Fritz Kratzer, Bürgermeister von Kapfenberg

Heimfahrt in die Steiermark: Die Welt von gestern

Im Mürztal herrscht schlechte Stimmung. Warum sind so viele Menschen trotz aller Fortschritte unglücklich? Christa Zöchling fragte Freunde und Politiker.

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Auf der Schnellstraße durch den Semmering weitet sich mit einem Mal der Tunnelblick: Almhütten in lichter Höh, dunkle Wälder, Wiesenmatten, felsblaue Zacken am Horizont. Der Bahnhof von Mürzzuschlag liegt da wie eine riesige Merklin-Anlage mit modernen Railjets, alten Coupé- und rostigen Güterwaggons, Lokomotiven und einer verwirrend großen Gleisanlage, als ginge es von hier aus in alle Himmelsrichtungen. Doch es geht nur in den Süden und in den Norden, bald auch durch den Semmering- Basis-Tunnel. In 45 bis 55 Minuten mit der Bahn nach Wien: Darauf ruhen alle Hoffnungen - auf eine Wiederkehr der Sommerfrische, neue Betriebe, wohlhabende Pendler. Die Idylle ist trügerisch.

An den Ortseingängen von Mürzzuschlag bis Kapfenberg: Billa, Hofer, Kik und Spar. Supermärkte und Einkaufszentren. Tankstellen und Baumärkte. Die Ortskerne veröden. Das Stadtzentrum von Mürzzuschlag - ein einziger Parkplatz. Unter dem Beton plätschert ein grüner, klarer Gebirgsbach. In den 1970er-Jahren hielt man das für Fortschritt, sagt Martin Lotter, Co-Geschäftsführer des Kunsthauses in Mürzzuschlag. Bürgermeister Karl Rudischer (SPÖ), selbst Architekt, seufzt: "Die Wirtschaft setzt sich eben immer durch." Auch ihm missfallen die Einkaufszentren an den Ortsrändern und der verparkte Stadtplatz.

Kollektive Depression

Der 54-Jährige ist Pragmatiker, kein Sozialdemokrat der alten Schule. Er wurde im Jahr 2007 Bürgermeister, als sich der rasante Aufstieg der Freiheitlichen in Wahlergebnissen niederschlug. Es sei "zu Ende mit der Romantik", sagt Rudischer. Er findet es müßig, darüber zu jammern, wie viel besser früher angeblich alles war, bevor die Verstaatlichte Industrie kollabierte, trotz staatlicher Milliardensubventionen. Betriebe in der Region suchen heute verzweifelt Kellnerinnen und Pflegekräfte, Schweißer und Maschinenbauer. Es gehe aufwärts, "doch es herrscht eine kollektive Depression, und die FPÖ verstärkt das", klagt Rudischer.

Zum Teil sei die Sozialdemokratie selbst daran schuld. Sie habe sich die Leute herangezogen, nach dem Motto: Du kriegst alles, dafür bist du der Partei treu. Als nichts mehr zu verteilen war, seien sie eben zu den Freiheitlichen übergelaufen. Die absoluten SPÖ-Mehrheiten in früheren Jahren hätten zu einer gewissen Arroganz der Macht geführt. Jetzt müsse man sich um Zusammenarbeit bemühen. In Mürzzuschlag ist Rudischer eine "schlampige" Koalition mit der KPÖ eingegangen.

Hannes Amesbauer ist der neue freiheitliche Hoffnungsmann in der Steiermark. In Neuberg an der Mürz geboren, die Mutter war Gemeindesekretärin eines SPÖ-Bürgermeisters. In den Ferien fuhr man nach Lignano, wo die Gewerkschaft Ferienwohnungen betrieb. In der Familie herrscht helle Aufregung, als der Junge anfing, sich Jörg Haider zum Vorbild zu nehmen. Amesbauer lernte Steinmetz, ehe er die Matura nachholte, studierte, sich einer Burschenschaft anschloss und den Weg in die Berufspolitik einschlug.

Den Erfolg der Freiheitlichen erklärt er sich mit der Sehnsucht nach früher, als Arbeitsplätze sicher, die Infrastruktur intakt, keine Post- und Polizeistationen, Volksschulen und Spitalsabteilungen geschlossen wurden. Er glaubt nicht, dass es hier einen "Kurz-Effekt" geben könnte. Arbeiter wählen nicht ÖVP, meint Amesbauer.

Über den 36-Jährigen kursieren Gerüchte von wegen rechter Aktivitäten in jungen Jahren. Heute gilt er jedem als netter Kerl. Er sei "für die Leut' da", heißt es.

Auch andere FPÖ-Lokalpolitiker im Mürztal genießen Ansehen. Im freiheitlichen "Gemeindekurier" wird regelmäßig von ihren Initiativen in der Gemeinde berichtet. Und wenn, wie vergangene Woche, zwei SPÖ-Politiker und Voest-Betriebsräte in Kindberg ihre Funktionen niederlegen, weil 800.000 Euro an Betriebsratsgeldern verschwunden sind, dann haben die Freiheitlichen als Erste davon Wind bekommen.

