Interview

Flüchtlingskoordinator Achrainer: Ukraine-Vertriebene im Wartedilemma

Zehntausende flüchteten aus der Ukraine nach Österreich. Wie geht es ihnen? Was haben sie vor? BBU-Chef Andreas Achrainer weiß es.

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Wie geht es den ukrainischen Vertriebenen?
Achrainer
Je länger der Krieg dauert, umso drängender wird die Entscheidung: Möchte man in Österreich bleiben oder wieder nach Hause? Wir nennen das Wartedilemma.
Es geht für viele nicht nach vor und nicht zurück. Was brauchen die Menschen am meisten?
Achrainer
Vor allem eine Perspektive. Positiv sehe ich, dass der Vertriebenenstatus bis zum März 2025 gesichert ist. Die EU-Richtlinie sieht keine weitere Verlängerungsmöglichkeit vor, deshalb ist es jedenfalls notwendig, auf europäischer oder nationaler Ebene eine Nachfolgelösung zu finden.
Allerdings stehen 2024 in vielen EU-Ländern wichtige Wahlen an, auch in Österreich. Sind da Verbesserungen für die ukrainischen Flüchtlinge möglich?
Achrainer
Man muss etwas tun. Aus Sicht des Flüchtlingskoordinators ist wichtig, dass man die Zeit gut nützt. Die Menschen wollen arbeiten. Österreich hat den Zugang zum Arbeitsmarkt ohne Bewilligungsverfahren geschaffen.
Rund 5000 sind beim AMS vorgemerkt. Das ist noch viel Luft nach oben. Wie hoch schätzen Sie das Potenzial ein?
Achrainer
Laut Melderegister sind rund 70.000 Ukrainerinnen und Ukrainer im Land. Rund 41.000 sind in der Grundversorgung, wo nicht nur die Schutzbedürftigkeit, sondern auch die Hilfsbedürftigkeit zählt, das heißt, dass man so gut wie nichts hat. Davon muss man rund 13.000 Kinder und bereits pensionsberechtigte Personen abziehen. Dann bleiben immer noch einige Tausend Menschen im erwerbsfähigen Alter übrig.

Die Grundversorgung ist für das Ankommen gedacht. Wenn ich nichts oder nur wenig dazuverdienen darf, stehe ich irgendwann an. Aus dieser Falle müssen die Menschen raus. Das ist eine Inaktivitätsfalle. 

