Anwalt: „Pflegefamilie für Tina steht bereit“

Wilfried Embacher, Anwalt der abgeschobenen Familie, über die Rückkehr des georgischen Mädchens mit einem Schülervisum, die Fehler der Familie im Asylverfahren und neue Details aus der Asyl-Odysee. Und: Warum es die Griss-Kommission nicht braucht.

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von Naz Kücüktekin und Clemens Neuhold

profil: Wie lange vertreten Sie Tina T., Lea T.  und ihre Mutter schon?

Wilfried Embacher: Seit letztem Mittwoch. Das war kurz vor der Abschiebung. Sie waren schon vor drei Jahren einmal bei mir, aber da konnte ich sie noch nicht übernehmen.

profil: Wie geht es der Familie zurzeit?

Embacher: Es geht ihnen unterschiedlich. Die Eingliederung in die Schule funktioniert noch gar nicht. Das größte Problem ist aber die jüngere Tochter. Die Fünfjährige hat extreme Probleme mit dem sprachlichen Wechsel. Sie ist sehr still geworden, obwohl sie in Österreich ein recht lebendiges Kind war. Bei der Mutter schwankt es sehr zwischen kämpferisch, verzweifelt und Selbstvorwürfen.

profil: Der Vater der Kinder hat einen Aufenthaltstitel in der Slowakei. Warum hat sich die Familie getrennt?

Embacher: Das war schon immer so, weil er in der Slowakei berufstätig ist. Seinen dortigen Aufenthaltstitel hat er seit September 2020. Die Eltern sind nicht verheiratet, er hat die Familie aber regelmäßig hier besucht. Er hat auch die Obsorge für die Kinder. Nun wird genau geprüft, ob die ganze Familie in der Slowakei leben kann.

profil: Was sind generell die Aussichten für Tina, Lea und ihre Mutter?

Embacher: Gegen die Abschiebung gibt es eine Maßnahmenbeschwerde. Für die Option eines Bleiberechts beim Vater in der Slowakei muss ich mit den slowakischen Kollegen zusammenarbeiten. Ich denke allerdings zuerst an einen Schüleraufenthaltstitel für Tina allein. Das hat die größten Chancen auf Erfolg. Es ist nicht selten, dass, wenn es eine Familie gibt, welche die Ausbildung ermöglichen kann, eine Übertragung der Pflege und Erziehung geschieht. Dem muss die Mutter zustimmen. Das ist denkbar.

profil: Steht eine Familie in Wien bereit?

Embacher: Ja.

profil: Wer ist diese Familie?

Embacher: Eine Gute (lacht).

profil: Also keine Verwandten, sondern Bekannte aus dem Schulumfeld?

Embacher: Genau.

profil: Und wie könnte es die Mutter zurückschaffen? Mit einer Rot-Weiß-Rot Karte?

Embacher: Das ist nicht undenkbar. Wir werden prüfen, welche Möglichkeiten es mit ihren Qualifikationen gibt.

profil: Sie bekämpfen aber auch den Ausgang des Asylverfahrens und die Abschiebung. Wie?

Embacher: Das Kindeswohl hätte vor und während jedem Schritt überprüft werden müssen. Das bedeutet, dass immer zu schauen ist, ob eine Veränderung der Situation gegenüber der Letztentscheidung eingetreten ist. Bisher haben die Verantwortlichen  immer behauptet, dass das Bundesverwaltungsgericht 2019 über das Kindeswohl entschieden hat. Doch in der Zwischenzeit ist Tina 12 Jahre alt geworden. Ab diesem Alter werden Kinder selbstständig. Deshalb hätte man auch Tina anhören müssen. Doch sie wurde nie gehört. Das noch größere Problem: Die Entscheidung aus 2019 ist inhaltlich falsch, weil es keine Abwägung zum Kindeswohl darin gibt. Es sind lediglich zwei Absätze dazu, worin kein einziges Wort zu Tina steht. Wenn dieser Fehler die Grundlage für die Abschiebung 2021 ist, ist sie rechtswidrig.

profil: Wie wichtig ist der Umstand des Kindeswohls?

Embacher: Das ist ein Faktor, der über allem steht. Wenn das Ergebnis der Prüfung ist, diese Maßnahme ist für das Kind nicht gut oder schadet ihm, dann ist die Maßnahme nicht zulässig. Punkt.

profil: In Österreich wird die Situation für Kinder in den allermeisten Fällen besser sein als im Ursprungsland. Bedeutet Rücksicht auf Kindeswohl dann nicht automatisch, dass jedes Kind in Österreich bleiben darf?

Embacher: Das schlechtere Umfeld nach einer Abschiebung ist nicht ausschlaggebend. Zum Beispiel genügt ein Jahr im besseren Umfeld gegenüber sechs Jahren in einem schlechteren nicht. In so einem Fall ist es zumutbar, in die schlechteren Verhältnisse zurückzukehren, da man sie kennt und sich das eine Jahr in Österreich nicht als neue Normalität verfestigt wird. Bei zehn Jahren in Österreich, ohne Bezug zum Herkunftsland, kann ich das allerdings nicht sagen.

profil: Ab wann verfestigt sich eine Normalität bei Kindern?

Embacher: Ich würde sagen ab der Hälfte der Lebenszeit. Es hängt aber auch von den Altersstufen ab. Das ist eine entwicklungspsychologische Frage, die sich ExpertInnen anschauen müssen. Da spielen sehr viele individuelle Faktoren mit. Genauso eine Abwägung hat bei Tina, weder 2019 noch jetzt, stattgefunden.

profil: Das Bundesasylamt stellte fest, der Mutter hätte klar sein müssen, dass es keine Hoffnung auf einen positiven Asylantrag gibt. Wieso hat sie dennoch sechsmal Mal Asyl beantragt? 

Embacher: Der wiederholte Antrag auf Asyl stellt, das weiß ich aus meinen Beratungen, eine Verzweiflungstat dar. Diese Praxis wird überschätzt. Ich glaube, da gibt es Beratungs- und Informationsprobleme. Ich hatte schon Menschen bei mir in der Beratung sitzen, die glaubten, nach dem dritten negativen Asylbescheid, wird es positiv. Das ist ein Blödsinn.

profil: Also raten Sie ihren Klienten nicht aktiv zu diesem Vorgehen?

Embacher: Nein, ich halte überhaupt nichts davon. Was soll das bringen, wenn es keinen neuen Grund gibt? Ich werde oft gefragt: „Kann man es nicht probieren?.“ Probieren kann man alles. Aber wenn man denselben Antrag, der schon negativ bewertet worden ist, zwei Jahre später nochmal stellt, macht das nur die Behörden sauer. Im konkreten Asyl-Fall wird allerdings meist die Tatsache unterschlagen, dass die georgische Familie 2012 freiwillig ausreiste. Die ersten zwei Asyl-Anträge waren damit kein Thema mehr. Das Verfahren begann von vorne.

profil: Warum ist die Familie dann aus Georgien wieder zurück nach Österreich?

Embacher: Es gab einen Vorfall, der die Familie massiv verängstigt hat. Es geht dabei um eine private Fehde, weshalb der Bruder der Mutter auch in Haft sitzt. Sie haben sich in Georgien nicht mehr sicher gefühlt.

profil: Welches Vorgehen hätten Sie der Mutter nahegelegt?

Embacher: Ich hätte nach dem ersten negativen Asylbescheid nur mehr Anträge auf humanitäres Bleiberecht ohne Schutzstatus gestellt. Was bei ihr vor allem besonders frustrierend ist: Sie hat in Georgien Deutsch studiert. Sie kann also perfekt Deutsch und übrigens auch Russisch. Sie hat in Österreich in Flüchtlingsquartieren Deutschunterricht gegeben und Zusatzausbildungen zu Suizidprävention und Sozial- und Lebensberaterin gemacht. Aber es sind alle Versuche gescheitert, als Erwerbstätige dazubleiben. Das muss man sich auch einmal vorstellen, dass jemand mit so vielen Fähigkeiten nicht weiterkommt, und dann bei der eigenen Tochter erlebt, wie sie eine Chance in der Schule bekommt.

profil: Was hätte ein früher Antrag auf humanitäres Bleiberecht geändert?

Embacher: Es wäre vielleicht doch geschaut worden, wie ist die Lebenssituation, die Schulsituation von Tina, wie geht es der Kleinen und so weiter. So stand der verkorkste Verlauf des Asylverfahrens im Fokus und das Kindeswohl wurde als letztes geprüft.

profil: Es gab aber auch sechs gescheiterte Abschiebeversuche. Hat sich die Familie widersetzt oder versteckt?

Embacher: Mir ist ein sehr konkreter Versuch bekannt. Da waren sie schon im Familienanhaltezentrum in der Zinnergasse, und die kleine Tochter ist krank geworden. Aus gesundheitlichen Gründen ist damals dann nicht abgeschoben worden. Es ist übrigens erst nach drei Tagen ein Arzt gekommen. Was die anderen, angeblichen Versuche betrifft: Es ist nicht so, dass man zuhause warten muss, abgeholt zu werden. Mir sind keine Schilderungen bekannt, wo sich die Familie aktiv vor einer Abschiebung gedrückt hat.

profil: Warum wird die Familie abgeschirmt und redet nicht?

Embacher: Es gibt vor Ort Probleme. Die ganze Sache wird dort als Unruheherd angesehen. Es ist ein kleines Dorf mit ein paar hundert Einwohnern. Im Grunde gab es aber einfach auch genug Aufregung in letzter Zeit, und wir wollen ein bisschen Ruhe einkehren lassen. Es soll zuerst eine rechtliche Diskussion stattfinden, bevor es zu persönlich wird.

profil: Sie haben Fotos von Tinas Schule an Medien weitergeben. Das Gebäude wirkt wie ein Abrisshaus. Die georgische Regierung hat die Fotos richtiggestellt und den modernen Haupttrakt gezeigt. Haben Sie ein schlechtes Gewissen?

Embacher: Nicht nur ein bisschen. Weil jetzt viele sagen können, da wird immer nur manipuliert. Doch der Zustand der Schule ist unerheblich fürs Verfahren.

profil: Was halten Sie von der Kindeswohlkommission der Grünen, unter Führung von Irmgard Griss?

Embacher: Die Griss-Kommission kann vielleicht für ein bisschen Aufmerksamkeit sorgen und Vollzugsanleitungen geben. Die Rechtsgrundlagen sind aber ohnehin da, dafür brauche ich nicht extra eine Kommission.

profil: Irmgard Griss meinte im Morgenjournal, Kinder sollen nicht für das Vorgehen der Eltern bezahlen. Da schwingt schon eine Kritik an den Eltern mit.

Emnbacher: In jeder Entscheidung steht, dass das Verhalten der Eltern dem Kind nicht zuzurechnen ist. Deshalb spielen die sechs Anträge in Tinas Fall keine Rolle.

profil: Griss meinte, die Eltern dürften auch bleiben, wenn Tina humanitären Aufenthalt bekommt.

Embacher: Ja, das muss ich ernst nehmen. Ich schütze das Kind in seiner ganzen Persönlichkeit.

profil: Aber besteht dann nicht in Zukunft die Gefahr, dass sich Eltern über die Kinder ein Bleiberecht erpressen?

Embacher: Alles bis zum Alter von drei Jahren ist in solchen Fällen uninteressant. Im Alter null bis drei gilt es als anpassungsfähig, da kann ich das Kind überall mit hinnehmen. Wenn es älter ist, und es hat in Relation eine kürzere Zeit in Österreich verbracht, komme ich damit auch nicht durch. Aber ein 12-jähriges Kind, das zehn Lebensjahre in Österreich verbracht hat, ist zu schützen.

profil: Wie viele Härtefälle schätzen Sie gibt es derzeit?

Embacher: Ich gehe schon von einem hunderter Bereich aus, möglicherweise sogar im unteren Tausender Bereich.

profil: Wenn Tina doch humanitäres Bleiberecht bekäme, warum sollte nicht jede andere Familie, ohne Aussicht auf Asyl, einen ähnlichen Weg wählen?

Embacher: Naja, es ist ja nicht so, dass eine Familie sitzt und wartet und sich dann nach Tinas Entscheidung denkt: Wenn sie nach zehn Jahren Asyl bekommen hat, gehen wir jetzt auch los. Sie glauben, dass es sowieso funktioniert, unabhängig von so einem Fall. Es ist völlig falsch zu glauben, der sogenannte Pull-Faktor hängt von einer Einzelentscheidung in Österreich ab. Schlepper erzählen immer, dass es geht. Da heißt es nicht: „Momentan ist es schwierig, aber wenn es die Tina kriegt, machen wir es wieder.“

profil: Das Ausmaß der Zuwanderung hat sich deutlich verändert seit 2015. Müssen die Behörden nicht auch deswegen härter sein?

Embacher: Zuwanderung ist nicht steuerbar und das ist genau der Punkt. Man wird immer hinterherhinken. Aber es ist auch nie wirklich ein Lösungsansatz da. Ich könnte doch auch sagen, ich mache eine Mischung aus mehr und schnelleren Abschiebungen, für jene, die keine Chance haben, mit einem täglichen Flieger. Dafür schaue ich bei jenen besser hin, die wirklich Schutz brauchen. Da müsste der Minister halt die budgetären Forderungen stellen, um sein politisches Versprechen einlösen zu können. Interessant, dass er das nicht macht.

profil: Was heißt das in Bezug auf die georgische Familie?

Embacher: Bei einer raschen Abschiebung wäre der Fall Tina nie passiert. Aber in Österreich werden ja nicht einmal alle Straftäter abgeschoben. Tina jetzt nach Georgien zu fliegen, ist zynisch.