KURIERINNEN HELA SCHÜPPER UND SHOSHANA LANGER 1943: Als „Arierinnen“ getarnt auf den Straßen von Warschau

Die Ghetto-Frauen: Widerstands-Kämpferinnen in Polen

Ein neues Buch erzählt die Geschichte des bewaffneten jüdischen Widerstands junger Frauen. Ein vergessenes Kapitel des Holocaust.

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„Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen.“ So redeten die Jugendlichen bei ihren Treffen. Der Satz fiel immer öfter, hatte sich eingepflanzt. Gerüchte machten die Runde, in den Lagern der Deutschen geschähen böse Dinge. Polnische Juden wurden deportiert und waren nie wieder gesehen. „Als wären sie in einem Abgrund versunken“, vertraute eine der jungen Zionistinnen ihrem Tagebuch an.

Es gab einen Moment, da ward das Reden vom Widerstand ein Schwur. Als ein Mädchen das Massaker in einem Wäldchen bei Wilna 1941 überlebte und erzählte. Sie war in einem Massengrab neben ihrer toten Mutter zu sich gekommen. Sie hatten sich nackt aufstellen müssen und waren in die Grube geschossen worden. 75.000 Juden waren es am Ende gewesen.

„Lasst euch nicht täuschen, Hitler hat vor, alle Juden in Europa zu vernichten“, hatte damals Abba Kovner, ein linkszionistischer Aktivist, bei einer Lagebesprechung analysiert.

1941. Polen war besetzt, Hitlers Armee in die Sowjetunion eingefallen und nun auch in den Weiten des Ostens dazu übergegangen, die dort lebende jüdische Bevölkerung auszulöschen. Vernichtungslager wie Auschwitz, Sobibor und Treblinka waren in Bau.

Die ältere Generation hoffte immer noch, es werde nicht ganz schlimm kommen. Doch Jugendliche, die im Schtetl aufgewachsen waren, in öffentliche Schulen gingen, sich als Zionisten verstanden, von Palästina träumten und Solidarität lebten, verachteten das Zaudern, die mahnenden Worte, nicht zu provozieren, die Nazis nicht zu noch härteren Maßnahmen anzustacheln. Sie fühlten sich als Avantgarde, die, wenn es denn so sein sollte, ihrem Volk in den Tod vorangeht. Sie wollten als eine Generation von Rächern in Erinnerung bleiben, so einer ihrer Anführer.

Vor ein paar Jahren war die kanadische Wissenschaftsjournalistin Judy Batalion bei einer Recherche in der British Library in London auf vergilbte Blätter in einem verschlissenen Einband gestoßen: „Freuen in di Ghettos“ (Frauen in den Ghettos) stand auf dem Deckel; 200 Seiten in winziger Schreibschrift, jiddisch, erschienen 1946 in New York. 

Batalion, selbst aus einer Familie polnischer Holocaust-Überlebender stammend, hatte vom bewaffneten Widerstand jüdischer Frauen in Polen nie zuvor gehört. Das war verschollenes Wissen. Junge Frauen, die aus Ghettos heraus gegen die Nationalsozialisten kämpften, SS-Männer erschossen, Anschläge ausführten, Waffen schmuggelten und mit falschen Papieren von Ghetto zu Ghetto unterwegs waren, um ihre Landsleute davor zu warnen, in Deportationszüge zu steigen.

Todesmutig, hart und mit dem Idealismus der Jugend, die um ihr Leben nicht fürchtet, nahmen sie einen hohen Blutzoll in Kauf. Es ging ihnen nicht ums Überleben, sondern um die Würde des Untergangs. Jede einzelne Lebensgeschichte dieser Frauen sei ein Thriller, sagt Batalion. Ihr Buch „Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns“ erscheint am 29. Juli in deutscher Übersetzung im Piper Verlag.

Renia Kukielka, behütet aufgewachsen in Jędrzejów, einem lebendigen polnischen Schtetl in der Nähe von Kielce, mit jiddischen Zeitungen und Verlagen, war 15 Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht im September 1939 in Polen einmarschierte. Von einem Tag zum anderen war alles aus. Familien flüchteten ostwärts, verfolgt von Fliegerbomben, in zermürbender Suche nach einem sicheren Ort, die Landstraßen gesäumt von Erhängten.

Renia war Jungzionistin. An Widerstand hatte sie nie gedacht. Der Lauf der Ereignisse veränderte das. Bald mussten sie ein weißes Band mit Davidstern tragen, verloren ihre bürgerlichen Rechte und alles, was sie besaßen, wurden in Ghettos gesperrt.

Die Judenräte wurden in die Pflicht genommen, dass Anweisungen der Besatzer befolgt werden – unter Mithilfe der Judenpolizei, für die sich „nur Leute von der übelsten Sorte“ meldeten, so Renia. In den Ghettos herrschten Hunger, Schmutz und Läuse. Mit Fortdauer des Krieges auch sexuelle Gewalt, Demütigungen, willkürliche Erschießungen durch SS-Männer, die, oft betrunken, in ein Ghetto einfielen. Jede Privatheit war erloschen. „Niemand konnte atmen, husten oder weinen, ohne dabei Zuschauer zu haben“, so eine junge Ghetto-Bewohnerin. Niemand durfte hinaus, außer zum Arbeitsdienst.

 „Die Deutschen verhärteten die Herzen der Juden“, beobachtete Renia, die eine neue Härte auch an sich selber bemerkte. „Jeder sorgt nur noch für sich, bereit, den Mitmenschen das Essen vom Mund wegzustehlen.“

Das Warschauer Ghetto wurde im Frühsommer 1940 errichtet. Nahezu eine halbe Million Menschen pferchte man in ein kleines Geviert in der Altstadt. Sie gaben sich dennoch nicht auf – auch das eine Form des Widerstands –, spielten Theater, Kabarett, Konzerte, richteten Schulen und geheime Hausbibliotheken ein, gaben Untergrund- zeitungen heraus. Doch die Zustände wurden schlimmer.  Bei der ersten großen Aktion im Frühsommer 1942 wurden 52.000 Menschen deportiert. Der Warschauer Judenrat plädierte für Ruhe und Abwarten. Die Jugend wollte mit Knüppeln gegen das Zusammentreiben vorgehen. „Unser größter Feind ist die falsche Hoffnung“, meldete sich Zivia Lubetkin, zu Wort, scheu und ernst, eine Linkszionistin, die später im Warschauer Aufstand eine zentrale Rolle spielte. Ihre Kameradin Tosia Altmann in einem Brief an Freunde in Palästina: „Juden sterben vor meinen Augen, und ich bin machtlos.“

Die Jungen gründeten eine jüdische Kampforganisation, die ZOB, ein Zusammenschluss linker zionistischer Bewegungen. Auf Plakaten im Ghetto warnten sie vor Transporten nach Treblinka, begannen Waffen und Dynamit ins Ghetto zu schmuggeln, übten das Schießen. Im Spätsommer 1942 hatten sie fünf Gewehre beisammen.

Renias Familie war in Wodzisław Śląski nahe der tschechischen Grenze gestrandet. Sie hörten von immer neuen Gräueltaten. Renia sprach mit halb wahnsinnig gewordenen Frauen, bleich, zerlumpt, deren Kinder von Nazis zu Tode getreten worden waren, weil sie auf der Straße gespielt hatten. Sie lernte fünf Geschwister kennen, die unter Betten und in Kästen überlebt hatten, das kleinste war erstickt, die Mutter abgeholt. Sie sah eine Gruppe, die überfallen worden war und mit nichts am Leib in die Stadt wankte. Gab es noch einen Ort, an dem Juden leben durften? „Alle Herzen sind gebrochen. Es ist ein Wunder, dass nicht alle den Verstand verlieren“, notierte Renia über diese Tage.

Renia und ihre ältere Schwester Sarah sollten als „Arierinnen“ in Warschau unterschlüpfen, die Eltern und Yankeleh, der kleine Bruder, sich in den Wäldern verstecken. Das war der Plan.

Renia sprach akzentfrei Polnisch und konnte mit ihren grünen Augen und hellbraunen Haaren als Nichtjüdin durchgehen. Sie machte sich mit ihrer besten Freundin auf den Weg. Bei einer Polizeikontrolle gab sie sich empört: „Meinen Sie wirklich, ich wäre eine Jüdin?“ Sie durfte passieren. Ihre Freundin wurde wenige Meter von ihr entfernt erschossen.

Die 17-Jährige war jetzt allein, hetzte über Felder, schlief im Wald, sprang aus einem fahrenden Zug, weil ein Schaffner misstrauisch geworden war, arbeitete im Haushalt einer polnischen Familie und ging sonntags in den katholischen Gottesdienst, zitternd vor Angst, sie könnte die Gebete falsch nachsprechen. Dann endlich ein Lebenszeichen ihrer Schwester aus Bedzin. Die zionistische Jugendbewegung betrieb dort einen Kibbuz. Renia wurde in den Kibbuz geschleust, hatte mit Sarah,

Zivia Lupetkin, Tosia Altmann und Frumka Plotnicka ein paar glückliche Monate. Die Mädchen malten sich ihr Leben in Palästina aus. Dann eine Nachricht von Yankeleh: Sie seien am Verhungern, ein Teil der Familie schon in Treblinka.

„Mein Herz wurde zu Stein“, so Renia in ihren Erinnerungen, 1945 in Palästina veröffentlicht.

Man raunte, in Lagern würden Menschen in Gaskammern erstickt. Ein polnischer Zugschaffner erzählte, er werde ein paar Stationen vor Treblinka immer von einem deutschen Schaffner abgelöst. Die Kibbuz-Leute schickten Postkarten an Juden in den USA und baten um Geld für den Kauf von Waffen. Sie schrieben in Codes: „Machonot und Avodar werden wohl kommen“ (hebräische Begriffe für Lager und Arbeit), „Pruetnitsky und Schitah wohnten bei mir“ (Pogrom und Zerstörung).

Am Tag, als der Kibbuz ins Bedziner Ghetto übersiedeln musste, sah Renia einen Uniformierten, der einer Mutter das Baby aus den Armen riss, es an den Füßen hielt und seinen Kopf gegen eine Mauer schlug. Das Bild wurde Renia ein Leben lang nicht mehr los.

Alle Kibbuz-Mitglieder waren entschlossen, zu kämpfen. Aus Selbstachtung. Es gelang ihnen, eine Deportation zu stören, indem sich alle Kinder auf ein Signal hin mit gestohlenen Polizeikappen unter die Menge mischten. Im Trubel entkamen 2000 Menschen.

Sie richteten Werkstätten ein, experimentierten mit Sprengstoff. „Wir müssen dem Volk die Augen öffnen, es daran hindern, sich mit Opium zu betäuben, und ihm die nackte Realität zeigen“, trug Chajka Klinger in ihr Tagebuch ein.

Rebellion lag in der Luft. In Lubliniec in Oberschlesien waren im Herbst 1942 mehrere Dutzend Frauen auf den Marktplatz getrieben und gezwungen worden, sich auszuziehen. Auf einen Schrei hin hatten sie sich auf die Soldaten gestürzt, gekratzt und gebissen, sie mit Steinen beworfen. Die Meldung erreichte die New Yorker Öffentlichkeit: „Jüdischer Widerstand in Polen: Frauen trampeln Nazisoldaten nieder.“

Renia sollte gefälschte Papiere für ihre Kameradinnen in Bedzin besorgen. Eine Flucht aus einem Ghetto war riskant. Juden mit Gesichtszügen, die Nazi-Stereotypen entsprachen, zahlten oft viel Geld an Polen, die bereit waren, sie zu verstecken. Manche versuchten es mit einer neuen Identität, zogen in eine fremde Stadt. Frauen hatten es dabei leichter. Männer mussten bei Verdacht die Hosen herunterlassen. Plastische Chirurgen machten Beschneidungen rückgängig. Eine Gefahr waren sogenannte Schmalzowskis – Gauner, die Juden drohten, sie zu verraten, wenn sie nicht zahlten, und die von Frauen sexuelle Dienste erpressten.

Jüdische Mädchen pendelten zwischen den Ghettos, waren Rettungsanker und Geldboten, schmuggelten Waffen, übermittelten Nachrichten aus den Lagern. Immer ein falsches Lächeln auf den Lippen, sorglos wirken und flirten, das war ihre Tarnung. „Wir waren Schauspielerinnen in einem Stück, in dem es keine Pause gab“, so Chasia Bielicka. Kurierinnen waren bevorzugtes Ziel für Erpresser, bisweilen drohten sie einem Schmalzowski mit eisernen Nerven, sie würden zur Gestapo gehen.

„Jeder Schritt außerhalb des Stacheldrahts war wie ein Lauf durch einen Geschoßhagel, befand Gusta Davidson Draenger, die in Krakau tätig war, einem Zentrum des jüdischen Widerstands, obwohl es in der Stadt vor hochrangigen Nazis wimmelte. Mit ihrer eleganten Erscheinung mietete Gusta eine abgelegene Villa, die als Fälscherwerkstatt diente. Hela Schüpper kam ins Krakauer Ghetto mit zwei Brownings-Gewehren, eingenäht in ihrem Popelinemantel, und zwei Pistolen in der Handtasche.

Im Oktober 1942 wurde in Krakau ein Nazifeldwebel in einem Park erschossen, drei Kaffeehäuser wurden gestürmt. Es gab Anschläge auf den Hauptbahnhof in Krakau, Kaffeehäuser in Kielce, ein Filmtheater in Radom. Hela Schüpper zu einem Polen im Zug, der sich als Sympathisant der Partisanen zu erkennen gab: „Das war das Werk junger jüdischer Kämpfer. Falls Sie das Ende des Krieges noch erleben, berichten Sie bitte der Welt davon.“

Der Aufstand im Warschauer Ghetto war für den 22. Jänner 1943 geplant gewesen. Doch kurz zuvor war ein NS-Rollkommando ins Warschauer Ghetto eingedrungen. Vladka Meed gelangte in letzter Sekunde nach draußen, indem sie sich einer Arbeitsbrigade anschloss. Mit einer Skizze von Treblinka, versteckt im Schuh. Die Verbliebenen handelten überstürzt. Ein Rabbiner sprach ihnen den Segen: „Wenn wir euch noch haben, junge Juden, die kämpfen, wird es uns leichter fallen, zu sterben.“ Die Jungen kämpften vier Tage, so lange reichte die Munition. Ein SS-Kommandant wurde bei einer Selektion erschossen, ein anderer aus dem Fenster gestürzt, Frauen schütteten von oben kochendes Wasser auf die eindringenden Soldaten.

Im Februar 1943 bekamen auch die Bedziner Widerstandskämpfer Waffen. Sie lernten zu kämpfen mit Äxten, Hämmern, Granaten und Fäusten. Nachts bauten sie Bunker. Anordnungen des Judenrats verweigerten sie. Die Schwestern Frumka und Hantza Plotnicka sollten versuchen, ins Ausland zu kommen, um der Welt von der „barbarischen Abschlachtung der Juden“ zu berichten. Aus Warschau trafen dramatische Nachrichten ein. Idzia war enttarnt worden, an ihre Stelle trat Zosia, die Pistolen in Teddybären und Brotlaiben schmuggelte. Auch sie wurde gefasst. Dann Stille.

Am 20. April 1943 – an Hitlers Geburtstag – wollten die Nazis das Warschauer Ghetto endgültig liquidieren. Die ZOB hatte in der Zwischenzeit 50 Pistolen, Handgranaten, mehrere Kilo Sprengstoff organisiert. Sie bauten primitive Bomben, platzierten Minen unter den Eingängen zum Ghetto. Die ZOB übernahm anstelle des Judenrats die Führung im Ghetto. Sie räumten die Ghetto-Bank aus. Sie waren 500 Kämpfer, ein Drittel davon Frauen.

Im Sonnenaufgang des 20. April 1943 marschierten 2000 Nazis auf das Ghetto zu. Als sie den Haupteingang passierten, gingen Minen hoch. Die zweite Welle wurde mit Handgranaten empfangen. Ein Nazi starb als lodernde Fackel, viele blieben verletzt liegen, die erste Angriffswelle war gebrochen. Man hörte deutsche Stimmen: „Da kämpft eine Frau!“

NS-Kommandant Jürgen Stroop: „Diese Mädels waren keine menschlichen Wesen, vielleicht Göttinnen oder Teufelinnen. Sie schossen oft beidhändig – und aus der Nähe waren sie besonders gefährlich. Unter den Rock nach der versteckten Granate greifen und sie blitzschnell in die SS-Gruppe schleudern (…) Ich befahl, die Mädchen nicht gefangen zu nehmen, sie aus sicherer Entfernung mit der Maschinenpistole umzulegen.

Das Zentrum der Kämpfe war ein Haus, in dem sich der Bunker der ZOB befand – Schlafräume, Küche, Wohnzimmer und ein Salon, in dem Juden für die andere Seite „arisch“ zurechtgemacht wurden. Die einzelnen Räume waren nach Konzentrationslagern benannt. 300 Menschen waren hier untergebracht. Zu viele Menschen, wenig Sauerstoff. In der Nacht gingen sie nach draußen, um die schmerzenden Glieder zu bewegen.

Die Deutschen setzten Häuser in Brand, und der Himmel über dem Ghetto färbte sich rot. Während draußen vor den Mauern die Polen Karussell fuhren, „verbrannten wir bei lebendigem Leibe“, schilderte es Zivia, die zum Kommandostab der ZOB gehörte, nach dem Krieg. Sie beschlossen, durch die Kanalisation zu fliehen.

Zivia sprang als Erste in das dreckige Wasser. Geduckt wateten sie durch den Schleim. Manchmal standen ihnen die Exkremente bis zum Hals. Stunden ohne Trinkwasser. Und dann war der Lkw, der sie vom Ausstiegsloch wegbringen sollte, nicht da. Warten. Es bildete sich Methangas. Einer trank aus Verzweiflung das Abwasser. Dann ein Lichtstrahl, der Deckel hob sich, der Lkw war angekommen. 40 stinkende Menschen hatten es geschafft. „Unsere glühenden Augen waren das einzige Anzeichen dafür, dass wir noch lebten.“ (Zivia) Die anderen kamen nicht mehr durch. Die Nazis hatten alle Kanaldeckel versiegelt, das Wasser steigen lassen. Im Ghetto wurde noch eine Woche gekämpft.

Wenige Frauen überlebten. Lea Koren entkam durch die Kanalisation und wurde getötet, als sie zurückging, um Verwundete zu pflegen. Regina Fuden wurde draußen erwischt. Dvora Baran war als Erste aus dem Bunker gestiegen, streute Handgranaten, wurde getötet. Niuta Teitelbaum, blaue Augen, blonde Zöpfe, ging in das Büro eines Gestapo-Offiziers und erschoss ihn. Einen anderen Nazi-Oberen erledigte sie zu Hause in seinem Bett. Als Ärztin verkleidet erschoss sie Gestapobeamte im Krankenhaus. Nach ihr wurde steckbrieflich gesucht. Als sie festgenommen, gefoltert und hingerichtet wurde, war sie 25 Jahre alt.

Renia erlebte den Aufstand des Warschauer Ghettos von draußen, aus nächster Nähe. Flammen. Gellende Schreie. Deutsche Flugzeuge im Sturzflug, brennende Bomben auf das Ghetto. Renia: „Als wären zwei komplette Länder miteinander im Krieg.“ Sie sah Mütter ihre Kinder aus brennenden Häusern werfen. Männer sprangen vor in den Tod, um den Sturz ihrer Angehörigen abzufedern. Auf den Dächern jüdische Männer mit Maschinengewehren, Frauen mit Pistolen und Sprengstoff-Flaschen. Kinder mit Steinen und Eisenstangen. Wieder zurück im Zug nach Bedzin hörte sie die Leute reden: „Es müssen Polen zusammen mit den Juden kämpfen. Die Juden sind unmöglich imstande, einen so heldenhaften Kampf zu führen.“ Sie war stolz.

Der Aufstand in Warschau hatte alle elektrisiert. Sie dachten an Selbstmordeinsätze. In allen Ghettos wollte man dem Beispiel folgen. Fiebrige Versuche, an Waffen zu kommen. Revolver und Granaten aus deutschen Lagerhäusern, aus Fabriken, in denen Juden Zwangsarbeit leisteten, von Bauern, von eingeschlafenen Wachposten.

Den Waffentransport erledigten durchwegs Frauen. Hela Schüpper färbte sich die Haare hellblond, kleidete sich modisch. Handfeuerwaffen befestigte sie mit Klebeband auf der Haut, Munition steckte sie in die Tasche. Vladka Meed schmuggelte Metallfeilen ins Ghetto. Für die Fenstergitter in den Deportationszügen. Havka Folman und Tema Schneiderman schmuggelten Granaten in Menstruationsbinden. Chasia Bielicka zweigte als Hausmädchen bei einem SS-Mann Patronen ab.

Es war nicht leicht für Juden, einer Partisanenbrigade beizutreten. Juden galten nicht als kampffähig, Frauen schon gar nicht. Batalion schreibt, dass geschätzt 30.000 Juden in Partisanenbrigaden kämpften, meist als Juden unerkannt. Zehn Prozent von ihnen Frauen. Von Frauen wurde häufig Sex für Schutz verlangt. „Um tagsüber Frieden zu finden, musste ich in ein wenig „Unfrieden“ in der Nacht einwilligen, so eine jüdische Partisanin.

Vitka Kempner gelang es, einen Transportzug zu sprengen. 2000 Soldaten seien getötet worden, berichtete eine Untergrundzeitung. Als Vergeltung wurden 60 Bauern massakriert.

Nach dem Fall des Warschauer Ghettos sollte auch das Ghetto in Bedzin liquidiert werden. Die Kibbuz-Mitglieder gingen in den Bunker. Aus Chajkas Tagebuch: „Jeder ein Leib Brot und Wasser. Luft durch ein Loch. Urinieren in einen Eimer. Tagelang.“ Sie hörten die Nazis den Boden über ihnen mit Spitzhacken bearbeiten. Das Wasser ging aus. Junge Leute schliefen miteinander, zum letzten Mal. Sie wurden entdeckt. Einer, der sie mithilfe des Judenrats retten wollte und einen Deal einging, war von zwei Nazis begleitet worden.

Renia verlor damals fast den Verstand, erzählte sie später. Sie wusste nur, ihre Schwester war im Ghetto und die Deportation nach Auschwitz im Gang. Sie floh in den Wald, musste sich gegen Männer wehren.

Batalion konstatiert: „Sexuelle Gewalt gegen jüdische Frauen, Demütigung bis zur direkten Vergewaltigung, war weit verbreitet, doch wurden derartige Geschichten nach dem Krieg meist unter den Teppich gekehrt.“ Die Betroffenen schwiegen. Es gab geschätzt 500 Lagerbordelle, in denen jüdische Frauen als Sexsklavinnen arbeiteten. Auch Mitglieder des Judenrats missbrauchten ihre relative Machtstellung.

Renia war weiter Kurierin und flog bei einer Zugkontrolle auf. Sie leugnete, Jüdin zu sein, und wurde in ein Gefängnis für Politische verlegt. Sie wurde gefoltert. Sie beneidete die, die sterben durften. Ihr Kopf funktionierte nicht mehr richtig, Gedanken verwirrten sich. Sie litt unter einer sadistischen Wärterin, sehnte sich danach, erkannt zu werden „Damit irgendjemand es wusste.“ Dass sie Jüdin ist.

Auch in Vernichtungslagern gab es Widerstand. In Sobibor stahlen Frauen der SS-Wache Waffen und gaben sie an den Untergrund weiter. In Auschwitz warnte Mala Zimentbaum, die für die SS dolmetschen musste, Kranke vor bevorstehenden Selektionen. Im Juni 1944 floh sie, als Mann verkleidet, wurde gefasst und hingerichtet. Im Frauenlager gruben sie Tunnel, um Mädchen von der Selektion weg „in Sicherheit“ ins Arbeitslager zu schmuggeln. Dort überlebten sie in Kleidern von Verstorbenen.

Es gibt mehrere Berichte, wonach SS-Männer sich in perverser Form an jungen Mädchen vergingen. Die Frauen wehrten sich, indem sie trotz aller Schwäche gemeinsam schrien, wenn ein Mädchen weggezerrt werden sollte.

Anna Heilman war 14 Jahre alt, als sie mit ihrer Schwester Esther im September 1943 nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto nach Auschwitz gekommen war. Heilman war in einer Munitionsfabrik eingesetzt, stellte Zünder für Artilleriegeschosse her und hörte, dass das Sonderkommando einen Aufstand plane. Das waren jene Männer, welche die Leichen aus der Gaskammer holen mussten und in regelmäßigen Abständen selbst vergast wurden, damit niemand Zeugnis ablegen konnte. Ein Netzwerk von 30 Frauen stahl Pulver aus der Fabrik, schmuggelte Sprengstoff in Streichholzschachteln ins Lager. Roza Robota gab es weiter an die Männer des Sonderkommandos. Am 7. Oktober 1944 sprengten sie das Krematorium, töteten SS-Wachen, durchschnitten den Stacheldraht und flohen. Keiner schaffte es, alle wurden erschossen. Dutzende Frauen wurden verhört, geprügelt und am 6.  Jänner 1945 am Appellplatz aufgehängt. „Ein Trommelschlag, ein Stöhnen aus tausend Kehlen.“ Alle Insassinnen hatten antreten müssen.

Ich befahl, die Mädchen nicht gefangen zu nehmen, sie aus sicherer Entfernung mit der Maschinenpistole umzulegen.

Jürgen Stroop, NS-Kommandant

In der Haftanstalt Kattowitz rechnete Renia jeden Tag damit, nach Auschwitz deportiert zu werden. Ihre falsche Legende war löchrig geworden. Im November 1943 wurde ihr ein Brief ihrer Schwester zugesteckt. „Wir werden alles tun, um dich rauszuholen.“ Renia organisierte sich einen Platz in einem Arbeitskommando außerhalb des Gefängnisses, konnte kurz mit ihrer Schwester sprechen. „Es spielt keine Rolle, ob du scheiterst. Dein Leben ist so oder so in Gefahr.“ Die Flucht gelang. Ein Wachmann wurde mit Schnaps betrunken gemacht, und Renia lief um ihr Leben. Mit einem Fähnchen von Kleid und Hochsteckfrisur ging sie über die Berge – bis auf 1800 Meter hoch – in die Slowakei, von dort nach Ungarn und über den Landweg nach Palästina. Am 6. März 1944 traf Renia in Haifa ein. Ihre Schwester sah sie nie wieder. Sarah war den Nazis nicht entkommen. Auch Frumka, Hantze, Rivka, Lea, und Lonka waren tot.

Die Überlebenden waren nicht so glücklich wie sie es sich vorgestellt hatten. Nach wenigen Jahren fragte keiner mehr, was da gewesen war. Sie erzählten wenig, um ihren Kindern ein normales Aufwachsen zu ermöglichen.

Faye Schulman: „Die Befreiung war der Tiefpunkt meines Lebens. Nie im Leben war ich so einsam, so traurig. Nie hatte ich solches Verlangen nach den Eltern, den Freunden.“ Sie ging nach Kanada.

Zivia Lupetkin: „Wir standen betroffen und niedergeschlagen abseits, die einsamen Überreste unseres Volkes.“  Sie gründete mit ihrem Mann den Kibbuz der Ghetto-Kämpfer.

Chajka Klinger: „Es ist unmöglich, an einen neuen Baum anzuwachsen.“ Sie erhängte sich am 15. Jahrestag des Warschauer Aufstands.

Chasia Bielicka gründete in Lodz ein Kinderheim für jüdische Waisen. Später quälten sie Zweifel: „Hatten sie recht getan, die Kinder, die sich vor allem nach Stabilität sehnten, Teil einer Familie, nicht Teil eines Volkes sein wollten, zu entwurzeln?“

Renia starb vor wenigen Jahren. Lebhaft, im Mittelpunkt ihrer Familie, Verehrer bis ins hohe Alter. Unerschrocken.

Die Steven-Spielberg-Foundation plant eine Verfilmung dieser Geschichten.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling