Der junge Afghane hat in den vergangenen zehn Jahren in Österreich jenes Deutsch inhaliert, das ihn tagtäglich umgibt: Er sagt gerne und oft „allerhand“, „freilich“ und „jawohl“. Geboren wurde er im Jahr 2000 in der Provinz Ghazni Jaghuri als Hazara, das ist die drittgrößte Ethnie Afghanistans; Schiiten, die zuweilen von den paschtunischen Taliban verfolgt werden. Sharifi ist das einzige Kind seiner heute 48-jährigen Mutter. Wann immer er Zeit habe, spreche er mit ihr, meistens nach der Arbeit. „Wenn die Sonne untergeht, rufe ich sie an und lege erst auf, wenn die Sonne wieder aufgeht“, sagt er.
Wenn er von jenem Moment erzählt, an dem er von ihr fortging, wandert sein Blick zum Fenster, als würde dort der Film ablaufen, der zeigt, was sich damals zugetragen hat. „Es war kein schöner Tag“, sagt Sharifi. Ein paar Dollar in der Tasche, einen Rucksack, Unterhosen, Unterleibchen, Socken, ein Paar Schuhe – mehr nahm er nicht mit.
Kanal und Krätze
Seine Fluchtgeschichte ähnelt in Grundzügen jener von Hunderttausenden anderen Menschen, die sich damals nach Europa durchschlugen: Mittels Schleppern gelangt Sharifi nach Kabul, dann weiter zur iranischen Grenze, die er mit mehr als 100 Menschen überquert hat, wie er sagt. Er landet zunächst in der iranischen Zwei-Millionen-Stadt Isfahan und lebt dort mit einem Dutzend Burschen und Männern in einem kleinen Zimmer, jobbt als Koch, Mechaniker und Kanalarbeiter. Die iranische Polizei verhaftet ihn immer wieder, nach sechs Monaten zieht er weiter. Über die ostanatolische Stadt Van geht es nach Istanbul. Eine Woche lang quartiert er sich im Viertel Aksaray ein und wohnt in einem Hotel, in dem er keine Dokumente vorweisen muss. In seiner Erzählung ist diese eine Woche wie ein Leo – zum ersten Mal in seinem Leben ist er für wenige Tage so etwas wie Tourist. Er saugt Istanbul ein, erkundet tagelang die 15-Millionen-Einwohner-Metropole zu Fuß, stapft zwischen verfallenen byzantinischen Gemäuern, spaziert durch die alten Viertel Fatih und Beyoğlu und am Ufer des Bosporus. Nach einer Woche wird aus dem Städtebesucher ein Flüchtling, und er setzt über nach Bulgarien, wo er ebenfalls einige Monate bleibt.
Er erzählt von bulgarischen Sicherheitsleuten, die Flüchtlinge in kleine Zellen sperren und ihnen Stunden um Stunden weder etwas zum Essen noch zum Trinken geben und nicht einmal erlauben, auf die Toilette zu gehen. Damals ist Sharifi 16 Jahre alt. Sein Weg führt ihn über Serbien, wo er mit der Polizei Ähnliches erlebt wie in Bulgarien, wie er sagt, nach Ungarn und schließlich nach Österreich. Am 27. November 2016 schlägt er am Wiener Hauptbahnhof auf.
Rund einen Monat bleibt er im Flüchtlingslager Traiskirchen, er hat die Krätze. Der Juckreiz ist zuweilen dermaßen intensiv, dass er alles, was er anzieht, sofort wieder ausziehen muss. Knapp danach kommt er nach Hallein, in eine Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Mit 18 Jahren zieht er aus.
Ein neues Leben aufzubauen, fällt ihm nicht schwer. „Ich habe schon als Siebenjähriger gearbeitet“, sagt er, „in Hotels gekocht, bei der Tankstelle ausgeholfen.“ Er zieht nach Salzburg und beginnt als Küchenhilfe in einem Restaurant in der Altstadt, wo er – so wie heute in seinem eigenen Lokal auch – alles macht, von Kochen bis Putzen.
Keine Angst vor Gott
Parallel dockt er in der Salzburger Pfarre Itzling an und besucht dort ein Sprachcafé, um Deutsch zu lernen. Er beginnt sich für den christlichen Glauben zu interessieren und setzt sich in einen Bibelkurs. Für ihn ist das Christentum kein abstraktes Gedankenkonstrukt, sondern lebendiges Zeugnis in den helfenden Menschen, die er in Österreich trifft. „Der katholische Glaube hat sich mit der österreichischen Kultur vermischt. Und die österreichische Kultur hat dadurch ein schönes Gesicht bekommen – und dieses Gesicht sind die Menschen, die mir geholfen haben, mit ihrer Freundlichkeit und ihrer Menschlichkeit.“ Er selbst findet zum katholischen Glauben und sagt: „In dieser Religion brauche ich keine Angst vor Gott zu haben.“ Im Jahr 2019 lässt Sharifi sich als Zacharias taufen, nach dem Vater von Johannes dem Täufer, seine Taufpatin ist die einstige Bibellehrerin.
Seinen Lebenstraum von einem eigenen Lokal hat sich Sharifi erfüllt, indem er eine sogenannte Befähigungsprüfung absolviert, die ihm ermöglicht hat, den Weiserhof zu übernehmen – gemeinsam mit drei weiteren Gesellschaftern, allesamt Landsleute aus Afghanistan; neben dem Weiserhof führen sie auch noch die Salzburger Pizzeria Allegro, Sharifi ist auch dort Geschäftsführer.
Hier im Weiserhof kann man Selchspeckknödel bestellen, Schweinsbraten, Schnitzel, Tafelspitz mit Sauerkraut – und Sharifis Lammragout. Es ist sein Lieblingsgericht, dessen Zubereitung er von seiner Mutter gelernt hat, allerdings angepasst an den österreichischen Gaumen. Er serviert es mit Butterspätzle, das Fleisch zerfällt mühelos und hat eine leicht zitronige Note.
Das Fleisch dafür besorgt Sharifi selbst – einmal im Monat schlachtet er eigenhändig ein Lamm. „Ich bin sehr geübt darin, wie man das macht“, sagt er, „habe ich schon als Kind gelernt.“