Czernohorszky: "Manche wollen Wien als riesengroßen Problemfall hinstellen"

Bildungsstadtrat Czernohorszky: „Die Hietzinger Eltern werden sich beschweren“

Jürgen Czernohorszky, Bildungsstadtrat in Wien, warnt vor einer „Hysterisierung“ der Probleme in manchen Wiener Bezirken, ist gegen Deutschklassen und möchte lieber über „verquere Vorstellungen“ diskutieren als über den Islam.

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Interview: Rosemarie Schwaiger; Fotos: Michael Rausch-Schott

profil: Das Buch der Lehrerin Susanne Wiesinger ist eine Bankrotterklärung für das Wiener Schulsystem. Trotzdem kam kein Widerspruch aus der Stadtregierung. Hat die Autorin recht mit ihrer Kritik? Czernohorszky: Sie spricht etwas Wichtiges an, und sie hat mit jedem Fall, den sie schildert, recht – so wie jede Lehrerin, die aus ihrer Arbeitssituation berichtet. Politik tut generell gut daran, zuerst einmal hinzuhören und rauszufinden, was es braucht, um diese Lehrerinnen und Lehrer zu unterstützen.

profil: Muss man dafür ein Buch schreiben? Offenbar gelang es Susanne Wiesinger vorher nicht, beim Stadtschulrat oder im Rathaus Gehör zu finden. Czernohorszky: Mein Grundzugang ist der, hinzuhören und hinzuschauen. Ich habe allein in den letzten zwei Jahren ungefähr 150 Schulen besucht …

profil: … auch in Favoriten? Czernohorszky: Ja selbstverständlich, auch in der Knöllgasse, wo Frau Wiesinger unterrichtet. In der politischen Diskussion, die wir gerade führen, geht es gar nicht um die Frage, ob hier eine Herausforderung gesehen oder ein Problem erkannt wird, sondern vielmehr um den Umgang damit. Ich würde es als falsch empfinden, Frau Wiesinger zu widersprechen und dann zur Tagesordnung überzugehen. Ich würde es aber ebenso falsch finden, als politische Reaktion auf solche Fälle nur mit einer Hysterisierung zu reagieren und mit der Suche nach Schuldigen. Es braucht konkrete politische Arbeit. Alles, was den Eindruck vermittelt, man könne sich die Kinder oder die Probleme wegwünschen, wird uns nicht weiterhelfen.

profil: Heinrich Himmer, Bildungsdirektor in Wien, sagt in einem Interview mit der „Presse“, er werde keinen runden Tisch zum Islam einberufen. Es gehe nicht um eine einzelne Religion, sondern um eine Einstellungsfrage. Stimmen Sie dem zu? Czernohorszky: Heinrich Himmer hat genau das Richtige getan und schon vor Monaten am Arbeitsplatz der Frau Wiesinger vorbeigeschaut, um mit ihr, mit ihren Kollegen und mit der Direktorin zu reden. Bei einem runden Tisch vor dem Sommer ging es um das Thema Gewalt. Und in Wirklichkeit muss es egal sein, ob ein Bub ein Mädchen unter Druck setzt, weil er eine verquere Vorstellung davon hat, welche Werte in unserer Gesellschaft gelten – oder ob er das tut, weil er einfach ein kleiner Obermacho ist. In jedem Fall geht es darum, was die Lehrer an Unterstützung bekommen, um damit umzugehen.

Man kann die Kinder nicht einfach mit Bussen umverteilen.

profil: Warum vermeiden auch Sie so konzentriert das Wort ‚muslimisch‘? Susanne Wiesinger schreibt, dass gewisse Schwierigkeiten nur auftreten, wenn in einer Klasse die Gruppe der strenggläubigen Muslime zu groß wird. Ich wohne selbst am Reumannplatz in Favoriten. Und ganz ehrlich: Die Zeugen Jehovas sind dort nicht das Problem. Czernohorszky: Frau Wiesinger schreibt über Jugendliche und deren Verhalten. Sie weist auch darauf hin, dass es nicht um eine Religion geht, sondern um das spezifische Verständnis dieser Religion.

profil: In einigen Wiener Bezirken gibt es Schulklassen mit fast 100 Prozent Migrationsanteil, in anderen Bezirken bleiben die Österreicher beinahe unter sich. Was halten Sie davon, die Kinder besser zu verteilen? Das wurde woanders schon ausprobiert. Czernohorszky: Und es ist überall spektakulär gescheitert. Man kann die Kinder nicht einfach mit Bussen umverteilen. Am Ende des Tages werden sich die Hietzinger Eltern beschweren, wenn deren Kind in der Hietzinger Schule keinen Platz mehr bekommt.

profil: Es würde die Hietzinger Eltern auch stören, wenn es in den Hietzinger Schulen plötzlich viele Kinder gäbe, die nicht Deutsch sprechen. Czernohorszky: Wir müssen sicherstellen, dass Schulen den Bezirk oder das Grätzel abbilden, in dem sie stehen. Das können wir dann am besten, wenn wir das Vertrauen in die Schule ums Eck pflegen.

Jürgen Czernohorszky im Paternoster des Wiener Rathauses

profil: Sie wissen aber schon, dass es Tricks gibt, um die eigenen Kinder in eine andere Schule als jene ums Eck zu schicken. Man meldet den Nachwuchs bei der Oma an, die in einer besseren Gegend wohnt. Oder man sucht sich den Wohnbezirk bereits im Hinblick darauf aus, welche Schulen es dort gibt. Das sind doch Anzeichen, dass etwas falsch läuft. Czernohorszky: Eine gefakte Anmeldung ist in Österreich verboten. Es gibt solche Fälle, denen der Stadtschulrat auch nachgeht. Aber es handelt sich um einige wenige.

Wenn es den Verdacht auf ein Vergehen gegen das Kindswohl gibt, geht die Kinder- und Jugendhilfe dem nach.

profil: Unter Zwölfjährige müssen beim Radfahren einen Helm tragen, rauchen darf man demnächst erst ab 18. Warum stört es niemanden, wenn Volksschulkinder im Ramadan fasten müssen? Czernohorszky: Mich stört ungemein, wenn ein Kind etwas machen muss, was seine Entwicklung einschränkt oder seinen Willen biegt. Dazu gehört natürlich, wenn ein Kind in der Volksschule fasten muss. Dazu gehört aber auch, dass ein Kind seine Freizeit nicht erleben kann – entweder, weil es von den Eltern überfördert wird oder am Wochenende in eine Koranschule gehen muss. Ich habe mit den Lehrerinnen und Lehrern in den letzten Jahren intensiv am Thema Kinderrechte gearbeitet. Wenn es den Verdacht auf ein Vergehen gegen das Kindswohl gibt, geht die Kinder- und Jugendhilfe dem nach und kann auch Sanktionen aussprechen – von verpflichtenden Elternschulungen bis zum Entzug des Kindes in besonders schweren Fällen. Aber ich muss dazusagen, dass es oft schwer ist, Beweise zu finden.

profil: Susanne Wiesinger schreibt: „Der Stadtschulrat und die Gewerkschaft tun alles, dass die Öffentlichkeit die Wiener Schulsituation als Erfolgssystem wahrnimmt. Meinem Eindruck nach lautet das oberste Ziel: Wien muss gut dastehen.“ Genau diesen Eindruck hat man auch als Journalist sehr häufig. Könnte die Wiener SPÖ nicht einfach zugeben, dass manche Dinge falsch gelaufen sind? Czernohorszky: Ich habe eher den Eindruck, dass einige das oberste Ziel haben, Wien als riesengroßen Problemfall darzustellen. Ich glaube nicht, dass wir in Wien auch nur einen Tag auslassen, um an der Verbesserung von Dingen zu arbeiten.

Für das Ziel, mehr Deutschförderung zu bieten, gibt es jetzt weniger Personal.

profil: Zuletzt gab es in Wien 16.000 außerordentliche Schüler. Diese Kinder werden nicht benotet, weil sie nicht gut genug Deutsch sprechen, um dem Unterricht zu folgen. Warum ist Wien gegen die Einführung von Deutschklassen? Czernohorszky: Weil das Modell des Unterrichtsministeriums einen Rückschritt für die Deutschförderung an den Schulen darstellt. Ich glaube, es braucht mehr Deutschförderung. Aber Bildungspolitik tut immer gut daran, auf die Ebene vor Ort zu hören und der Schulleitung die Möglichkeit zu geben, selber Lösungen zu finden. Bei den Deutschklassen wird beides missachtet. Und das eigentliche Problem ist: Für das Ziel, mehr Deutschförderung zu bieten, gibt es jetzt weniger Personal. Allein im letzten Schuljahr hatten wir in Wien für die Deutschförderung 360 Pädagogen zur Verfügung. Heuer haben wir rund 200. Das ist ein Rückschritt.

profil: Sehen Sie grundsätzlich die Notwendigkeit, beim Deutschunterricht etwas zu ändern? Czernohorszky: Ich sehe die Notwendigkeit, dass jeder seine Arbeit macht. Es ist nicht der Weisheit letzter Schluss, Bildungspolitik föderalistisch zu gestalten. Aber wenn es nun einmal so ist, muss der Bund für das Personal sorgen, und die Gemeinden kümmern sich um die Schulen. Die ehemalige Bildungsministerin Sonja Hammerschmid hat zum ersten Mal ein Modell ermöglicht, bei dem Schulen mit schwierigen Voraussetzungen, die mehr Sprachförderung machen und mehr Integration leisten müssen, mehr Personal bekamen. Schwarz-Blau hat jetzt nichts Besseres zu tun, als überall dort zu kürzen, wo Integration durch konkrete Arbeit gefördert wird.