Ideologie spielt untergründig eine Rolle. Wenn ein Immobilienspekulant in der Region Hotels und Liegenschaften aufkauft, sagt Amesbauer: "Ein Freimaurer." Und die Angst vor neuen Flüchtlingswellen wird gezielt wachgehalten .

Aus Neuberg an der Mürz stammt auch Elfriede Jelinek - das große Feindbild der FPÖ. Die Literaturnobelpreisträgerin besitzt im Ortsteil Krampen eine kleine Keusche und hat hier ihre Kindheitsferien verbracht, Land und Leuten einen Spiegel vorgehalten, begeistert und verstört.

Beim heurigen steirischen herbst wird hier Jelineks Roman "Die Kinder der Toten" verfilmt werden (siehe auch Seite 84). Man hofft auf rege Teilnahme der ortsansässigen Bevölkerung. 200 Statisten werden gesucht, nebst Kühen und anderen Tieren. Amesbauer erwägt mitzumachen.

"Man ist xenophob, antisemitisch und sexistisch, aber sonst total nett"

Peter Klein ist Programmchef des Kultursenders Ö1 und geborener Turnauer. Nach dem Tod seiner Eltern packte ihn die Sehnsucht, und er kaufte sich in der 1500-Seelen-Gemeinde eine Wohnung. "Ein von Gott gesegnetes Paradies", sagt Klein - auch wenn "alles, was alt und schön ist, hier gern niedergerissen wird und das Ausmaß an Hässlichkeit teilweise atemberaubend ist".

Die Erinnerung schmerzt und rührt. Der Vater, der sich am Hochofen kaputtgearbeitet hat, die Mutter, die er alleinließ, die Gemeinde, die seinen Gymnasiumbesuch in Graz finanziell unterstützte.

"Man ist xenophob, antisemitisch und sexistisch, aber sonst total nett", sagt Klein über die herrschende Mentalität. Den Menschen hier gehe es gut. Die Bauern hätten Traktoren, so groß wie die Einfamilienhäuser ihrer Kinder, und trotz EU-Förderungen sei man radikal gegen die EU. "Viele halten Politiker für Idioten oder korrupt. Die Entkoppelung von Tatsachen und ihrer Interpretation ist verheerend. Ich frage mich, welchen Anteil die Medien daran haben", meint Klein.

Auch den Künstler Kurt Neuhold hat es nach Wien verschlagen. Doch sein Interesse für Kunst wurde im Mürztal geweckt. Sozialdemokratie und Gewerkschaften hatten einst den Anspruch, die Arbeiterschaft auch kulturell zu bilden. Überall gibt es öffentliche Büchereien. Die Neuberger Kulturtage wurden ins Leben gerufen. Der Komponist Hans Werner Henze arbeitete im Böhler-Werk mit Blasmusikkapellen zusammen.

Neuhold glaubt, dass die Erfolge der FPÖ mit tief sitzenden Ängsten zu tun haben. Mitten im bäuerlichen Umfeld hätten sich die Arbeiter der Stahl-und Eisenindustrie immer wieder neu erfinden müssen. Die gepflegten Einfamilienhäuser, die man hier sieht, hätten sie sich hart erarbeitet und abgespart. Und nun gehen die Kinder weg und die Häuser stehen leer. Über Geldnot werde nicht gesprochen - man schäme sich dafür.

Tabu ist auch das Arbeitsleid. Der Soziologe Manfred Krenn hat für eine Studie in den Jahren 2001 bis 2003 Menschen aus der Region interviewt. Wer Arbeit hatte, hatte Angst, sie verlieren, es nicht mehr zu schaffen. "Keiner traut sich, öffentlich darüber zu sprechen. Da sind die Freiheitlichen hineingestoßen", sagt Krenn.

Auf dem Weg von Mürzzuschlag nach Kapfenberg stehen noch viele alte Wellblechhallen. Daraus hört man Hämmern, Surren, Kreischen - ein tröstliches Geräusch: Arbeit! Moderne High-Tech-Anlagen sind dagegen leise und mit Hochsicherheitsvorkehrungen abgeriegelt. Man produziert hier High-End-Produkte, nicht Eisenplatten wie früher, die in Zügen in die UdSSR transportiert und dort zu Löffeln weiterverarbeit wurden.

Fritz Kratzer, der neue Bürgermeister von Kapfenberg (Titelbild), setzt seine ganze Hoffnung "in das modernste Stahlwerk der Welt". Im September soll die Entscheidung dafür in der Voest-Alpine fallen. "Industrie 4.0. Keine Hilfsarbeiter, sondern Chemiker, Programmierer. Projektmanager", sagt er atemlos. Die Stadt bereite sich darauf vor: mit anspruchsvollen Wohnungen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Bildungsstätten, einem neuen Forschungslabor an der Fachhochschule. Einen Plan B gibt es nicht.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling