Handyvideos: Die Allzweckwaffe der Generation Instagram

Handyvideos sind die Allzweckwaffe der Generation Instagram. Bilden sie die ganze Wirklichkeit ab? Im Chaos der bewegten Bilder wird Aufklärung oft durch Aufregung ersetzt.

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"Überall leakt es, sickert es durch, wird kopiert und mitgeschnitten“, schreibt Michael Seemann in seinem Buch „Das neue Spiel“. Ein ausschließlich analoges Sein ist in Zeiten des Smartphones nicht vorgesehen. Wer andere herabwürdigt, sexuell belästigt oder rassistisch attackiert, muss damit rechnen, dass jemand eine Kamera auf ihn richtet und es nicht lange dauert, bis unschöne Szenen „viral“ werden.

Vergangene Woche war in dieser Hinsicht besonders viel los. Drei Mitschnitte von rassistischen Angriffen verbreiteten sich über soziale Medien, in Summe von Tausenden geteilt, von Hunderttausenden angeklickt.

> In Wien-Neubau beschimpft eine ältere Frau an einer Straßenbahn-Haltestelle eine jüngere Muslimin auf das Derbste: „Du Hure, du wertlose.“ – „Du wirst nicht hierbleiben, in diesem Aufzug.“ – „Die FPÖ schmeißt euch alle raus.“ – Die Angegriffene lässt sich das nicht gefallen, redet zurück: „Das ist mein Land!“ Die Ältere wird immer derber, die Jüngere filmt mit. Das Video endet damit, dass die Ältere die Muslimin anspuckt. Man hört eine Passantin sagen: „Es ist unser aller Land.“

> In Wels, Oberösterreich, lässt ein Busfahrer einen 14-jährigen Schüler nicht einsteigen – angeblich, weil er dunkelhäutig ist. Auf einem Video sieht man den Jugendlichen vor dem verschlossenen Fahrzeug. Seine Mutter erklärt auf Facebook: „Mein Sohn hat es nicht verdient, so behandelt zu werden.“ Die Polizei rückt an. Der 64-jährige Chauffeur gibt zu Protokoll, der 14-Jährige habe sich seit Tagen danebenbenommen, habe gegen die Türe geschlagen und ihn beschimpft. Deshalb habe er ihm die Mitfahrt verweigert.

> Ebenfalls in Wels tobt sich eine Frau an einem muslimischen Taxifahrer aus: „Du Arschloch.“ – „Du Drecksau, geh heim!“ – „Wir Europäer sind besser!“ – „Tu dir deinen Salafisten-Bart weg!“ – Auch sie spuckt ihn schließlich an. Jemand hält sie mit einem Arm zurück. Der Taxifahrer postet das Video auf Facebook und schreibt darunter: „Leute, gewöhnt euch daran, wenn ihr solchen Rassisten begegnet, nehmt eure Handys raus, filmt und bewahrt Ruhe.“

Empörung und Ratlosigkeit

Ein Sturm der Empörung fegte durch die sozialen Medien. Als er sich gelegt hatte, blieb Ratlosigkeit zurück. Übersehen wir beim Betrachten solcher Videos etwas Wesentliches? Ging die Muslimin zu weit, als sie ihre Angreiferin, eine psychisch labile ältere Frau, in den sozialen Medien an den Pranger stellte (auch wenn sie deren Gesicht nicht zeigte)? Ließ der Busfahrer den Burschen wirklich wegen seiner Hautfarbe auf der Straße stehen? Ein digitalisiertes, tausendfach kopiertes Stück Wirklichkeit einzuordnen, braucht Zeit. Haben wir dafür die Werkzeuge?

Die Digitalisierung stieß uns in Unsicherheit und Chaos, sagt der deutsche Soziologe Dirk Baecker. Wie schon der Buchdruck vor mehr als 500 Jahren erzeugen alle neuen Medien einen Überschuss an Sinn, erschüttern Institutionen in ihren Grundfesten und überwältigen den Einzelnen. Die „nächste Gesellschaft“ gibt sich laut Baecker am Umgang mit dem Chaos zu erkennen, an Verhaltensweisen, Praktiken und Ideologien, die erst entwickelt werden müssen, um die Fülle von Daten und Informationen zu bändigen, die uns den Boden des Urteilsvermögens wegzieht.

„Endlich gibt es Videos.“ Das ist der erste Gedanke von Dieter Schindlauer, Geschäftsführer des Vereins ZARA (Zivilcourage und Antirassismus-Arbeit), wenn er Mitschnitte von rassistischen Übergriffen sieht: „Wir haben schon Tausende Vorwürfe von Beschimpfen, Bespucken, Kopftuchherunterreißen dokumentiert. Bisher wurde noch so gut wie jeder weggeredet: Wer weiß, ob das so war, welchen Beitrag das Opfer geleistet hat, ob das nicht überhaupt erfunden ist?“ Videos führen das Unrecht vor Augen.

Die neuen Beweismittel haben jedoch Tücken. Der Betrachter springt ansatzlos in eine aufgeschaukelte Situation hinein, ist plötzlich „hautnah“ dabei, doch es fehlt das Vorher und Nachher, und oft wird nicht klar, wer die Kamera hält. In den sozialen Medien sind Videos derzeit die heißeste Ware. Bewegte Bilder emotionalisieren, der dazugehörige Text ist Nebensache. Das verengt den Raum für eine Einordnung eines Geschehens. Reine Empörung flammt wie ein Strohfeuer durch die sozialen Medien, motiviert aber niemanden, im richtigen Leben sein Verhalten zu ändern.

Das "neue Spiel" der Digitalisierung

Bei ZARA wird intensiv darüber nachgedacht, wie sich die emotionalisierenden Handy-Videos mit der Ratio verbinden lassen. Eine Antwort darauf sind Broschüren für die Praxis. Etwa: Was kann ich tun, wenn ich einen rassistischen Übergriff mitbekomme? Wie verhalte ich mich, wenn ich selbst angegriffen werde? Darf ich polizeiliche Amtshandlungen filmen?

Die Polizei hat das Gefühl, inzwischen werde jeder ihrer Schritte gefilmt; sie ärgert sich über Bürger, die sich wie übereifrige Reporter auf der Suche nach dem besten Kamerawinkel in eine Amtshandlung drängen oder mit dem Selfiestick im Tumult posieren. Doch auch die Exekutive stellt sich darauf ein, dass Smartphones nicht mehr verschwinden und die Beamten ihrerseits mit Bodycams ausgestattet auf Streife gehen. Vor Kurzem investierte auch ZARA in eine Ausrüstung, um auf Videos vermehrt mit Videos zu reagieren.

Bewegte Bilder sind die Allzweckwaffe der Generation Instagram. Geht es nach Buchautor Seemann, haben wir keine andere Wahl, als das „neue Spiel“ der Digitalisierung mitzuspielen, mit allen Gefahren, die darin lauern, und mit allen nötigen Abwägungen. Die Plattform wird zum Ordnungsprinzip. Buchstäblich jeder kann auf Knopfdruck Öffentlichkeit herstellen, der Christchurch-Attentäter, der in einer Moschee Gläubige niedermetzelt, ebenso wie die junge Muslimin, die auf der Straße verbal attackiert wird.

So gut wie alle Fragen, die damit einhergehen, sind offen. Darf die Ex-Grüne Sigrid Maurer die Identität eines Mannes publik machen, der sie per Mail obszön beschimpfte? Darf eine angespuckte Muslimin ein Video online stellen? Was passiert, wenn 360-Grad-Aufnahmen gebräuchlich werden und Betrachter noch mehr das Gefühl haben, live dabei zu sein? Dürfen Randgruppen mehr, weil sie davon ausgehen müssen, dass sie auf herkömmlichen Pfaden nicht zu ihrem Recht kommen? Gibt es so etwas wie digitale Notwehr? „Wir stecken mittendrin in den Debatten, und dass wir sie führen, ist eine Reaktion auf den Umbruch“, sagt Buchautor Seemann.

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Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges