Interview

Franz Vranitzky: "Da laufen Prozesse ab, die peinlich für uns sind"

Ex-Kanzler Franz Vranitzky über eine schwere Kränkung, die Versäumnisse der Sozialdemokratie und Kurz’ Weg zur Orbánisierung.

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INTERVIEW: CHRISTA ZÖCHLING

profil: Am Montag, dem 11. März 1996, sah man auf dem Cover des profil die Fotomontage eines nackten Männerkörpers mit Ihrem Gesicht sowie der Schlagzeile: „Des Kaisers neue Kleider“. Anlass war ein Artikel über das Koalitionsverhandlungsfinale mit der ÖVP, bei dem Sie laut profil übervorteilt worden waren. Der Titel im Heftinneren lautete: „Wie Wolfgang Schüssel der SPÖ Hemd und Hosen auszog.“ Sie sahen dadurch das Amt des  Bundeskanzlers beschädigt und ließen die noch nicht verkauften Hefte beschlagnahmen. Wie sehen Sie das Cover heute?
Vranitzky: Ich war persönlich schon sehr betreten, auch verblüfft darüber, dass jemandem so ein Unfug einfallen konnte. Ich habe mich mit meinem sozialdemokratischen Regierungsteam besprochen, und die meisten meinten: „Am nächsten Montag kommt ein neues profil. Vergessen wir das einfach!“ Ich selbst konnte das nicht so schnell vergessen, doch nach zwei, drei Wochen haben wir es gemeinsam weggelacht.

profil: profil-Journalisten wurden von Ihnen in der Folge auch nicht boykottiert.
Vranitzky: Das hätte ich nie gemacht, weil so etwas meiner Auffassung von Medienfreiheit widerspricht. Außerdem: Es gab wichtigere Dinge.

profil: Sie sind Zeitzeuge bedeutender politischer Umwälzungen. Jörg Haider ergriff 1986 die Macht in der FPÖ und machte den Rechtspopulismus salonfähig. Kurt Waldheim, der belastende Details über seine Kriegsvergangenheit verschwiegen hatte, wurde zum Bundespräsidenten gewählt. Sie selbst wurden Bundeskanzler, ohne die Ochsentour in der SPÖ durchlaufen zu haben. Wie ging es Ihnen damit, als Politneuling, so rasant an die Spitze zu kommen?
Vranitzky: Ganz so quereinsteigend, wie immer behauptet wird, war ich nicht. Ich hatte ein paar Jahre im Ministerbüro des damaligen Finanzministers Androsch gearbeitet und war sehr nahe dran an den politischen Abläufen. Als ich 1984 Finanzminister wurde, kannte ich deshalb alle handelnden Personen. Es waren turbulente Jahre. Der damalige SPÖ-Chef und Kanzler Fred Sinowatz hatte von Bruno Kreisky die ungeliebte rot-blaue Koalition geerbt. Ich musste die Verträge für das bereits beschlossene Wiener Konferenzzentrum reparieren, weil uns die saudi-arabische Seite nach ursprünglichem Parlamentsbeschluss überall hätte überstimmen können. Das war meine Feuertaufe. Und dann ging es Schlag auf Schlag: Der Kraftwerksbau in der Hainburger Au wurde gestoppt, die Verstaatlichtenkrise wuchs sich zu einer Katastrophe für die Staatsfinanzen und zu einer ideellen Niederlage für die SPÖ aus. Und dann gewann der ÖVP-Kandidat Kurt Waldheim die Präsidentschaftswahl. Am Tag danach rief mich Sinowatz zu sich. Er sagte: „Ich kann nicht Kanzler bleiben, nachdem ich mich so sehr gegen Waldheim in Stellung gebracht habe.“ Ich erwiderte: „Und was wird jetzt?“ Sinowatz: „Du wirst es machen.“ Die Bedenkzeit – lächerlich. Ich habe mich mit meiner Frau und meinen zwei Kindern, die damals ins Gymnasium gingen, zusammengesetzt. „Was meint ihr?“ – „Wenn du deine Kinder brauchst, um zu wissen, dass du Bundeskanzler werden sollst, dann lass es lieber bleiben.“ Die wichtigste Stütze war in der Folge meine Frau. Physisch war ich zwar da, aber es gab kaum ein Wochenende und kaum einen freien Abend.

 

profil: Wie fühlte es sich an, plötzlich im Scheinwerferlicht zu stehen, etwa auf der Bühne der Stadthalle mit der Chansonsängerin Marlène Charell?
Vranitzky: Das war schrecklich. Der Saal gesteckt voll mit Parteimitgliedern. Auf der Bühne Sinowatz und ich und Charell, die Sinowatz überrumpelte und zwang, ein Tänzchen aufzuführen und ihr hochgeschlagenes Bein zu halten. Ich habe ihr zugezischt: „Ich mache das nicht.“ Unhöflich, sicher, aber sie ließ mich danach zum Glück in Ruhe.

 

profil: In der SPÖ hatten Sie den Ruf eines „Nadelstreif-Sozialisten“.
Vranitzky: Weil ich die Ochsentour nicht gemacht hatte, war die Partei anfangs etwas  zurückhaltend – bis ich mir angewöhnte, nach Veranstaltungen von der Bühne hinunter zu den Leuten zu gehen. Da hörte ich dann: „Du bist gar net so.“ – „Wie hast du denn geglaubt, dass ich bin?“ – „Na, net so, aber eh guat.“

profil: Dabei stammen Sie aus bescheidenen Verhältnissen. Ihr Vater war Eisengießer und Kommunist. Auf dem SPÖ-Parteitag 1995 nahmen Sie erstmals darauf Bezug und sagten, Sie seien stolz auf dieses Land, in dem ein Arbeiterbub Bundeskanzler werden könne. Sonst haben Sie nie viel Wind gemacht um Ihre Herkunft.
Vranitzky: Effekthascherei liegt mir nicht. Ich bin nie mit der Gestopfte-Socken-Geschichte herumgegangen. Aber es war so: Kellerwohnung. Zimmer, Küche, Klo am Gang. Zwei Eltern, zwei Kinder. 1954 bekamen wir eine Gemeindebauwohnung, und das waren vergleichsweise paradiesische Verhältnisse. Meine Mutter hat meine Ministerzeit nicht mehr erlebt, mein Vater schon. Als ich 1970 von der Nationalbank ins Ministerbüro wechselte, war er gar nicht glücklich. Er meinte, für Leute wie Kreisky und Androsch arbeite man nicht.

profil: Warum nicht?
Vranitzky: Sie waren ihm viel zu rechts.

profil: Welchen Politiker hat Ihr Vater denn gut gefunden?
Vranitzky: Mich. (lacht) Als älterer Mensch war er sehr bestürzt über den Niedergang des Kommunismus; als dann die Russen 1968 in Prag einmarschierten, entrüstet. Seine Nähe zur KP war damit zu Ende.

profil: Sie haben Bruno Kreisky, der als Medienkanzler galt, aus nächster Nähe erlebt. Was konnte man von ihm lernen?
Vranitzky: Mit Journalisten immer reden zu wollen, wenn sie das gewünscht haben. Und bei aller Offenheit und Freundlichkeit keine Kameraderie einzugehen. Kreisky hatte das Pressefoyer nach dem Ministerrat erfunden. Ich habe es auch so gehalten. Das war eine gute Schule, weil man gefordert wurde und es keine Ausflüchte gab. Man konnte nicht sagen: „Darauf antworte ich nicht.“

profil: Manchmal wirkten Sie allerdings wie das Orakel von Delphi. Die Journalisten redeten sich hinterher die Köpfe heiß, wie Sie etwas gemeint haben mögen.
Vranitzky: Das war nicht meine Absicht. Ich wundere mich heute manchmal über Journalisten, die sich bei Politikerinterviews mit eingelernten Stehsätzen zufriedengeben. Kurz macht das gern, auch einige seiner Kabinettsmitglieder.

profil: Haben es Politiker heute leichter?
Vranitzky: Ich hatte einen Pressesprecher. Politiker heute haben viel mehr und sogar große Presseabteilungen im Vergleich zu meiner Zeit. Sie verkaufen halt den Chef und seine Stehsätze-Drehorgel.

profil: 1970 wurde profil gegründet. Haben Sie es damals schon gelesen?
Vranitzky: Ich war profil-Leser der ersten Stunde. Ich habe immer viele Zeitungen gelesen. Wir hatten in meiner Jugend fünf Zeitungen daheim, aus allen politischen Lagern, das nationale ausgenommen. An Winterabenden wurde unser kleiner Eisenofen eingeheizt, und wir sind alle in der Küche gesessen. Meine Schwester machte Hausaufgaben, meine Mutter kochte, und mein Vater und ich haben gelesen. Aber noch etwas zu profil: Das war ein sehr eigenes Erleben über die Jahre hinweg. In meiner Kanzlerzeit gab es ein geflügeltes Wort: „Pass auf, dass du nicht ins profil kommst.“ Das war eine wichtige  Selbstschutzmaßnahme.

profil: Unter Ihrer Kanzlerschaft wurde die legendäre „Arbeiter-Zeitung“ eingestellt. Deutete  sich damals schon das Ende der sozialdemokratischen Strahlkraft an?
Vranitzky: Da kam vieles zusammen. Die SPÖ hatte zu dieser Zeit fast 700.000 Mitglieder, die „AZ“ aber nicht einmal 100.000 Abonnenten. Die Verluste schlugen für die SPÖ schwer zu Buche. Bei einem verzweifelten Rettungsversuch sprang in letzter Sekunde die Wiener SPÖ ab. Es war objektiv ein Ende von Parteizeitungen, auch anderen. Aber in Österreich kam noch etwas hinzu: die Stärke der Boulevardmedien. Auch Bruno Kreisky hat – eine schmerzvolle Geschichte – besonders die „Kronen Zeitung“ immer wieder angesprochen, wenn er etwas publiziert haben wollte.

profil: War die heimische Presseförderung nicht von Anfang an problematisch, weil sie an die Auflage geknüpft wurde?
Vranitzky: Das trifft auch auf die Gegenwart zu. Überdurchschnittlich gefördert wird der Boulevard. Aber Presseförderung war immer ein vermintes Gebiet.

profil: Sind Sie glücklich über den heutigen Zustand der SPÖ?
Vranitzky: Was heißt Glück in diesem Zusammenhang? Ich habe vor Kurzem eine Broschüre  ausgegraben, in der eine Diskussion mit dem Liberalen Ralf Dahrendorf und mir wiedergegeben ist. Schon in den 1990er-Jahren vertrat ich mehrheitsfähige politische Inhalte, die nach meinem Abgang in der Parteiführung so nicht mehr erkennbar waren. Die SPÖ hielt zu lange an einer Vergangenheit fest, die früher einmal erfolgreich war. Ich dachte, mit dem EU-Beitritt gelingt der Durchbruch, das Denken über den Tellerrand hinaus, das Bewusstsein einer globalisierten Welt. Man hat sich zu sehr an alte Wege des Erfolgs gewöhnt, aber die funktionieren eben nicht mehr.

profil: Man hat heute oft den Eindruck, SPÖ-Funktionäre denken anders, als sie glauben, reden zu müssen.
Vranitzky: Wir erleben heute eine spezielle und gefährliche Art der Entpolitisierung. Kurz etwa bietet keine ideellen Inhalte an. Er wirft seine Person ins Gefecht. Den Menschen gefällt, dass er jung ist, dazu rhetorisch recht beschlagen – und ausländerfeindlich, etwas überspitzt gesagt. Nicht wenige fürchten, dass Kurz Österreich in die Orbánisierung führen könnte.

profil: Kann er oder will er?
Vranitzky: Ich glaube, er will es auch. Ich beobachte ein Wegducken in wichtigen Fragen. Der chefgetreue Außenminister verliert kein Wort über die illiberale Demokratie in Ungarn; in der Rassismusdebatte in den USA meinte er, man könne darauf vertrauen, dass die amerikanischen Behörden schon „das Richtige tun“. Ist es „das Richtige“, wenn ein Polizist
einen Schwarzen erschießt und dafür nicht einmal eingesperrt wird? Da kommt von Österreich auch von der SPÖ sehr wenig.

profil: Die SPÖ ist innerlich zerstritten. Was raten Sie Ihrer Partei?
Vranitzky: Man sollte die wichtigsten Punkte definieren, Pflöcke einschlagen und durch gute Diskussion eine Meinungseinigkeit zustande bringen. Dann hat man auch eine Erzählung. Wenn das unserer Sozialdemokratie, aber auch europaweit gelänge, wären wir wieder wer. Noch wichtiger vielleicht: Man braucht dafür das entsprechende Personal, das heißt: die Führung im Parlamentsklub, in den Bundesländern. Das dauert ein paar Jahre, und man
muss zäh dahinterbleiben.

profil: Können die Grünen die Sozialdemokratie auf Dauer ersetzen?
Vranitzky: Sie spielen das nicht ungeschickt. Da laufen Prozesse ab, die peinlich für uns sind. In der Bundesregierung haben die Grünen nicht viel zu reden, aber dann heißt es in Kommentaren, die Konservativen dominierten die Linken. Das kann tödlich sein. Die Zeitungen, die uns nicht so wohlgesinnt sind, die schreiben schon vom linken Regierungspartner. Eine solche Einordnung fördert geradezu die konservative Hoffnung, dass die Grünen die SPÖ ablösen oder ersetzen.

profil: Teilen Sie Zeitungen tatsächlich ein in solche, die der Sozialdemokratie wohlgesinnt sind, und die anderen? Das ist doch altes Freund-Feind-Denken. Journalisten haben schließlich ihren eigenen Kopf.
Vranitzky: Daran zweifle ich keineswegs. Trotzdem gibt es in der öffentlichen Diskussion so etwas wie die Neutralitätsillusion: zu glauben, man setzt sich hin, beobachtet und berichtet objektiv und neutral. Aber das geht gar nicht. Diese Illusion ist in ihrer Relativität eigentlich ausdiskutiert.

profil: Das andere Vorurteil ist jenes der Journalisten als Befehlsempfänger.
Vranitzky: Bei strenger Auslegung der boulevardesken Blattlinie ist das auch gar nicht notwendig.

profil: Warum, glauben Sie, kommt Sebastian Kurz so gut bei den Leuten an? Hat er eine Zukunft, oder ist sein Erfolg nur ein Hype?
Vranitzky: Es wird davon abhängen, wie die Wirtschaftskrise bewältigt wird, welche Rolle er  in europapolitischen Angelegenheiten dem Land vorgibt und auch wie die politischen Gegner sich entwickeln. Schauen wir einmal.

 

Franz Vranitzky, Jahrgang 1937, entstammt einer Wiener Arbeiterfamilie. Nach einem Studium an der Hochschule für Welthandel, fünf Jahren als wirtschaftspolitischer Berater im Finanzministerium und einer steilen Bankenkarriere wurde er 1984 Finanzminister in der SPÖ/FPÖ-Regierung und 1986 Bundeskanzler. Als sich Jörg Haider an die Spitze der FPÖ putschte, kündigte Vranitzky die Kleine Koalition auf. In die Zeit seiner Kanzlerschaft in Regierungen mit der ÖVP fielen die große Krise der Verstaatlichen Industrie, die Affäre Kurt Waldheim, das offizielle Eingeständnis der Mitschuld vieler Österreicher am  Nationalsozialismus und Österreichs Beitritt zur Europäischen Union. 1997 trat Vranitzky als Bundeskanzler zurück.
 

 

 

Christa   Zöchling

Christa Zöchling