Wahlanfechtung im Verfassungsgerichtshof

Wahlanfechtung: Warum der VfGH die Stichwahl aufheben könnte

Der VfGH zerlegt die Wahlbehörden. Was Ludwig Wittgenstein und der Villacher Fasching mit der Anfechtung der Bundespräsidentenwahl zu tun haben - und warum eine Wahlwiederholung das wahrscheinlichere Szenario ist.

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Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand. Niemand weiß, was einen erwartet. Auch dem Verfassungsgerichtshof, der die Anfechtung der FPÖ gegen die Bundespräsidenten-Stichwahl verhandelt, wurde in seiner öffentlichen Sitzung vergangene Woche Unerwartetes serviert: Bürgermeister, die Protokolle von Sitzungen unterschreiben, an denen sie nicht teilnahmen; Bezirkshauptmänner, die Niederschriften von Sitzungen anfertigen, die nie stattfanden; Beamte, die aus Überforderung Gesetze biegen; eine Bundesbehörde, die keine Ahnung hat, was Landes- und Bezirksbehörden so treiben.

Vier Tage Trauerspiel vor dem Verfassungsgerichtshof - und das österreichische Wahlsystem gleicht einem Scherbenhaufen. Tröstlich ist, dass das Verfahren erzieherische Wirkung haben dürfte. Die nächste Bundespräsidentenwahl wird wohl streng nach dem Buchstaben des Gesetzes abgewickelt werden. Die Frage ist, wann sie stattfindet. Reichen die festgestellten Unregelmäßigkeiten dafür, dass der VfGH der Anfechtungsklage von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache rechtgibt und die Wahl aufhebt? Oder belässt er es bei einer Rüge und verhilft Alexander Van der Bellen zum Bundespräsidentenamt? Eine profil-Analyse des VfGH-Verfahrens und seiner Folgen.

Die Vorwürfe

Innenminister Wolfgang Sobotka nennt es "Schlamperei“. Tatsächlich ist es Rechtsbruch. Im Bundespräsidentenwahlgesetz ist die Behandlung der Wahlkarten - nur um sie geht es in der Anfechtung - penibel geregelt. Zuständig sind die Bezirkswahlbehörden, in welche die Parteien Wahlbeisitzer entsenden. Bei der Stichwahl am 22. Mai wurden 760.000 Wahlkarten abgegeben. Laut FPÖ-Anfechtung kam es in 94 der 117 Wahlbezirke zu Unregelmäßigkeiten. Um diese Fehler überhaupt erfassen zu können, gingen die Freiheitlichen generalstabsmäßig vor. Die blauen Bezirksgeschäftsführer verteilten Datenblätter an ihre Beisitzer, auf denen diese vorformulierte Unregelmäßigkeiten ankreuzen konnten.

Für vergangene Woche lud der VfGH 90 Zeugen aus den 20 Bezirken mit den gröbsten Unregelmäßigkeiten. Manche Bezirke patzten nur einmal, bei anderen wuchsen die Fehler zu Kaskaden: Es wurden Wahlkarten schon vor dem gesetzlichen Termin in gültige und ungültige sortiert (eher unbedenklich); dann auch noch zu früh aufgeschlitzt (mittelschweres Vergehen); vielleicht auch noch die darin befindlichen Kuverts entnommen (eher bedenklich); unter Umständen die Stimmzettel aus den Kuverts gezogen (Hilfe!); diese dann auch ausgezählt (gelber Alarm!); eventuell in Abwesenheit der Wahlbeisitzer (roter Alarm!). Wenn dann auch noch die ordnungsgemäße Auszählung von allen Mitgliedern der Wahlbehörde - faktenwidrig - protokolliert wurde, wird wohl nicht einmal mehr Wolfgang Sobotka von bloßer "Schlamperei“ sprechen wollen. Dass es tatsächlich zu Manipulationen kam, behauptet freilich auch die FPÖ nicht.

Der Gerichtshof

Die Wien Energie hat die Temperatur im Sitzungsaal des Verfassungsgerichtshofs auf der Wiener Freyung per Fernkälte um einige Grad verringert. Die erste Sommerhitze liegt über der Bundeshauptstadt. Präsident Gerhart Holzinger und Vizepräsidentin Brigitte Bierlein tragen Verbrämungen aus Hermelin auf ihrem Amtskleid. Die Talare ihrer zwölf Kollegen haben einen kragenartigen Besatz aus purpurnem Samt. Betreten die Höchstrichter den Sitzungssaal, hat ein Ordner zuvor alle Berichterstatter und Kiebitze von ihren Sitzen aufgescheucht. Die Würde, die von den Höchstrichtern ausgeht, ist beinahe materiell. Man kann sich die Herrschaften nur schwer am Punschstand oder im Biergarten vorstellen, schon gar nicht im Rudel.

Die Verfassungsrichter befragen die Zeugen - allesamt Mitglieder von Bezirkswahlbehörden zwischen Bregenz und Gänserndorf - ruhig und präzise. Wollen sie Vertrauen zu einem Zeugen aufbauen, wechseln sie in den Dialekt. Sie haben Tirolerisch, Oberösterreichisch, Salzburgisch und Steirisch im Repertoire. Manche sprechen eine Mischform. Richter Christoph Herbst spricht auch Latein ("camera separata“, "post festum“, "lege artis“). Von seinen Kollegen wird er dann verstanden, von den Zeugen nicht.

Im Gegensatz zu manchen Kollegen in Strafprozessen sind die Höchstrichter verständnisvoll und zuvorkommend. Wer die Verfassung hütet, behandelt auch die Verfassungsunterworfenen pfleglich. Dass es so auch sein soll, belegt der erste Artikel der Bundesverfassung, der in großen goldenen Lettern an der Wand hinter den Höchstrichtern prangt: "Österreich ist eine demokratische Republik.“ Dazu der vor allem bei "Kronen Zeitung“ und Frank Stronach beliebte Zusatz: "Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Das steckt zwar schon im ersten Satz, doppelt hält aber auch in der Bundesverfassung besser.

Der Präsident

Verliert Alexander Van der Bellen trotz Bestätigung durch den VfGH die Lust auf sein Amt oder geht bei einer Wahlwiederholung erneut etwas schief, sollte die Bundesversammlung Gerhart Holzinger, 69, per Akklamation zum neuen Bundespräsidenten wählen. Das wäre zwar verfassungswidrig, aber vernünftig. Der Präsident des VfGH nimmt Zeugen die Furcht ("Wollen Sie ihre Tasche nicht abstellen?“). Er vermittelt ihnen, nützlich zu sein ("Danke, dass Sie uns bei unserer Tätigkeit unterstützen“). Er spendet Trost ("Ich weiß, dass es nicht leicht für Sie ist, auszusagen“). Er achtet auf die Würde des Hauses, wenn sogar seine Richter mitwitzeln, dass Schlitzmaschinen "Schlitzmaschinen“ heißen, weil sie "schlitzen“. Gefährlich wurde es für Zeugen vergangene Woche nur, wenn Holzinger selbst eine Frage stellte. Meistens war es die gleiche: "Wieso machen Sie das?“

Am Zeugenpult stand dann etwa der Bezirkshauptmann von Hermagor, der nicht erklären konnte, warum er mit seiner Vorzimmerdame vorzeitig Kuverts sortiert hatte. Oder der Behördenchef von Wolfsberg, der eine "fingierte Sitzung“ (Holzinger) bestätigte. Und in der Mitte seiner Kollegen saß der Präsident des Verfassungsgerichtshofs, in dessen Gesicht sich deutlich Verzweiflung über das Berufsethos von Spitzenbeamten abzeichnete.

Die Bezirkshauptmänner

In ihren Regionen zählen Bezirkshauptmänner zu den Top-Honoratioren, die bei Bällen den Ehrenschutz übernehmen und bei Besuchen des Bundespräsidenten mit aufs Gruppenbild dürfen. Vor dem VfGH tragen sie dunkle Anzüge und haben ihre Aktentasche dabei. Weil sie wissen, dass ein akademischer Titel Teil des Namens ist, nennen sie ihn auch bei der Identitätsfeststellung. Sie sind Juristen - und haben als Vorsitzende der Bezirkswahlbehörden dem Gesetz doch nicht Genüge getan. Dass sie nun vor dem Verfassungsgerichtshof stehen, müssen sie als Schmach empfinden. Der eine reagiert mit Trotz und weist den Vorwurf, "schlampig“ gewesen zu sein, zurück. Der andere versucht, mit den Höchstrichtern eine Diskussion über die Auslegung des Bundespräsidentenwahlgesetzes anzuzetteln. Einer entschlägt sich der Aussage. Wieder ein anderer gibt offen zu, wissentlich gegen die Wahlordnung verstoßen zu haben, um am Montag mit der Auszählung von über 17.000 Briefwahl-Stimmen fertig zu werden. Held der Woche ist Josef Dick, Bezirkshauptmann von Liezen, dessen Behörde die Wahlordnung überkorrekt einhielt. Der FPÖ-Beisitzer hatte das Datenblatt seiner Partei offenbar nicht verstanden und falsche Vorwürfe angekreuzt. Gerhart Holzinger nennt Dicks Vorgehen "exzellent“. Beinahe wäre im Publikum Applaus ausgebrochen.

Das Innenministerium

Zur Linken der Richter sitzen die FPÖ-Anwälte, zur Rechten Alexander Van der Bellens Rechtsvertreter. Halb rechts sitzt Ministerialrat Robert Stein, Leiter der Abteilung für Wahlangelegenheiten im Innenministerium, gegen das sich die Anfechtungsklage der FPÖ richtet. Die vier Sitzungstage des VfGH brachten drei Erkenntnisse: Die Unregelmäßigkeiten bei der Bundespräsidentenwahl passierten schon bei früheren Wahlen. Bezirkswahlbehörden sind ob der vielen Wahlkarten überfordert. Das Innenministerium weiß von allem freilich nichts. Von Präsident Holzinger darauf angesprochen, sagte Robert Stein: "Das Innenministerium als oberste Wahlbehörde prüft nur Akten, und darin war immer alles korrekt abgebildet.“ Die Welt ist alles, was der Akt ist. Wäre Ludwig Wittgenstein Ministerialrat gewesen, hätte er einen Tractatus logico-buerocraticus verfasst.

Die Zeugen

Unter den als Zeugen geladenen Wahlbeisitzern waren gewandte Akademiker und schwerhörige ÖBB-Pensionisten; FPÖ-ler, die aussahen wie Grüne, und Grüne, die Krawatten trugen; eine fidele Sozialdemokratin aus Tirol, ein ehemaliger Landwirtschaftskammer-Präsident und mit Siegfried Dillersberger sogar ein früherer Dritter Nationalratspräsident. Als Beisitzer ihrer Parteien wollten sie mithelfen, dass Demokratie und Wahlen funktionieren. Nun haben sie ein strafrechtliches Problem, weil sie Protokolle nicht genau durchlasen. Seit vorvergangener Woche ermittelt das Bundesamt für Korruptionsbekämpfung (BAK) auf Geheiß der Korruptionsstaatsanwaltschaft gegen Dutzende Wahlbeisitzer wegen Verdachts auf falsche Beurkundung.

Auch gegen den Villacher Bürgermeister Günther Albel, 42, leitete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren ein - wegen Verdachts auf Amtsmissbrauch. Als Bürgermeister ist Albel auch Vorsitzender der Bezirkswahlbehörde von Villach Stadt. Vor dem VfGH übernahm Albel vergangenen Donnerstag die Verantwortung für die Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Wahlkarten in Villach. So wurde eine Sitzung der Wahlbehörde protokolliert, die gar nicht stattfand - ein Bringer beim nächsten Villacher Fasching. Ein Magistratsbeamter gab zu, "aus falschem Ehrgeiz“ zu früh ausgezählt zu haben. Der Bürgermeister und die SPÖ-Beisitzer der Villacher Wahlbehörde werden vom Wiener Anwalt Meinhard Novak vertreten, der seine Mandanten auf der sicheren Seite sieht: "Der Bürgermeister und die Beisitzer der SPÖ haben von den Vorgängen bei der Wahlkarten-Öffnung erst im Nachhinein erfahren. Hier fehlen der objektive und der subjektive Tatbestand. Ich gehe fix von einer Einstellung der Verfahren aus.“ Die Kuriosität: Die FPÖ und Norbert Hofer haben sich dem Strafverfahren als Privatbeteiligte angeschlossen. Sie sollen einen Vermögensschaden geltend machen.

Die Folgen

Spekulationen über die Entscheidungsfindung des Verfassungsgerichtshofs sind so gewinnbringend wie Wetten auf den Inhalt der nächsten Papst-Enzyklika. Zumindest die Fakten stehen außer Streit: Bei der Stichwahl am 22. Mai gab es Unregelmäßigkeiten, aber keine Manipulationen. Die daraus resultierenden Fragen: Welche Unregelmäßigkeiten waren rechtswidrig, und konnten sie das Wahlergebnis theoretisch kippen?

Die Verfassungsrichter könnten vorab klären, welche Vorgänge rechtswidrig und wie schwerwiegend diese sind. Wahlkarten am Sonntag Abend aufzuschlitzen, damit sie unmittelbar danach von befugten Wahlbeisitzern leichter ausgezählt werden können, dürfte ein vernachlässigbares Vergehen sein. Eine Manipulation der Wahlkarten oder Stimmzettel ist dabei nicht einmal theoretisch möglich.

Eingegangene Wahlkarten schon am Freitag vor der Wahl aufzuschlitzen, die Stimmen ab Sonntag von Beamten auszählen und das Ergebnis von den Wahlbeisitzern erst am Montag Nachmittag abnicken zu lassen, wirkt dagegen mehr als bedenklich. Kompliziert wird es durch die Details: Wussten die Wahlbeisitzer, dass vorab ausgezählt wurde? Hätten sie an der Auszählung teilnehmen können? Gab es gar eine Ermächtigung der Wahlbehörde, die Sortierung oder Auszählung der Wahlkarten an Beamte zu delegieren? Und falls ja - war diese Ermächtigung überhaupt gültig?

Ob die Wahl wiederholt wird, hängt dann davon ab, wie viele Stimmen von Rechtswidrigkeiten betroffen sind. Bei der Stichwahl betrug Alexander Van der Bellens Vorsprung nur 30.863 Stimmen. Allein in den 20 vom VfGH genauer untersuchten Bezirken wurden etwa 50.000 Briefwahl-Stimmen abgegeben. Was Van der Bellen nervös machen muss: Ausgerechnet in großen Bezirken wie Graz-Umgebung (15.500 Briefwahlstimmen) oder Innsbruck-Land (13.500) kam es zu gröberen Verstößen. Überdies legt der Verfassungsgerichtshof - zuletzt bei der Aufhebung der Bezirksvertretungswahl in Wien Leopoldstadt - die gesetzlichen Regelungen für eine Wahl ausgesprochen strikt aus.

Van der Bellens Anwältin Maria Windhager nähert sich der Problematik vom praktischen Standpunkt. Es handle sich um Formalfehler, die sich nicht auf das Ergebnis ausgewirkt hätten. Entscheidend sei, dass der Wählerwille korrekt abgebildet wurde. Eine Prognose zum Ausgang will Windhager nicht abgeben: "Das ist Sache des Verfassungsgerichts.“ Auch die Anwälte der FPÖ, Dieter Böhmdorfer und Rüdiger Schender, wollen dem Höchstgericht keinesfalls vorgreifen.

Auch vor dem Verfassungsgerichtshof ist man schließlich in Gottes Hand.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.