaktionen sicher, aber eindeutig nachvollziehbar einschreiben lassen.

Kaum hatten wir das einigermaßen kapiert, war der Boom scheinbar auch schon wieder vorüber. Im Herbst des Vorjahres vermeldeten Kunstmedien, dass wir uns in einem „Kryptowinter“ befinden und 95 Prozent der NFT-Sammlungen wertlos seien. Rund 23 Millionen Menschen, die NFT-Kunst erwarben, seien vom Kollaps dieses jungen Marktes betroffen.

Genau in diesem Moment kommt der erste große Buch zum Thema auf den Markt. Wobei der Begriff „groß“ in diesem Fall eine ziemliche Untertreibung ist. Es wurde vom für seine opulenten und oft äußerst luxuriösen Prachtbände bekannten Taschen-Verlag produziert, umfasst mehr als 600 Seiten, steckt in der Collector’s Edition in einem Edemetallschuber und kann auch in Krypto erworben werden. Die „erste umfassende kunsthistorische Übersicht zu diesem spannenden, disruptiven Feld in der zeitgenössischen Kunst“ nennt Taschen das Werk, dessen Cover der Code für das erste NFT ziert: für die vor genau zehn Jahren erschienene Arbeit „Quantum“ des Künstlers Kevin McCoy. Das Bild am Beginn dieses Textes zeigt dieses Pionierwerk.

Ein Prachtband im Kryptowinter

Gestaltet und kompiliert wurde das Buch von Robert Alice. Der Brite ist Künstler, Autor und Kurator war der Erste, dessen NFT bei einer Auktion versteigert wurde. Mitte kommender Woche sollen gleich 400 weitere seiner Arbeiten bei Christie’s auktioniert werden. Dass Alices Buch nun ausgerechnet mitten im Kryptowinter auf den Markt kommt, liegt an der langen Vorlaufzeit der aufwendigen Produktion: Mehr als 100 Künstler werden darin vorgestellt, zahlreiche Essays erklären die Hintergründe, teils auch die wissenschaftlichen in Form einer Rückgriffs auf die Frühphase der Computerkunst in der 1960er-Jahren.

Das NFT-Opus

Dies ist die erste große kulturgeschichtliche Betrachtung von NFT-Kunst: Herausgeber des rund 600 Seiten starken und im Taschen-Verlag publizierten Buches ist Robert Alice. Der Brite ist Künstler, Kurator und Autor und hat das erste NFT produziert, dass bei einer Auktion versteigert wurde. Der opulente Band erscheint Ende März.

Im Gespräch mit profil zeigt sich Robert Alice nicht allzu irritiert von der gegenwärtigen NFT-Eiszeit. Gerade mal zehn Jahre würden NFTs nun existieren. Wie weit reiche dagegen die Geschichte der Malerei und Bildhauerei zurück? Viele hundert und sogar Tausende Jahre. Die Menschen hätten genügend Zeit gehabt, sich mit diesen Kunstformen allmählich vertraut zu machen, und ohnehin sei der Kunstmarkt zu allen Zeiten extrem volatil gewesen.

Besonders interessant wird es, wenn man den Blick vom Kunstmarkt abwendet und wissen möchte, welche Zukunft NFTs sonst haben könnten. Aufgrund der wesentlichen Merkmale – Authentizität, Unverwechselbarkeit, annähernder Fälschungssicherheit und klarer Zuordenbarkeit – landet man schnell in einem Bereich: der Wissenschaft. Tatsächlich werden dort im Moment zahlreiche Anwendungen diskutiert, überall dort, wo es um heikle Daten geht, die gut geschützt, möglichst fälschungssicher und auf einen bestimmten Urheber rückführbar sein sollen.

Unser Genom als NFT? Durchaus möglich

Zum Beispiel: Warum nicht Patientenakten künftig als NFTs abspeichern? Die Gesundheitsdaten ließen sich derart in die Blockchain einspeisen, wären eindeutig identifizierbar und angeblich sicher vor unerlaubten Zugriffen. Nach dem gleichen Prinzip könnten Forschungsdaten, etwa für medizinische Studien, codiert werden oder Patente erfasst, einem Urheber zugeordnet und so geschützt werden. Fachartikel und andere wissenschaftliche Texte könnten mittels NFT-Codierung besser gegen Plagiate gewappnet werden, und dieselbe Methode könnte es erlauben, Warenströme eindeutig um den Globus zu verfolgen – um Lieferketten von Handelswaren und Medikamenten nachzuvollziehen und Probleme wie Fälschung und Nachahmung zu minimieren. George Church wiederum, eine Art enfant terrible der Molekularbiologie, hat bereits die Absicht bekundet, sein eigenes Genom in Form eines NFT abzuspeichern. Wird es vielleicht künftig Standard, dass jeder Mensch seinen genetischen Code in der Blockchain deponiert, beispielweise um eines Tages zum Test auf die Anfälligkeit für genetische Krankheiten darauf zugreifen zu können?

All diese Dinge werden zumindest diskutiert, und man könnte jetzt den Gedanken weiterspinnen und fragen, wie diese jungen technischen Möglichkeiten mit dem vermehrten Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Medizin und in der Wissenschaft allgemein korrespondieren werden. Ob die Kunst einen zweiten NFT-Frühling erlebt oder nicht – in vielen anderen Bereichen darf man durchaus annehmen, dass die Technologie einiges Potenzial hat. Was immer davon in die Praxis überführt wird – ziemlich sicher wird George Church trotz seines fortgeschrittenen Alters ganz vorne mit dabei sein.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft