profil-Redakteurin Edith Meinhart

Edith Meinhart: Lasst Sie wählen!

Eine Million Ausländer lebt im Land, darf es aber nicht mitgestalten. Das schadet der Demokratie - und letztlich auch den Einheimischen.

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Es gibt Ecken in Wien, bei denen der Vater der österreichischen Bundesverfassung die Brauen streng hochziehen würde. Nicht der äußere Zustand der Häuser, sondern ihr Inneres würde Hans Kelsen, den Verfasser der politischen Schrift "Vom Wesen und Wert der Demokratie" (1920), wohl verdrießen. Dutzende Menschen im besten Wahlalter leben hier, aber nur die Hälfte darf wählen.

Von diesen Häusern gibt es immer mehr. Im 15. Wiener Gemeindebezirk, dem Stadtteil mit dem höchsten Ausländeranteil, haben 40,5 Prozent der Bevölkerung politisch keine Stimme. In ganz Wien sind es 27,5 Prozent, bundesweit 13,4 Prozent. Wenn am 4. Dezember der Bundespräsident gewählt wird, bleibt fast eine Million Menschen ausgeschlossen (Stand: Jänner 2016, Erwachsene über 16 mit Hauptwohnsitz).

Darüber gäbe es kein Wort zu verlieren, wären sie nur ein paar Monate im Land. Das Gros aber lebt seit Jahren hier. Die Bevölkerung wächst, das Wahlvolk schrumpft: Für die Demokratie bedeutet das nichts Gutes. Wer den Gesetzen eines Staates unterworfen ist, sollte tunlichst auch an ihrer Entstehung mitwirken. Das Volk muss über sich selbst herrschen dürfen. Bleibt ein erheblicher Teil ausgeklammert, beginnt die Herrschaft über andere. Kein Politiker muss sich um die stimmlosen Menschen bemühen, man kann auf ihrem Rücken populistische Spielchen treiben - sie werden sich nie in einer Wahlkabine dagegen wehren. Das Parlament sollte einen Querschnitt der Bevölkerung widerspiegeln. Ist das nicht mehr der Fall, haben den Schaden alle. Warum? Einwanderer ohne Stimmrecht sind überproportional jünger, männlich, leben eher in Städten und dort in eher armen Gegenden, hat der Politikwissenschafter Gerd Valchars erforscht. Jeder, der eines dieser Merkmale teilt, zahlt drauf. Zum Beispiel die Jungen: 22 Prozent der Wiener Bevölkerung sind über 60, bei den Wahlberechtigten aber sind es 31 Prozent.

Vor 100 Jahren wurden Frauen, die für ihr Stimmrecht auf die Straße gingen, verprügelt. Zu groß war die Angst, sie könnten eigenständige politische Auffassungen entwickeln. Die Debatte flammte erneut auf, als es um die Frage ging, wie alt man sein muss, um sich politisch äußern zu können. 24, hieß es bei der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, mittlerweile sind wir bei 16 angelangt.

Springen wir aus Angst vor Fremden auf einen autoritären Zug auf, oder vertrauen wir der Demokratie und hören auf, eine Million Menschen einfach zu ignorieren?

Zugewanderte Muslime, die Religion für das Wichtigste im Leben und Frauen für zweitklassige Lebewesen halten, verursachen ein mulmiges Gefühl. Würden sie das Land weniger liberal machen, die Säkularisierung zurückdrehen, auf Rechten von Frauen und Minderheiten herumtrampeln? Die Frage ist legitim. Männer, die sich vor 100 Jahren gegen das Frauenwahlrecht stemmten, fürchteten auch, ihre Welt könnte aus den Fugen geraten. Wie recht sie hatten!

Es gibt keine verlässlichen Daten, wie Ausländer wählen würden. Entwarnung ist durchaus angesagt: Anders als vor 100 Jahren gibt es heute rote Linien des Menschenrechts auf europäischer und UN-Ebene, die kein nationales Parlament übertreten kann. Der symbolisch aufgeladene Konflikt, ob Einwanderer nach schicklicher Wartezeit mitreden dürfen, spitzt sich deshalb auf eine grundsätzliche Entscheidung zu: Springen wir aus Angst vor Fremden auf einen autoritären Zug auf, oder vertrauen wir der Demokratie und hören auf, eine Million Menschen einfach zu ignorieren? Auf kommunaler Ebene ist das Wahlrecht bereits von der Staatsbürgerschaft abgekoppelt, zumindest für EU-Bürger. Niemand fragt sie, ob sie die sprachlichen und landeskundlichen Kenntnisse für die Wahl eines Gemeinderats mitbringen. Warum traut man etwa einem polnischen Bauarbeiter diese Mündigkeit zu, seinem bosnischen Kollegen hingegen nicht?

Österreich preist in Wertebroschüren für Flüchtlinge Wesen und Wert der Demokratie in den höchsten Tönen und gehört gleichzeitig europaweit zu jenen Ländern, die bei Einbürgerungen besonders strenge Maßstäbe anlegen. Die finanziellen Vorgaben sind so rigide, dass zwei Drittel der österreichischen Arbeiterinnen und mehr als ein Drittel ihrer männlichen Kollegen sie nicht erfüllen könnten. "Es ist bei uns ziemlich nett, aber du musst dich verdammt anstrengen, um dazuzugehören", lautet die doppelbödige Botschaft. Soll sie erzieherisch wirken? Den Nationalstolz der Einheimischen befeuern, die etwas so Kostbares wie die Staatsbürgerschaft in die Wiege gelegt bekommen? Sie mögen den Staat irgendwann verlassen, er verlässt sie nie. Der erwähnte bosnische Bauarbeiter hat selbst nach fünf Jahren in seiner burgenländischen Gemeinde nichts mitzureden, die Enkelin eines Auswanderers in Chicago ist per Briefwahl immer noch dabei. Auch dieses Prinzip gerät allmählich zur Farce.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges