Moskauer Militärparade am 9. Mai 2022: Beobachter sprechen von einem Sieges- und Opferkult.
History

Die russische Geschichtspolitik ist zum Kriegstreiber geworden

Kleingeredete Verbrechen Stalins, Imperiumsträume: Historikerkommissionen schwiegen höflich, während die russische Auslegung von Geschichte von Jahr zu Jahr ideologischer und absurder wurde.

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Für Gerhard Baumgartner, Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes, war am 18. März 2022 eine rote Linie überschritten. Der russische Überfall auf die Ukraine ging in die vierte Woche, und eben hatte er erfahren, dass eine 80-jährige Menschenrechtsaktivistin von "Memorial" vor einem Moskauer Richter stand, weil sie an einer Veranstaltung gegen den Krieg teilgenommen und ihn auch so benannt hatte: Krieg.

Baumgartner war schon lang aufgestoßen, dass bei Treffen der österreichisch-russischen Historikerkommission wie in einem diplomatischen Circle geredet wurde und nicht wie unter streitbaren Wissenschaftern. Er trat aus und forderte seine österreichischen Kollegen auf, es ihm gleichzutun.

Die Schriftführerin der Kommission, die Historikerin und Russland-Expertin, Barbara Stelzl-Marx, sagt im profilpodcast, man dürfe nicht alle Brücken abbrechen. Aber sie gesteht selbstkritisch ein: "Wir hätten die Zeichen der Zeit sehen müssen"-bei den Feiern zum 9. Mai; im Umgang mit Stalin-Opfern; bei der Beschwörung ewiger russischer Größe.

Die Kommission war im Jahr 2007 von der österreichischen Außenministerin Ursula Plassnik und ihrem Pendant, Sergej Lawrow, ins Leben gerufen worden. Das Ziel: Forschungs-und Studienaustausch, Zugang zu russischen Archiven. Ein gemeinsames Buchprojekt wurde verwirklicht.

Rückblickend war es vor allem akademische Begleitmusik für Geschäfte-billiges Gas und Öl. Irina Scherbakowa, die Initiatorin der Menschenrechtsorganisation "Memorial", die im Dezember 2021 in Russland verboten wurde, nennt solche Kommissionen (es gibt auch eine deutsch-russische Historikerkommission) eine "Attrappe".

Am 5. März gab sie ORF-Redakteurin Carola Sçhneider noch ein letztes Interview in Moskau und floh dann aus dem Land.

In der russischen Geschichtspolitik ist seit Jahren ein ideologischer Durchmarsch zu beobachten. Der Zerfall der Sowjetunion 1990/91 wurde als Betriebsunfall der Geschichte gesehen, Russland als historisch determiniertes Imperium, eine Weltmacht, die Ansprüche stellen könne und zu ihrem "natürlichen und einzig möglichen Zustand einer großen, wachsenden und Länder sammelnden Gemeinschaft" zurückkehren müsse, so Wladislav Surkow, ein verkrachter Künstler und Geschäftsmann, der bis 2020 einen offiziellen Beraterposten bei Putin innehatte.

Susan Stewart vom deutschen Thinktank "Stiftung Wissenschaft Politik" (SWP) hat die Stadien der Verhärtung in einer Studie analysiert. 2009 wurde in Moskau eine Kommission eingesetzt, die Geschichtsbilder "zum Schaden der Interessen Russlands" überwachte und gegensteuerte. Im November 2013 wurde die Ausstellung "Russland-Meine Geschichte" eröffnet, die in den folgenden Jahren bis in den letzten Winkel des großen Landes kam. Sie erreichte Millionen russischer Bürgerinnen und Bürger. Die Initiative dafür war von Bischof Tichon, Putins Beichtvater, ausgegangen. Finanziert wurde sie nach Recherchen von SWP von der Firma Norilsk Nickel, die drei russischen Oligarchen gehört: Wladimir Potanin, Oleg Deripaska und Roman Abramovich.

2014 wurde in Russland die "Rehabilitierung des Nazismus" verboten. In der Praxis kriminalisiert das neue Gesetz die Verbreitung von "wissentlich falscher Information über die Tätigkeiten der UdSSR während des Zweiten Weltkrieges", wobei staatliche Stellen entscheiden, was als richtig und falsch gilt.

2019 jährte sich der moralisch verwerfliche Hitler-Stalin-Pakt zum 80. Mal. Putin unternahm große Anstrengungen, dass an der bekannten Argumentation, die Sowjetunion hätte 1939 keine andere Wahl gehabt, sei vom Westen im Stich gelassen und in die Arme Hitlers getrieben worden, nicht gerüttelt werde. Eine Diskussion unter Historikern, ob dies wirklich so war, ist in Russland faktisch unmöglich.

Für sein Vaterland zu sterben. Darin liegen die tiefen Wurzeln unseres Patriotismus."

 

Wladimir Putin (2014)

Stalins Verbrechen, der Massenterror der 1930er-Jahre, wurden immer mehr in den Hintergrund gedrängt oder kleingeredet. Man habe Menschen nicht grundlos verfolgt, es sei immer etwas Reales dahintergestanden, so rechtfertigte der Chef des Inlandsgeheimdienstes Alexander Bortnikow im Jahr 2017 Stalins Terrorherrschaft. Dagegen legten einzelne Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften Protest ein.

Die russische Geschichtspolitik erfasst auch Gedenkstätten in Weißrussland. Als nach jahrelanger Beharrlichkeit einer Privatinitiative von Waldtraud Barton endlich ein Denkmal für ermordete österreichische Juden und Jüdinnen in einem Wäldchen in der Nähe der weißrussischen Hauptstadt Minsk verwirklicht wurde, stellte sich heraus, dass auch der Holocaust von russischen Geschichtsmythen und Tabus überlagert und zugedeckt wird.

Mehr als 13.000 deportierte jüdische Österreicher waren 1942 in Maly Trostinez von Einheiten der SS und des Sicherheitsdiensts nach Ankunft erschossen worden. Bundespräsident Alexander Van der Bellen reiste 2018 zur Grundsteinlegung an, Kanzler Sebastian Kurz ein Jahr darauf zur Einweihung. Doch Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko pöbelte zwei Jahre später: "Diese Reue ist praktisch nichts wert",solange Sanktionen gegen ihn in Kraft seien. Ein Massengrab mit vermutlich 100.000 Stalinopfern ganz in der Nähe von Maly Trostinez ist unter einer Autobahntrasse verschwunden.

Im Frühjahr 2020 wurde ein neuer Passus in der russischen Verfassung verankert: "Die Russische Föderation ehrt die Erinnerung an die Verteidiger des Vaterlandes, verteidigt die historische Wahrheit. Es ist nicht erlaubt, die Bedeutung der Heldentaten des Volkes bei der Verteidigung des Vaterlandes zu schmälern."

Die Feiern zum 9. Mai-des Sieges der Roten Armee über Hitlerdeutschland-mit einer großen Militärparade, bei der auch Interkontinentalraketen vorgeführt werden, geraten indes von Jahr zu Jahr martialischer. Beobachter sprechen von einem Siegeskult, der vermischt mit einer quasi Heiligenverehrung der Opfer eine gefährliche Doppelbotschaft verbreitet: Wir können wieder siegen, und der Tod macht uns nichts aus.

Oder in den Worten Putins aus dem Jahr 2014 "Der Tod-was ist das? Er ist furchtbar! Nein, es stellt sich heraus, dass in der Welt selbst der Tod schön ist. Was heißt, in der Welt'? Das heißt, für seine Freunde, sein Volk, modern ausgedrückt, für sein Vaterland zu sterben. Darin liegen die tiefen Wurzeln unseres Patriotismus."

Fürwahr eine Einstimmung auf den totalen Krieg.

 

 

Christa   Zöchling

Christa Zöchling