profil: Die Neue Mittelschule war ein Prestigeprojekt der SPÖ. Jetzt sind viele dieser NMS sogenannte „Restschulen“. Warum ist das Konzept gescheitert? Czernohorszky: Es stimmt, dass wir in den NMS eine Schülerpopulation haben, die es für alle Lehrer deutlich schwerer macht. Die systemische Antwort darauf wäre eine gemeinsame Schule für alle Zehn- bis 14-Jährigen. Unsere praktische Antwort ist der Bildungscampus. Dort lernen Kinder von sechs bis 14 Jahren gemeinsam. Und wir sehen, dass auch Eltern, die selber eine gute Bildung haben, ihre Kinder dorthin schicken.

Eine Lehrerin in Margareten oder in Innerfavoriten hat eine völlig andere Arbeitssituation als eine Lehrerin in Hietzing.

profil: Wenn Sie jetzt die Gesamtschule einführen, werden alle Eltern, die es sich irgendwie leisten können, sofort in Privatschulen ausweichen. Czernohorszky: Wie unsere Campusschulen beweisen, kann es funktionieren. Aber ich gebe Ihnen recht, dass es nicht helfen würde, die Schulen einfach anders zu nennen. profil: Sie haben zwei Töchter. Verraten Sie mir, in welche Schulen sie gingen? Czernohorszky: In die öffentlichen Pflichtschulen bei uns ums Eck.

profil: Und wo wohnen Sie? Czernohorszky: Im äußersten Westen, in Penzing. profil: Ist es nicht Teil des Problems, dass Politiker und auch viele Journalisten keine Ahnung haben, wie es an Brennpunktschulen zugeht, weil die eigenen Kinder in einem völlig anderen Umfeld unterrichtet werden? Czernohorszky: Ich weiß nicht, ob diese oft gehörte Story einem Faktencheck standhält. Meines Wissens nach sind die Kinder aller Mitglieder des sozialdemokratischen Teils der Stadtregierung und alle Kinder der SPÖ-Gemeinderäte in öffentlichen Pflichtschulen. Und bekanntlich wohnen viele in der Vorstadt. Nichtsdestotrotz: Eine Lehrerin in Margareten oder in Innerfavoriten hat eine völlig andere Arbeitssituation als eine Lehrerin in Hietzing, und deren Situation ist völlig anders als jene in Güssing. Wir brauchen eine Totalreform bei der Zuteilung der Personalressourcen für unterschiedliche Standorte.

profil: Angenommen, Sie wären vor zehn Jahren schon Bildungsstadtrat gewesen: Was hätten Sie damals anders gemacht? Czernohorszky: Ich hätte versucht, die Tatsache zu nützen, dass andere politische Verhältnisse im Bund herrschten als heute, um ein paar Dinge politisch außer Streit zu stellen. Mir wäre es um mehr Hinwendung zum Kind gegangen und weniger darum, die ganz großen ideologischen Räder zu drehen. profil: Also hätten Sie weniger Energie in den Streit um die Gesamtschule investiert? Czernohorszky: Jedenfalls weniger in Streit und mehr in praktische Arbeit, um die Schulen besser zu machen.

Infobox „Kulturkampf im Klassenzimmer“ heißt das neue Buch der Wiener Lehrerin Susanne Wiesinger – und der Titel verspricht nicht zu viel. Auf rund 200 Seiten berichtet Wiesinger, wie islamische Moralvorstellungen mit der österreichischen Lebensrealität kollidieren. Es sei kaum noch möglich, im Unterricht ein Buch zu lesen, weil die meisten Inhalte als „haram“ gelten. Sie schreibt über junge Mädchen, die von ihren Mitschülern drangsaliert werden, weil sie sich nicht sittsam genug kleiden, und über religiös indoktrinierte Burschen, die ihre Wünsche auch mit Gewalt durchsetzen. Stadtschulrat, Politik und Gewerkschaft würden vor den Problemen die Augen verschließen, diagnostiziert Wiesinger, die im 10. Wiener Gemeindebezirk unterrichtet. „Wir sind ohnmächtig“, heißt es im Text. „Und oft denke ich: Die haben gewonnen, und wir haben verloren.“

Kulturkampf im Klassenzimmer, Edition QVV, € 24,90

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Rosemarie Schwaiger