Warum Syriens Minderheiten ihre Regierung fürchten
Lange blieb die Stadt Suweida großteils von der Gewalt des syrischen Bürgerkrieges verschont. Suweidas ungefähr 70.000 Bewohner kontrollierten jahrelang mit ihren eigenen Milizen die Stadt im Süden Syriens. Weder Langzeitdiktator Baschar Al-Assad noch Syriens Rebellen, die vergangenes Jahr die Macht übernahmen, waren willkommen.
Doch der relative Frieden ist mit dieser Woche gebrochen: Soldaten aus Damaskus schießen Artillerieraketen auf Suweida ab, in den Straßen toben Häuserkämpfe. Was ist passiert?
Es begann mit einem Raubüberfall: Sunnitische Beduinen raubte bei einem Kontrollpunkt einen Drusen aus. Was folgte war eine Gewaltspirale, die über 20 Menschen das Leben kostete. Syriens Regierung intervenierte aus dem Grund die rebellische Stadt endlich wieder unter die vollständige Kontrolle der Zentralregierung zu bekommen. Doch in Suweida fürchtete man die Regierungssoldaten, die aus dem 90 Minuten entfernten Damaskus herbeordert wurden. Denn in dessen Rängen finden sich auch islamistische Kämpfer.
Wer sind die Drusen?
Rund 700.000 Drusen Leben in Syrien. Die Drusen, die sich im 11. Jahrhundert vom schiitischen Islam abgespaltet hatten, glauben an Wiedergeburt. Große Teile des Glaubensinhalt der Drusen ist selbst für Gläubige geheim: Nur hohe Geistliche dürfen das „Buch der Weisheit“, der zentrale Glaubenstext der Drusen, lesen.
Eine der Hauptarchitekten von Suweidas Widerstand gegen Damaskus ist Hikmat al-Hijri. Der drusische Scheich ist einer von drei einflussreichen religiösen Führern in Suweida. Doch Hijri, der über gute Kontakte zu drusischen Geistlichen in Israel verfügt, versuchte immer mehr zum Politiker aufzusteigen: Am Mittwoch bat er überraschend Israel um Hilfe.
Israel greift schon seit Montag mit Luftschlägen in den Konflikt ein: Am Mittwoch bombardierte der Nachbarstaat Syriens das Verteidigungsministerium in Damaskus. Israels Diaspora-Minister Amichai Chikli von der regierenden rechtsnationalistischen Likud-Partei forderte mit einem Posting auf X sogar den Tod von Syriens Präsident Ahmed al-Scharaa: „Er ist ein Terrorist, ein barbarischer Mörder, der unverzüglich beseitigt werden sollte.“
Israel sieht Syriens neue Regierung als potenzielle Gefahr für die Zukunft und nutzt die Schwäche Syriens aus, das sich ohne gefechtsfähige Luftwaffe nicht verteidigen kann. Doch Israels Luftschläge haben auch innenpolitische Gründe: Israels Drusen, die durch ihre hohe Präsenz in Israels Militär als sehr einflussreich gelten, aber nur zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen, lobbyieren im Hintergrund um die Luftschläge auszuweiten.
Drusenführer Hijri, dessen Miliz den Regierungstruppen militärisch unterlegen ist, würde hoch pokern schreibt indes Aymenn Jawad Al-Tamimi, einer der bestinformiertesten Syrien-Experten, auf seinem Blog: „Wenn die Regierung zu hohe Verluste erleidet, muss sie Zugeständnisse machen und ihre Truppen aus der Provinz abziehen.“ Israelische Luftschläge könnten genau das erreichen, schreibt der britisch-irakische Experte.
Die kurdisch-dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) fuhren am Dienstagabend hupend in Rakka mit Militärjeeps auf. Die Militärparade sollte eine Warnung an Damaskus sein. „Um drusische Frauen und Zivilisten zu schützen, werden wir, ohne zu zögern, jegliche Verantwortung auf uns nehmen“, beteuerte das Generalkommando der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), einer der größten Verbände der SDF, am Mittwoch.
Für die politische Führung der SDF, die den Nordosten des Landes kontrolliert, sind die Kämpfe in Suweida der nächste Schock. Im März erschütterten Massaker an den schiitischen Alawiten, aus deren Reihen Ex-Diktator Assad traditionell seinen berüchtigten Sicherheitskräften rekrutiert hatte, die nordwestlichen Küstenregionen. Zwischen 500 bis 1700 Zivilisten wurden ermordet. Wie Reuters rekonstruierte, waren auch Regierungskräfte an der Gewalt beteiligt.
Eine Untersuchungskommission in Damaskus blieb großteils ergebnislos. Die Straflosigkeit, mit der islamistisch ausgerichtete Mobs in den Küstengebieten wüteten, löste Paranoia in Syriens Minderheiten, die ungefähr 30 Prozent der Bevölkerung ausmachen, aus. Gruppen, wie die von Drusenführer Hijri, zögerten ihre Waffen abzugeben.
Für die Kurden Syriens, die sich als Sprecher der syrischen Minderheiten verstehen, verstärkte die Gewalt das Misstrauen: Ein Abkommen aus dem März, dass die volle Integration der SDF in Syriens Militär vorsah, wischte man vom Tisch. Die SDF pocht mittlerweile auf Autonomie und Föderalismus für Syriens Kurdengebiete. Für Syriens Präsident Scharaa ein No-Go: Er und sein Kabinett, indem Islamisten großen Einfluss genießen, besteht auf einem von Damaskus aus geführten Zentralstaat.