Sebastian Kurz an der mazedonisch-griechischen Grenze im Februar 2017
Im Wendekreis des Stacheldrahts

Flüchtlingspolitik bei der Nationalratswahl: Im Wendekreis des Stacheldrahts

Was hat die Flüchtlingskrise bloß aus uns gemacht? Edith Meinhart über eine Nationalratswahl, in der es auch dann um Ausländer ging, wenn von ihnen nicht die Rede war.

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Jede Sekunde auf Sendung ist kostbar, selbst in einem Wahlkampf, der so viele Fernsehdebatten und Elefantenrunden bot wie keiner vor ihm. Die Sekundenzählerei der Austria-Presse-Agentur-Tochter DeFacto ist so amüsant wie aufschlussreich. Migration und Asyl beherrschten die TV-Arenen. Man hatte es geahnt, nun war es empirisch belegt: 9822 Sekunden lang hielten sich die Spitzenkandidaten mit dem Thema Nummer eins auf; vergleichsweise kurz kam daneben die Steuerpolitik (8076 Sekunden) oder die Frage, wer mit wem nach der Wahl regieren wird (6249 Sekunden).

Die große Fluchtwelle ist zwei Jahre her; die Zahl der Asylanträge sank; der angekündigte Notstand blieb aus. Und doch wirft die Flüchtlingskrise bis heute ihre langen Schatten. In der Zuwanderungspolitik rückte das gesamte Parteienspektrum nach rechts - nicht nur in Österreich, dem Land am ehemaligen Eisernen Vorhang, auf das in Frankreich, in den Niederlanden oder in Deutschland nun viele schauen, die sich eine Antwort auf die Frage erhofften: Kann man rechts mit rechts bekämpfen?

Man muss nicht so weit gehen wie der bulgarische Politikwissenschafter Ivan Krastev, der in seinem Essay "Europadämmerung“ die Wirkungen der Flüchtlingskrise auf Europa mit den Folgen des 11. September auf Amerika vergleicht. Dass sie die Lage auf dem Kontinent nachhaltig veränderte, steht außer Streit. Anders als Touristen, die Geld ins Land bringen, die Bevölkerung nicht mit ihren Problemen behelligen und verlässlich wieder gehen, verkörpern Flüchtlinge die bedrohliche Seite der Globalisierung. Mit ihnen wird das Elend im Rest der Welt zum Greifen nahe.

Das trifft Österreich wie auch andere westliche Gesellschaften in Zeiten schwindender Zuversicht und wachsender Ungleichheiten. Europa altert, der Sozialstaat steht auf dem Prüfstand; das Gros der Menschen glaubt nicht mehr, dass es für ihre Kinder aufwärts geht. Die Angst zu beschwören, dass sich mit den Flüchtlingen der Aufstieg nicht mehr ausgeht, war in der Vergangenheit die Spezialität der FPÖ: Sozialstaat für unsere Leute, keine Kinderbeihilfe ins Ausland. Auf diesem Terrain erwuchs Strache mit dem im Mai angetretenen neuen ÖVP-Parteichef inzwischen überragende Konkurrenz. Einen Stopp der Zuwanderung und - nach dem Vorbild des schwarz-blau regierten Oberösterreich - anerkannten Flüchtlingen die Mindestsicherung kürzen, das will auch Sebastian Kurz.

Westbahnhof Wien im September 2015

Laut einem von der Wochenzeitung "Falter“ veröffentlichten Strategiepapier aus dem Jahr 2016 hatte Kurz sich vorgenommen, Strache nachzueifern und eine von Verunsicherung, Statusängsten und Verdrossenheit geprägte Stimmung zu bedienen, dabei aber manierlicher aufzutreten. Rechts soll kein Platz mehr bleiben: Mit dieser Strategie hatte sich in Bayern die CSU unter Franz-Josef Strauß einst stabile Mehrheiten gesichert. In TV-Auftritten vollführte Kurz das Kunststück, von nahezu jedem Thema aus - ob Kindergärten, Steuerfragen oder Mindestsicherung - ins Ausländerthema zu köpfeln, was den Politikanalysten Peter Filzmaier zu der launigen Bemerkung hinriss: "Und wenn es um Verkehrspolitik ginge, würde er sagen, das eigentliche Problem sind Burka-Trägerinnen, die in der zweiten Fahrspur vor islamischen Kindergärten parken.“

Das Leitthema des Wahlkampfs war ganz nach dem Geschmack von Rechtspopulisten

Vergeblich versuchte der SPÖ-Kanzler, Umverteilung oder gerechte Besteuerung aufs Tapet zu bringen. Die ÖVP wolle nur über Flüchtlinge reden, beschwerte Christian Kern sich manchmal. Am Ende mussten sich alle Spitzenkandidaten immer wieder zu illegaler Migration und Grenzschutz erklären, also im weitesten Sinn zur Frage, wie verlorengegangene Kontrolle zurückzuholen sei. Das Leitthema des Wahlkampfs war ganz nach dem Geschmack von Rechtspopulisten. Stimmungsmache gegenüber Zuwanderern und dem Islam wurde nun auch im bürgerlichen Lager endgültig salonfähig. Kurz gefiel sich in der Rolle des zunächst unverstandenen, letztlich aber siegreichen Kämpfers für die Schließung der Westbalkanroute. Natürlich waren dafür Allianzen und Verbündete nötig gewesen, öffentlich aber sagt er: "Ich habe die Balkanroute geschlossen“ - als könnte hier einer alleine am großen Rad drehen. Die Botschaft ist Balsam für alle, denen die dunkelhäutigen Männer nicht aus dem Kopf gehen, die im Oktober 2015 im steirischen Spielfeld an ein paar hilflosen Polizisten vorbei über die Grenze rannten. Oder die Berichte von den massenhaften sexuellen Belästigungen von Frauen in der Silvesternacht in Köln.

Neben Kurz’ harten Positionen - etwa: Migranten stoppen und in ihre Länder zurückbringen - hatte Strache Mühe, sich zu behaupten: "Es ist nicht gelungen, die Balkanroute zu schließen. Im ersten Halbjahr 2017 kamen noch 20.000 durch“, warf er trotzig ein. Kurz parierte: "20.000 pro Halbjahr sind mir lieber als 20.000 innerhalb von 36 Stunden.“ Tatsächlich war in der Nacht auf den 10. März 2016 der Weg von Griechenland über den Balkan nach Österreich abgeriegelt. Rund eine Woche später verkündete die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel das Abkommen mit der Türkei über die Rücknahme von Flüchtlingen. Seither wogt der kleinliche politische Streit, wer von den beiden mehr getan habe, um die Richtung Europa strömenden Menschen aufzuhalten: der österreichische Außenminister oder die deutsche Kanzlerin. Migrationsexperten meinen, die Maßnahmen wirken zusammen. Die Routen der Schlepper führten seither jedenfalls vermehrt über das Mittelmeer. Längst verhandelt die italienische Regierung hinter den Kulissen mit Stammesführern in Libyen, um sie - notfalls mit Geld - davon abzuhalten, Flüchtlinge in seeuntüchtigen Schlauchbooten Richtung Europa loszuschicken. Kurz würde auch hier gerne den Retter in der Not spielen: "Mein Ziel ist es nun, dass die Mittelmeerroute geschlossen wird.“

Migranten entscheiden über das Schicksal des europäischen Liberalismus

Migranten sind die Akteure, die über das Schicksal des europäischen Liberalismus entscheiden, sagt der Politikwissenschafter Krastev. Seinem Befund liegt ein bestechender Gedanke zugrunde: Nicht die Massen geraten heute in Bewegung, sondern immer mehr Einzelne und Familien, die um einer besseren Zukunft willen das Land wechseln, statt ihre Regierung zum Teufel zu jagen. Menschen brechen nicht nur auf, weil sie vor Hunger und Krieg flüchten, sondern auch, weil sie ein bisschen Geld, Bildung und ein Handy haben, das sie in die Lage versetzt, zu vergleichen, um wie viel besser man anderswo lebt. Wie alle Revolutionen hat auch diese das gefährliche Potenzial, eine Gegenrevolution zu entfesseln. Bedrohte Mehrheiten, "die alles haben und deshalb alles fürchten“, könnten in Europa zu einer starken illiberalen Kraft heranwachsen und einen neuen Populismus hervorbringen, der sich weniger an die Verlierer von gestern als an die voraussichtlichen Verlierer von morgen richte und den europäischen Mainstream verändere, meint Krastev. Nicht das, was Extremisten von sich geben, bedrohe am Ende das liberale, weltoffene Europa, sondern das, was Vertreter der politischen Mitte nicht mehr sagen, nämlich dass Vielfalt gut ist für die Gesellschaft.

Flüchtlinge in Spielfeld im Oktober 2015

Vielleicht vermittelten die Wochen vor der Nationalratswahl einen kleinen Vorgeschmack darauf. Die Positionen von SPÖ-Kanzler Christian Kern zu Einwanderung und Asyl blieben zwar oft eher vage, Reizwörter der Rechtspopulisten blinkten aber auch bei ihm ständig auf: lückenloser Grenzschutz, Polizei aufstocken, Sicherheitsgefühl stärken. Vor wenigen Wochen postete der Bundeskanzler das Video "Kern unterwegs am Stammtisch“. Darin macht eine Steirerin ihrem Unmut über Burkas Luft, der Kanzler beruhigt die Frau mit der "guten Nachricht“, sie seien nun verboten, und erntet dafür ein begeistertes "Super!“. Der volksnahe Ausflug sorgte für Irritationen, auch in den Reihen der eigenen Funktionäre. Die FPÖ hatte seit jeher ein Burka-Verbot gefordert, Kurz brachte das Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz auf den Weg, Kern pries es als Errungenschaft.

So viel Gedränge im rechten Eck war noch nie

So viel Gedränge im rechten Eck war noch nie. Die FPÖ fühlte sich bemüßigt, ihre Wähler mit "Vordenker statt Spätzünder“-Plakaten daran zu erinnern, woher der ideologische Wind ursprünglich wehte.

Für das geeinte Europa wurde die Flüchtlingskrise zu einer Zerreißprobe, wobei noch nicht klar ist, wie sie ausgehen wird. Dass die Union zerfallen könnte wie einst die Habsburgermonarchie oder das Sowjetreich, erschien lange Zeit völlig undenkbar. Inzwischen ist selbst das nicht mehr ausgeschlossen. Für den Pessimisten Krastev ist es angesichts der Identitätskrise der westlichen Gesellschaften und der Wahlerfolge der zornigen Populisten in vielen Ländern fast schon ausgemacht. Europa stand für die Idee der Überwindung des Nationalismus. Die Flüchtlingskrise reaktivierte alte nationalstaatliche Loyalitäten; vermeintlich zugeschüttete Gräben zwischen dem Westen und dem ehemaligen Ostblock rissen erneut auf. Für viele Menschen geht es nicht mehr um das Große und Ganze, sondern um den Schutz ihrer eigenen Gemeinschaft. Offene Grenzen, einst das Sinnbild grenzenloser Freiheit, stehen nun für Kontrollverlust und ins Wanken geratene Ordnungen.

Das löst moralische Panik aus, spaltet die Bevölkerung, Familien und Freunde. Bereits 2016 sank die Zahl der zum Verfahren zugelassenen Asylwerber auf 36.030 und damit knapp unter die von der Regierung festgesetzte "Obergrenze” von 37.500. Heute noch finden sich im Land Freiwillige, die mit syrischen Familien Deutsch lernen und jungen Afghanen helfen, eine Lehrstelle zu finden. Aber ihr Engagement zeitigt politisch keinen Widerhall. Jeder Terroranschlag treibt den Keil tiefer in die Gesellschaft. Werden sich die Hilfsbereiten irgendwann fragen lassen müssen, warum sie auf der Seite jener stehen, die islamistischen Terror bringen und den Sozialstaat gefährden?

Die Flüchtlingskrise hat die Grenzen zwischen links und rechts verwischt

Angeblich hat die Flüchtlingskrise die traditionellen Grenzen zwischen links und rechts verwischt. In Wahrheit ist eine neue dazugekommen, jene zwischen Kosmopoliten, die sich überall zu Hause fühlen, und ihren bodenständigen Zeitgenossen, deren Identität an einen Ort gebunden ist. "Kärnten wird einsprachig“, inserierte 2006 der damalige Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider in ihre Richtung. So klingen auch die Versprechen jener, die für sich beanspruchen, die Ängste der Menschen ernst zu nehmen und das "wahre Volk“ zu vertreten, das keine Fremdsprachen beherrscht und nirgendwo anders leben möchte. Das Kurz-Mantra "Ich habe die Balkan-Route geschlossen“ ist wie für sie gemacht. Da die Welten kaum noch zu überbrücken sind, zog Kurz es vor, sich Anfang September 2015 am Wiener Westbahnhof nicht unter die Helfer zu mischen. Tausende Syrer, Afghanen, Iraker und Somali waren hier gelandet, die meisten von ihnen stiegen bald in einen Zug nach Deutschland. Wie in einem kürzlich erschienenen Buch von Christian Ultsch, Thomas Prior und Rainer Nowak ("Flucht. Wie der Staat die Kontrolle verlor“) nachzulesen ist, hatte ein Kabinettsmitarbeiter befunden, dass ein solcher Auftritt "nicht zur restriktiven Linie passe, die man in der Asylpolitik generell vertrete“. Gäbe es Bilder, hätte FPÖ-Chef Strache sie dem selbst ernannten Herrscher über die geschlossene Balkanroute im vergangenen Wahlkampf sicher unter die Nase gerieben.

Was hat die Flüchtlingskrise bloß aus Österreich, aus Deutschland, aus Europa gemacht? Wer die Grenzen nicht kontrolliert, riskiert, dass Terroristen und Kriminelle ins Land kommen, was die Bereitschaft, Flüchtlingen zu helfen, beträchtlich verringert. Wer Zuwanderer schlecht behandelt und beispielsweise Asylverfahren absichtlich in die Länge zieht, um Nachkommende abzuschrecken, riskiert Ausgrenzung und im schlimmsten Fall Radikalisierung. Das Dilemma ist kaum aufzulösen: Glückt die Integration, kann dies ein Anreiz sein für andere, ebenfalls aufzubrechen; die Gefahren bei ihrem Misslingen sind aber mindestens so groß.

Sind wir, wie Krastev meint, auf dem Weg in eine engstirnige Gesellschaft, die ihre Privilegien mit Stacheldraht, Kriegsschiffen, restriktiven Gesetzen, Rassismus und Standesdünkel abzusichern versucht? Könnte es noch anders ausgehen? Auch der "Zeit“-Journalist Bernd Ulrich hat zu diesen Fragen kürzlich ein Buch vorgelegt. Es heißt "Guten Morgen, Abendland“ und beschwört "eine kopernikanische Wende“ im Verhältnis zwischen dem reichen Norden und den Armen im Süden: "Heute hat der Westen erstmals in der Geschichte ein massives, dringendes und materielles Interesse daran, dass es den Menschen, da unten‘ mindestens so gut geht, dass sie nicht in zu großer Zahl kommen.“ Das hieße, dass sich die globalen Machtverhältnisse ernsthaft verschieben. In Verhandlungen über Verfahrenszentren in Nordafrika, Hilfe vor Ort, legale Wege nach Europa und Visaerleichterungen sind Flüchtlinge und Migranten inzwischen eine harte Währung: Wenn du nicht willst, dass meine Leute zu dir kommen, musst du uns helfen, uns gut zu entwickeln. Man kann dies als Erpressung verstehen - oder aber als einen längst fälligen Ausgleich von Interessen auf Augenhöhe.

Das ist die große Geschichte hinter einem populistischen Nationalratswahlkampf, in dem es auch dann um Ausländer ging, wenn von ihnen ausnahmsweise einmal nicht die Rede war.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges