Kaninchen oder Schlange: Christian Kern feilt an seiner Oppositionsrolle

Vom Kanzler zum Oppositionsführer: Christian Kern feilt an seiner neuen Rolle – und spricht schon vom Comeback 2022. Davor wird es allerdings ungemütlich.

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Es war ein außergewöhnliches Schauspiel, das sich am Donnerstag der Vorwoche im provisorischen Parlament in der Wiener Hofburg zutrug. Da stand der Noch-Bundeskanzler und probte am Rednerpult den angriffigen Oppositionsführer. Kern gab erst den verantwortungsbewussten Staatsmann: "Wie wir mit unserer Geschichte umgehen, bestimmt unseren Umgang mit der Zukunft", mahnte er in Erinnerung an die Novemberpogrome, die sich just am Tag der Konstituierung des Nationalrates jährten. Die freiheitlichen Parlamentarier verweigerten ihm – als einzige Fraktion – den Applaus. Dann ging Kern in den Angriffsmodus über: "Kauft's euch a Wohnung", versuchte er es mit einer Pointe in Richtung der künftigen Koalitionspartner ÖVP und FPÖ. Sie hatten in den Wochen davor allzu harmonisch agiert. Der Kanzler war sichtlich bemüht, sich rasch in seiner neuen Rolle zurechtzufinden.

Vom Kanzleramt ins Ausweichquartier des Parlaments sind es nur wenige Hundert Meter. Der Weg zurück wird für Kern beschwerlicher. Die Jobdescription des Oppositionsführers passt so gar nicht zum Lebenslauf des Alphatiers – und fünf Jahre können eine lange Zeit sein. Schon die nächsten Monate versprechen äußerst ungemütlich zu werden. Kern muss die SPÖ-Zentrale umbauen und die Partei 2018 durch vier Landtagswahlen manövrieren.

Die Witterungsverhältnisse sind widrig. Rote Landesparteien westlich von Wien sind entweder arg ramponiert oder inexistent. In der SPÖ sorgt eine Erhebung der Organisationsabteilung für Stirnrunzeln; demnach ist ein erklecklicher Teil der SPÖ-Gemeindemandatare in Tirol nicht einmal selbst Parteimitglied. Auch die kostenfreien Gastmitgliedschaften konnten den Mitgliederschwund nicht bremsen. Zu Kerns Amtsantritt zählte die SPÖ noch gut 200.000 Parteigänger, aktuell sind es 180.000.

Dazu kommt: Kern ist kein klassischer Oppositionspolitiker. Er verbrachte sein halbes Berufsleben in Führungspositionen, leitete staatsnahe Unternehmen wie die ÖBB und zuletzt 17 Monate die Bundesregierung. Als Oppositionsführer wird er viel Geduld brauchen, schließlich muss er anderen beim Arbeiten zusehen – und reagieren statt regieren. Wie das Kaninchen auf die Schlange blickt die SPÖ nun auf die Koalitionsverhandlungen zwischen Kurz und Strache. Kern wird nur brillieren können, wenn die neue Regierung patzt. Vorsorglich warnt der SPÖ-Chef schon vor dem "schwarz-blauen Machtblock" – obwohl noch gar nicht klar ist, wohin die Reise geht.

Loyalitäten entstehen nicht nur, weil man sie anordnet. So viel Intelligenz traue ich ihm zu.

Immerhin: Bis sich ÖVP und FPÖ einig sind, hat Kern Zeit, Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. "Eine Partei ist kein Unternehmen. Loyalitäten entstehen nicht nur, weil man sie anordnet. So viel Intelligenz traue ich ihm zu", sagt ein roter Gewerkschafter. Nicht alle in der SPÖ arbeiteten in der Vergangenheit für ihren Chef. Nach elf Jahren roter Regierungsbeteiligung muss der Parteivorsitzende die Organisationsstrukturen der SPÖ auf Opposition umpolen. Steht die neue Koalition, verlieren sieben rote Minister und eine Staatssekretärin ihren Arbeitsplatz – und mit ihnen eine ganze Armada von Kabinettsmitarbeitern. Im Hintergrund managten sie die Öffentlichkeitsarbeit, entwickelten Strategien und schrieben Gesetzestexte. Solche Arbeitsprozesse müssen in Zukunft wieder die Bundesparteizentrale und der Nationalratsklub erledigen. Dafür benötigt Kern ergebene Mitstreiter.

"Ein Teil der Klubsekretäre ist noch dem Josef Cap loyal. Bei denen regiert der sogenannte 'Capismus': Immer ein bisschen Schmäh führen – aber nichts hackeln", erzählt ein parlamentarischer Mitarbeiter der SPÖ. Kern soll bass erstaunt gewesen sein, als er sich mit den Gehaltslisten im roten Parlamentsklub vertraut machte. Unter den langgedienten Mitarbeitern geht nun die Angst um, Kern kündigte einen "ziemlichen Durchputzprozess" an. Er beorderte seinen bisherigen Kabinettschef im Kanzleramt, Christopher Berka, in die Klubführung. Und auch in der Löwelstraße will Kern ordentlich umrühren. "Wir sind in einem Schwebezustand, wir wissen nicht, was die nächsten Tage passiert", fasst ein Mitarbeiter die Stimmung in der Parteizentrale zusammen. "Wenn Thomas Drozda kommt, gehe ich nicht davon aus, dass ich hier noch länger einen Job habe." In den vergangenen Wochen verdichteten sich innerhalb der SPÖ die Hinweise darauf, dass der bisherige Kulturminister die Bundesgeschäftsführung übernehmen wird. Die simple Logik: Drozda zählt zum kleinen Kreis derer, denen Kern nach dem verkorksten Wahlkampf noch vertraut – beide kennen einander aus der Zeit, als Drozda im Kanzleramt unter Franz Vranitzky arbeitete und Kern im roten Klub. Zuletzt war Drozda mit der Wahlkampfleitung betraut.

"Die Trauerphase ist spätestens seit dem Wahlabend vorbei", versucht Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser seine Partei wachzurütteln. Er ist der engste Vertraute Kerns in den Landesparteien: "Bisher konnte man sich auf die SPÖ-geführte Regierung verlassen. Jetzt wünsche ich mir mehr Engagement von jedem Abgeordneten."

Wir müssen die Position ausfüllen, die frei ist: links der Mitte. Die Grünen sind nicht mehr drinnen, die Liste Pilz ist angeschlagen.

Am Montag und Dienstag wird Kaiser mit den 15 weiteren Präsidiumsmitgliedern der SPÖ im Gartenhotel Altmannsdorf in Wien konferieren, dem Sitz des roten Renner Instituts. Dort wollen die roten Spitzen Strategie, Personalien und Programmatik fixieren. Kaiser gibt stellvertretend für Kern die Stoßrichtung vor: "Wir müssen die Position ausfüllen, die frei ist: links der Mitte. Die Grünen sind nicht mehr drinnen, die Liste Pilz ist angeschlagen – die SPÖ kann das mit ihrer Breite ausfüllen." Tatsächlich liegt eine Chance Kerns in der Schwäche der übrigen linken Parteien. Solange die Grünen ihren Selbstfindungsprozess durchlaufen und die Liste Pilz führungslos umherirrt, hat Kern das Monopol auf linke Oppositionsarbeit – mögliche Betätigungsfelder: parlamentarische Anfragen an Minister, die Einsetzung von U-Ausschüssen und Volksbegehren.

Kern schlug am Wochenende in einem Interview mit der "Tiroler Tageszeitung" eben diesen Kurs ein: "Die ÖVP hat sich längst zu einer rechtspopulistischen Partei entwickelt." Die SPÖ wolle demgegenüber die progressive Partei sein -und künftig das Mitte-bis Mitte-links-Spektrum abdecken.

Auf der Tagesordnung der SPÖ-Präsidiumsklausur steht auch das neue Parteiprogramm der SPÖ, das bereits von Werner Faymann angekündigt wurde – das derzeit gültige 33-Seiten-Papier ist 19 Jahre alt. Nun soll es wirklich so weit sein: Maria Maltschnig, die Chefin der Parteiakademie, entsorgte den Rohentwurf von Ex-Klubobmann Josef Cap und setzte mit Vertrauten eine neue Version auf. Darin soll es ein paar Überraschungen geben, etwa ein eigenes Kapitel zu "Klimawandel und Umweltgerechtigkeit", wie Maltschnig erzählt: "Kinder aus ärmeren Schichten wohnen eher am vielbefahrenen Gürtel in Wien. Das hat nachweisbare Auswirkungen für deren Gesundheit. Auch unter dem Backofeneffekt in den Städten leiden jene besonders, die kein Wochenendhaus im Waldviertel haben. Das ist eine verteilungspolitische Frage." Wirtschaftspolitisch ist das alte Programm eher dürftig. Maltschnig kündigt auch einen "Schwerpunkt zur Krisenanfälligkeit des Wirtschaftssystems" an, darin sollen rote Ansätze "wohlstandsorientierter Politik" gebündelt werden: "Wirtschaftlicher Erfolg lässt sich nicht auf das Bruttoinlandsprodukt reduzieren, es geht auch um Lebensqualität." Nach einem Beteiligungsprozess für Mitglieder will Maltschnig das Programm 2018 beschließen lassen -der Parteichef spricht von einem "Reformparteitag". Dabei wird auch Kern selbst zur Wahl stehen.

Wenn wir Wahlen gewinnen wollen, müssen wir uns Richtung Mitte orientieren.

Sein gefährlichster innerparteilicher Konkurrent, Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil, wird Ende des Jahres als Finanzlandesrat ins Burgenland wechseln und 2018 die Landesparteispitze übernehmen. Das verschafft Kern etwas Luft. Doch das kleinste Bundesland wird weiterhin selbstbewusst seine eigene Linie vertreten. Doskozil: "Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir uns ausschließlich auf das freigewordene grüne Potenzial fokussieren und damit nach links abdriften sollten. Wenn wir Wahlen gewinnen wollen, müssen wir uns Richtung Mitte orientieren." Doskozil plant nun sogar ein eigenes Programm für die SPÖ Burgenland – nur für den Fall, dass ihm jenes der Bundespartei nicht genehm ist.

Ein Spaziergang wird der Bundesparteitag für Kern jedenfalls nicht: Davor muss er wohl noch die eine oder andere Parteikrise aussitzen. Denn die Ausgangslage für die vier Landtagswahlen 2018 ist mies: Die SPÖ kann schon glücklich sein, wenn sie in Kärnten den Landeshauptmannsessel halten kann, den die Freiheitlichen erobern wollen. Bei den Nationalratswahlen fuhren sie im südlichsten Bundesland bereits die Mehrheit ein. Für die übrigen drei Länder (Niederösterreich, Tirol und Salzburg), die kommendes Jahr wählen, gibt es nur eine Losung für die SPÖ: nur nicht allzu viel verlieren. Eine realistische Machtperspektive haben die Sozialdemokraten nicht. In Niederösterreich zieht SPÖ-Spitzenkandidat Franz Schnabl mit der Ansage in die Wahl, er strebe eine "Reformpartnerschaft" aller Parteien in der Landesregierung an. Dass er damit Massen begeistert, darf bezweifelt werden. Kern kann den Landesorganisationen vom Bund aus kaum helfen – er wird die Ergebnisse trotzdem argumentieren müssen. Die Landtagswahlen sind auch von bundespolitischer Bedeutung: für die Besetzung des Bundesrates. Denn ein Drittel der Mitglieder des Bundesrats könnte bei Verfassungsänderungen eine Volksabstimmung erzwingen -das wäre ein mächtiges Oppositionsinstrument. Noch kommen SPÖ und Grüne im Bundesrat gemeinsam auf 24 von 61 Abgeordneten -für ein Drittel reichen 21 Sitze. Bei den Wahlgängen 2018 stehen sieben rote und zwei grüne Sessel auf dem Spiel. Verlieren SPÖ und Grüne mehr als drei Sitze, können sie auch im Bundesrat nichts mehr blockieren.

Die nächsten Monate werden aber ohnehin von der roten Personalentscheidung des Jahrzehnts überschattet: die Nachfolgeregelung in der Wiener SPÖ. Ende Jänner zieht sich Michael Häupl als Wiener Parteivorsitzender zurück. Mit Wohnbaustadtrat Michael Ludwig hat sich bereits ein Kandidat in Stellung gebracht. Zu seinen prominentesten Unterstützern zählen die nunmehr Zweite Nationalratspräsidentin Doris Bures (sie führt auch die Wiener Bezirkspartei Liesing) und Arbeiterkammer-Präsident Rudolf Kaske. Innerhalb des linksliberalen Flügels in der Stadt-SPÖ macht sich Nervosität breit – der Tag X naht und ihr Kandidat hat sich immer noch nicht aus der Deckung gewagt. SPÖ-Wien-Insider gehen davon aus, dass der Kampf um die Führungsposition der mächtigsten Landespartei spätestens Ende November voll ausbricht: Dann steht die nächste Vorstandssitzung an. Zuletzt wurde der Name von SPÖ-Klubobmann Andreas Schieder immer öfter genannt – dem Penzinger werden schon länger einschlägige Ambitionen nachgesagt.

Die Wiener Personalentscheidung hat weitreichenden Einfluss auf die Ausrichtung der SPÖ. Ohne Regierungsbeteiligung im Bund ist der Wiener Bürgermeister der faktisch mächtigste rote Politiker. Kern ist Zaungast – er muss sich vor der Abstimmung bedeckt halten und sich hinterher mit dem Sieger arrangieren. Hoffnung könnte Kern ein Blick nach Italien geben. Dort kandidieren bei den Parlamentswahlen 2018 zwei bekannte Gesichter: Silvio Berlusconi und Matteo Renzi. Beide waren zuvor Regierungschefs gewesen.

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Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.