Andreas Achrainer

Flüchtlingskoordinator und BBU-Chef

Die Grundversorgung ist sehr niedrig. Warum bleiben trotzdem so viele drin?
Achrainer
Ein Fallstrick ist die Zuverdienstgrenze. Die Menschen haben Angst, die Unterstützung und die Wohnung zu verlieren, wenn sie dazu verdienen. Es gibt da bereits ein besseres System, in dem die Unterstützungsleistungen proportional zum Zuverdienst abnehmen, aber in Niederösterreich, Kärnten und Salzburg ist das noch nicht einmal umgesetzt. Dort verliert man sofort alles, wenn man 110 Euro verdient. Den Menschen Klarheit zu geben, ist vor diesem Hintergrund schwierig.
Die nächste Hürde in der Grundversorgung ist die Unterkunft. Wer zu viel verdient, kann sofort rausfliegen. Ist das sinnvoll?
Achrainer
Für den Übergang in ein selbstbestimmtes Leben brauche ich Zeit und Geld, etwa für eine Kaution. Da wäre zumindest eine Übergangsfrist wichtig, damit man nicht sofort das Zimmer verliert, das man sich oft mit ein, zwei anderen Menschen teilt. Mit Stichtag 20. November wohnen rund 26.000 Menschen privat, aber immerhin 15.000 in organisierten Quartieren.
Sehr viele von ihnen sind Frauen mit Kindern. Selbst wenn sie Arbeit finden, wissen sie oft nicht, wohin mit den Kindern.
Achrainer
Kinderbetreuung ist sicher ein Thema, wir haben aber auch Probleme mit der Mobilität. Wir haben viel Zeit investiert, um zumindest regional sicherzustellen, dass man zu einem Deutschkurs, zur Behörde oder zum Arzt fahren kann. Bewerbungsgespräche aber sind nicht inkludiert. Unser Zugang wäre ein günstiges, regionales Ticket. Vorarlberg hat eines nicht nur für Ukrainerinnen oder Asylberechtigte, sondern für alle, die im Bundesland leben und ein bestimmtes Einkommen nicht überschreiten.
Es kommen ziemlich viele Hürden zusammen.
Achrainer
Die Grundversorgung ist für das Ankommen gedacht. Wenn ich nichts oder nur wenig dazuverdienen darf, stehe ich irgendwann an. Aus dieser Falle müssen die Menschen raus. Das ist eine Inaktivitätsfalle. Wenn ich will, dass sie in die Aktivität kommen, müssen sie mit potenziellen Arbeitgebern Kontakt aufnehmen und etwas dazu verdienen können, ohne sofort die Grundleistung zu verlieren. Und wir müssen die Nostrifzierungsverfahren kürzer und auch billiger machen. Die Kosten dafür gehen in mehrere Tausend Euro.
Wie sieht es mit den Sprachkenntnissen aus?
Achrainer
Da wurden sowohl über den Österreichischen Integrationsfonds als auch die Bundesländer viele Maßnahmen gesetzt. Aber viele Arbeitgeber wollen zumindest ein Niveau von B1 haben. Das Thema ist allerdings breiter. Auch hier geht es um Mobilität. Wenn im Westen Fachkräfte fehlen, müssen Arbeitgeber vielleicht auch nachdenken, wie sie Quartiere und Kinderbetreuung zur Verfügung stellen können.
Ukrainerinnen sind fast ausschließlich auf akademische Laufbahnen fokussiert. Sollte man versuchen, ihnen auch Lehrberufe schmackhaft zu machen?
Achrainer
Man muss immer schauen, wer nach Österreich gekommen ist, das sind viele gut ausgebildete Menschen. Die Ausbildungswege in der Ukraine unterschieden sich teilweise sehr. Da sind wir wieder bei der Perspektive: Wenn ich für das gute, duale System werbe, brauche ich einen Lehrherrn, der natürlich Planungssicherheit möchte, und einen jungen Menschen, der sich darauf einlässt. Auch das geht leichter, wenn man Planungssicherheit hat. Es endet immer am gleichen Punkt.
Stellen sich Vertriebene nicht längst darauf ein, zu bleiben?
Achrainer
Wenn man sich die verschiedenen Studien anschaut, von der Oecd über IOM bis zur Erhebung von Judith Kohlenberger, zieht sich eines durch: Ungefähr die Hälfte will bleiben. Gehen wir von rund 70.000 ukrainischen Vertriebenen im Land aus, plus einem Nachzug von Männern, kommen wir auf 35.000 Menschen. Das ist keine geringe Zahl. Es kann auch mehr werden.
Eine ständige Klage betrifft die Qualität der Informationen. Warum ist es nach fast zwei Jahren immer noch so schwierig, klare, korrekte Auskünfte zu erhalten?
Achrainer
Ich habe es als BBU-Geschäftsführer geschafft, eine sehr umfangreiche Homepage für Ukrainerinnen aufzusetzen. Aber wir haben schnell gemerkt, dass das nicht das Kommunikationsmittel Nummer eins ist. Wir sind über die Telegram-Gruppen in die Communities hineingekommen, wo auch viele Beratungsstellen vertreten sind. Wir sind so etwas wie eine zentrale Plattform. Als Rat bleibt oft nur übrig, sich an die Grundversorgungsstelle des Landes zu wenden. Die einen rechnen die Pension aus der Ukraine hinein, die anderen nicht – Grundversorgung für Ukrainerinnen ist Landessache, und deshalb können nur die Länder definitive Informationen geben.
Anders als bei früheren Flüchtlingsgruppen sind unter den Ukrainern und Ukrainerinnen zahlreiche Ältere, Kranke, Behinderte. Viele werden nie auf den Arbeitsmarkt kommen. Was ist mit ihnen?
Achrainer
Allein die über 65-Jährigen sind zwischen 6000 und 7000 Personen. Wir haben aber keine Zahl, wie groß die vulnerablen Gruppen sind. Bisher ist es uns immer noch gelungen, Fälle einzeln zu lösen. Aber das ist meist nur mit einem Nachsichtverfahren möglich. In den Chancengleichheits- und Behindertengesetzen der Bundesländer gibt es keine einheitliche Regelung. Man hat keinen Rechtsanspruch auf einen Pflegeplatz. Ausjudiziert ist in einem konkreten Fall bisher nur, dass jemand mit Vertriebenenstatus Anspruch auf Pflegegeld hat.
Wieviele Ukrainerinnen und Ukrainer kommen noch in Österreich an?
Achrainer
Wir haben heuer 84.000 blaue Karten ausgestellt. Im August sind 1.500 gekommen, im September fast 1.700, im Oktober 1.607, im November 1.200. Ungefähr so viele werden auch wieder gehen, weil die Zahl laut Melderegister relativ stabil bleibt.
Je länger der Krieg dauert, desto mehr Männer kommen, verstecken sich aber ein wenig vor der eigenen Community, aus Scham, weil viele andere noch kämpfen. Merken Sie das in der Grundversorgung?
Achrainer
Von den rund 70.000 in Österreich gemeldeten Ukrainern sind ein Drittel männlich, darunter sind viele Kinder, Ältere und Familienväter mit mindestens drei Kindern. Aber es liegt nicht an uns, zu beurteilen, warum Männer im Land sind. Sie haben von Österreich nichts zu befürchten und werden genauso behandelt, wie alle anderen Vertriebenen auch.
Was ist aus Ihrer Sicht bis heute gelungen?
Achrainer
Es ist nicht schwarz-weiß. Österreich braucht sich nicht zu verstecken mit dem, was man gemacht hat: Kinderbetreuungsgeld, Familienbeihilfe, Aufrufe, private Quartiere zur Verfügung zu stellen. Außerdem versorgen wir viele chronisch Kranke und Verletzte. Wir haben beispielsweise Gehörlose aus einem ukrainischen Heim in Oberösterreich untergebracht. Das St. Anna Kinderspital in Wien hat viele krebskranke Kinder übernommen. Es wird oft übersehen, dass die Gesundheitsversorgung von Anfang an gesichert war. Nicht nur in schwerwiegenden Fällen, man konnte auch niederschwellig helfen.
Österreich beteiligt sich am europäischen Medevac-Programm. Wo stehen wir da?
Achrainer
Bundeskanzler Karl Nehammer hat 100 Plätze ausgelobt. Es geht um jene Personen, die am meisten die Hilfe brauchen, oft Frauen und Kinder, die Prothesen bekommen, schwerste Verletzungen haben, wie beispielsweise die drei Mädchen, die am ganzen Körper verbrannt sind, nachdem der Hubschrauber mit dem Innenminister an Bord auf ihren Kindergarten abgestürzt ist. Für sie haben wir im AKH Wien und in Linz Spezialbetten organisiert. Zwei sind mittlerweile in die Westukraine zurückgekehrt. In Summe haben wir 58 Patienten und 44 Begleitpersonen nach Österreich gebracht. Auf diese medizinische und organisatorische Hilfeleistung können wir stolz sein.
Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges