Integration: Was dürfen Muslime?

Die Einwanderungsgesellschaft wirft Fragen auf, die man nach einer Irrsinnstat wie aus dem IS-Drehbuch kaum zu stellen wagt. Lehrerinnen mit Kopftuch? Fasten auf der Baustelle? Beten beim Bundesheer? Was geht, was nicht? Die Zeit ist reif für eine ehrliche Debatte – und war gleichzeitig nie ungünstiger.

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Anmerkung: Der folgende Artikel erschien ursprünglich in der profil-Ausgabe 29/2016 am 18. Juli.

Da sind sie wieder, die Wut, die Angst, die Reflexe – und dann dieser mühsame zivilisatorische Akt der Selbstbeherrschung: Wir müssen zusammenstehen, dürfen uns Freiheit, Demokratie, Feuerwerke und Fußballspiele nicht nehmen lassen von dem Anschlag nach dem Muster des sogenannten „Islamischen Staates“, welcher zwar nicht von offiziellen Propagandisten, sehr wohl aber von seiner Anhängerschaft im Internet als Schlag gegen westliche Hybris und Dekadenz gefeiert wurde. Es gibt für die angegriffene Gesellschaft zwei falsche Arten, der mörderischen und perfiden Logik in die Falle zu gehen: indem sie entweder Ressentiments gegen den muslimischen Teil der Bevölkerung anheizt oder indem sie um alles einen Bogen macht, was nur im Entferntesten nach einem Konflikt aussieht.

Sie könnte sich aber auch den schwierigen Fragen stellen, die eine Einwanderungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts aufwirft. Darf es Richterinnen erlaubt sein, Kopftuch zu tragen? Darf ein Betriebsanlagentechniker auf der Baustelle während des Ramadan fasten? Kann sich ein strenggläubiger Lagerarbeiter weigern, Bierkisten zu stapeln? Was dürfen Muslime? Die Frage schlägt auf die Fragenden zurück: Müssen auch die Schwurgarnitur und das Kreuz verschwinden, wenn man im Gerichtssaal oder in der Schule kein Kopftuch will? Wie halten wir es mit Parteiabzeichen? Müssen wir gleich nach dem Strafrecht rufen, wenn ein Imam einer Frau nicht die Hand schüttelt? Und wie gehen wir mit der „radikalisierten Identität” eines Teils der männlichen Zuwanderer um? Wie mit Demokratiefeindlichkeit und Fundamentalismus?

Man drückt sich um die Fragen gern herum, zum einen, weil es dafür kaum einfache, schnelle Antworten gibt, zum anderen, weil im alltäglichen Miteinander mit viel Improvisieren manchmal schlauere Lösungen zustande kommen als durch krachende höchstrichterliche Entscheidungen. Wer sich dem versengenden Hass in sozialen Medien aussetzt, wähnt die westliche Gesellschaft am Rand des Bürgerkriegs. Tatsächlich gibt es jede Menge Spannungen in Spitälern, im Klassenzimmer, in den Parks und auf der Straße, am Arbeitsplatz, bei der Wohnungssuche. Nur stellen sie sich im Alltag anders da als in Hetzpostings des Internets. Gerichtsurteile, Erlässe, Leitbilder, Hausordnungen und Werteschulungen versuchen, Klarheit zu schaffen.

Die Zeit ist reif für eine ehrliche Debatte und könnte gleichzeitig nicht ungünstiger sein. Der Flüchtlingsstrom des vergangenen Jahres riss alte Gräben auf und verschaffte den Brexit-Anhängern Rückenwind. „Wir erleben eine massive Entsolidarisierung, auch in Österreich, wie die Debatte über die Mindestsicherung zeigt“, warnte Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung, kürzlich bei der Vorstellung eines Migrations- und Integrationspapiers. Auf der anderen Seite wächst ein Berg von Problemen: Die Neuankömmlinge brauchen Deutschkurse, Wohnraum, Jobs und Hilfe bei der Bewältigung des Alltags. „Anders als klassische Einwanderungsländer betrachtet man in den europäischen Wohlfahrtsstaaten Einwanderung als Bedrohung der eigenen nationalen Geschichte“, sagt der Soziologe Kenan Güngör. Dazu kommen Angst vor Radikalisierung, Terror, Verlust der Arbeit und wenig Akzeptanz für religiöse Muslime. Das Marktforschungsunternehmen Unique fragte im Auftrag von profil nach. Richterinnen mit Kopftuch stehen 65 Prozent ablehnend gegenüber, Lehrinnen mit Kopftuch 62 Prozent, gegen Fasten und Beten während der Arbeitszeit haben 60 Prozent etwas einzuwenden.

In den Debatten geht es zunehmend um Identität, kaum noch um Interessen. Das führt zu Eskalation beim geringsten Anlass. In Berlin schaukelte sich an einer Privatschule ein Streit um einen Handschlag bis zum Gerichtsfall hoch. Ein Vater, Imam und strenggläubiger Schiit aus der Türkei, weigerte sich, der Lehrerin die Hand zu schütteln. Sie, beleidigt, pochte darauf, er, beleidigt, nahm seine Kinder von der Schule und drohte mit Klage wegen Diskriminierung und Verletzung der Religionswürde. Das ist kein Einzelfall. Eine Schule im Schweizerischen Kanton Basel-Land befreite muslimische Jugendliche aus religiösen Gründen vom Händeschütteln und trat eine landesweite Welle der Empörung los.

profil hat die einschlägige Judikatur gesichtet und bei Jugendarbeitern, Gleichbehandlungsanwältinnen, Lehrerinnen, Richtern und Ministerialbeamten nachgehakt, wie sie zu Religionsfreiheit, muslimischen Einwanderern, Anpassung und Vielfalt stehen. Österreich hat sich – abgesehen vom Konkordat – in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend säkularisiert. „Es fordert eine Gesellschaft mit abnehmender Religiosität ziemlich heraus, wenn sich religiöse Minderheiten etablieren, und dazu gehört auch, dass sie versuchen, den öffentlichen Raum zu besetzen“, wie der Soziologe Güngör konstatiert.

Die Kinder und Enkel der Gastarbeiter der 1960er- und 1970er-Jahre hinken bei der Bildung nach; ein Teil aber meisterte den sozialen Aufstieg und schloss ein Studium ab. So seltsam es klingt, auch Integrationserfolge führen zu Spannungen.Denn nun will die zweite und dritte Generation wissen, wie es das Land, in dem sie geboren und aufgewachsen sind, mit Gleichbehandlung hält. Wird die gesellschaftliche Vielfalt in der Verwaltung sichtbar? Was zählt wirklich am Arbeitsmarkt? Herkunft oder Leistung? Ercan Nik Nafs, Kinder- und Jugendanwalt in Wien, erlebt aus nächster Nähe mit, wie „sich Einwanderer aus ihrer benachteiligten Position herauskämpfen und Rechte einfordern, die auch der Mehrheit zustehen“.

Brennpunkt Schule

1976. Es war eine andere Welt, als Andrea Walach erstmals in einer Klasse stand. Lauter weiße Kinder sahen sie an. Heute leitet sie die Neue Mittelschule (NMS) in der Gassergasse im 5. Wiener Bezirk.

30 Muttersprachen sind hier vertreten, Kulturen aus vielen Teilen der Erde, und Probleme. Auf der Liste ganz oben: das Rollenbild. „Den Vormittag verbringen Buben und Mädchen gleichberechtigt, am Nachmittag fallen die Buben in ihre dominanten Rollen zurück“, erzählt Walach. Wenn die Jugendlichen sich in der vierten Klasse in Workshops ihr künftiges Leben ausmalen, zeigt sich, wie stark die häusliche Prägung ist: Das Gros der Buben träumt von Arbeit und einer Frau, die dafür sorgt, dass es daheim gemütlich und sauber ist, das Gros der Mädchen von Heiraten und Kinderkriegen.

Jedes Jahr verschwindet eine Jugendliche im Herkunftsland und wird dort vermutlich verheiratet. Wenn die Eltern neben ihren Kindern, die oft als Einzige in der Familie Deutsch sprechen und für sie übersetzen, im Zimmer der Direktorin sitzen, spürt Walach ihre Verunsicherung: „Sie wollen, dass ihre Kinder es schaffen, und haben gleichzeitig irre Angst, sie zu verlieren.“ Manchmal stecken die Hände der Väter in dicken Wollhandschuhen, um Walach bei der Begrüßung nicht zu berühren. Ein Erlass erlaubt Schülerinnen, ein Kopftuch zu tragen. Wenn eine Zehnjährige damit in die Klasse kommt, fragt die Direktorin nach. Fast immer bekomme sie zu hören, dass sie es freiwillig trage. „Und manchmal meint ein Bursch, er müsse Mädchen zurechtweisen, wenn ein Haar aus dem Tuch herausschaut.“ Walach macht dann, was sie immer macht: reden, reden, reden. Drohungen und Druck führten nur dazu, dass Eltern sich zurückziehen. Ramadan setzt den Klassen zu. „Früher haben 14-Jährige damit begonnen, jetzt fasten schon Zehnjährige.“ Gemeinsames Eierverzieren zu Ostern oder Strohsternekleben zu Weihnachten ist passé. „Viele Kinder dürfen nicht einmal ‚Stille Nacht‘ mitsingen.“ Jedes Jahr nimmt einer der Väter sein Kind von der Schule, weil ihm die Verhältnisse zu freizügig sind.

„Ja, warum nicht? Unsere Gesellschaft ist breit und multikulturell“, antwortete Bildungsministerin Sonja Hammerschmid vergangene Woche im profi-Interview auf die auch in anderen Ländern umstrittene Frage, ob Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten dürfen. Das deutsche Verfassungsgericht in Karlsruhe hatte ein generelles Kopftuchverbot in Nordrhein-Westfalen erst vor Kurzem aufgehoben. Nur bei Störung des Schulfriedens müssten Lehrerinnen es abnehmen, wann das der Fall sei, weise sich vor Ort. 2009 begannen in Wien die ersten beiden Lehrerinnen mit Kopftuch zu unterrichten. Wie viele es inzwischen sind, ist beim Stadtschulrat nicht zu erfahren. „Wir führen keine Statistik“, sagt eine Sprecherin.Gesetzlich sei das Kopftuch nicht geregelt, Totalverhüllung widerspreche dem Schulgesetz. Eine von Walachs Lehrerinnen unterrichtet mit Kopftuch Mathematik und Geografie. „Sie ermuntert Mädchen, beim Schwimmen und Sporteln mitzumachen, außerdem spricht sie Türkisch“, für Walach ist sie eine Stütze. Auch Islam-Lehrer könnten bei der Vermittlung helfen und Väter kalmieren, die sich um die Unschuld ihrer Mädchen sorgen. Oft vermisste Walach „klare Richtlinien von der Politik“.

Integration schleicht sich manchmal auf leisen Pfoten in den Alltag, wo Menschen wie sie mit einem afghanischen Vater irgendwie auf einen grünen Zweig kommen. Klare Regeln braucht es auch. Laut Stadtschulrat unterschreiben Eltern an höheren und mittleren berufsbildenden Schulen, dass ihre Sprösslinge im Kochunterricht diverse Sorten Fleisch zubereiten und kosten. Essen müssen sie es nicht. Schwimmen ist ab der dritten Klasse Volksschule Pflicht, Burkinis werden an vielen Standorten einfach zur Kenntnis genommen. Manchmal fällt einer Lehrerin auf, dass eine paar Ärzte besonders häufig Befreiungen für Mädchen ausstellen. Der Verdacht, es könnte sich um Gefälligkeiten handeln, habe sich bisher nicht erhärtet, sagt Schulinspektor Patrick Wolf, der für 17 Pflichtschulen im 20. Wiener Gemeindebezirk zuständig ist: „Laut meinen Aufzeichnungen gibt es nur eine Handvoll Kinder, die noch nie im Schwimmunterricht waren.“

Minenfeld Arbeitsplatz

Benachteiligungen aufzuspüren, ist das Metier von Ingrid Nikolay-Leitner, Leiterin der Gleichbehandlungsanwaltschaft, und ihrer Mitarbeiterin Constanze Pritz-Blazek. 531 Fälle von Diskriminierung aufgrund der Religion zählten sie im Jahr 2015. „Meistens geht es ums Kopftuch, seltener um Ramadan und Gebetszeiten“, sagt Nikolay-Leitner. Querelen um den Gesichtsschleier lassen sich an einer Hand abzählen. Arbeitgebern, die einer Bewerberin mit Kopftuch angesichtig werden, entfahren im ersten Schreck Argumente, mit denen sie bei der Gleichbehandlungsstelle nicht durchkommen: Ein Kopftuch vertrage sich nicht mit dem Image der Firma, Kunden schätzten es nicht, man könne Kollegen den „Fetzn“ nicht zumuten. „Im Laufe eines Verfahrens versachlichen sie sich“, hat Pritz-Blazek beobachtet.

Das Kopftuch zu untersagen, ist laut Gleichbehandlungsgesetz möglich, wenn die Tätigkeit anders nicht ausgeübt werden kann. Der Auslegungsstreit, den diese Bestimmung in der Praxis nach sich zieht, mündet oft in Kompromissen: Da behält zum Beispiel eine Muslima ihren Nähereijob, aber ihr Kopftuch darf nur eine bestimmte Länge haben, damit es sich nicht in der Bügelmaschine verfängt. Pritz-Blazek hat sich angewöhnt, genau hinzuschauen: „Hygiene- und Sicherheitsbedenken werden von Arbeitgebern gerne vorgeschoben.“ Dem Betriebsanlagentechniker, der im Ramadan nicht essen und trinken wollte und deshalb seinen Job verlor, stärkte die Gleichbehandlungsstelle den Rücken. Das Argument, Fasten gefährde die Sicherheit am Arbeitsplatz, wurde zwar ernst genommen. Doch der Mann hatte es in den 20 Jahren davor praktiziert und keine gesundheitlichen Beeinträchtiungen gezeigt.

Im Balanceakt zwischen unternehmerischer und religiöser Freiheit ist das letzte juristische Wort freilich nicht gesprochen. In ganz Europa wartet man gespannt, wie der Europäische Gerichtshof die Causa einer belgischen Securityfirma abhandelt.

Das Unternehmen pocht in seiner Corporate Identity auf religiöse und weltanschauliche Neutralität. Als eine Mitarbeiterin eines Tages mit Kopftuch auftaucht, wird sie gekündigt. In ihrer Vorabentscheidung stellt sich die Generalanwältin auf den Standpunkt, ein Arbeitgeber dürfe alle sichtbaren Zeichen von politischer und religiöser Überzeugung sehr wohl untersagen. Meistens folgt der EuGH dieser Stellungnahme. Nikolay-Leitner geht sie zu weit: „Ich hoffe, das Gericht prüft, wer von dieser Neutralität betroffen ist. Sonst höhlt man den Diskriminierungsschutz aufgrund der Religion ziemlich aus.“

In Österreich drang der Disput ums Kopftuch noch nicht bis in die letzten Instanzen vor. Die Aufregung war groß, als Ikea vor mehr als zehn Jahren einen Hijab für muslimische Verkäuferinnen in London fertigen ließ. Das Firmenlogo des schwedischen Möbelhauses war am Rücken eingestickt. In Österreich, wo laut Ikea-Sprecherin Barbara Riedl-Daser 66 Nationalitäten zusammenarbeiten und nur „offene und interessierte Menschen, die gern mit Kunden zu tun haben“ eingestellt werden, arbeiten auch einige Musliminnen mit Kopftuch. Sie tragen ihr privates Stück, tunlichst in gedämpften Farben, die zur Dienstkleidung passen. Ab und zu echauffiert sich Kundschaft: „Wo kommen wir da hin?“

Den Gesichtsschleier im Büro hingegen verwarf der Oberste Gerichtshof (OGH) kürzlich. Ein niederösterreichischer Notar, laut seiner Anwältin Christine Fädler ein „geduldiger und liberaler Mensch“, hatte es hingenommen, dass eine langjährige Mitarbeiterin nach einem Krankenstand ihr Haar unter einem Tuch versteckte. Auch mit dem Überkleid (Abay) konnte er leben. Er erlaubte der Frau sogar mehrmals täglich zu beten. Doch als sie ihr Gesicht verschleierte, setzte er sie vor die Tür. Der OGH orientierte sich am französischen Vorstoß, Burkas aus dem Straßenbild zu verbannen, der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg abgesegnet worden war, und gab dem Notar Recht: Ein unverhülltes Gesicht zähle „zu den unbestrittenen Grundregeln in Österreich üblicher zwischenmenschlicher Kommunikation“. Der muslimische Lagerarbeiter, der sich in Deutschland aus religiösen Gründen weigerte, Bierkisten zu stapeln, ist seine Stelle übrigens auch losgeworden. Zu Recht, befand das Bundesarbeitsgericht in Erfurt später.

Vor Gericht

Im März 2008 erschien Mona S., die Frau des IS-Terroristen Mohamed Mahmoud, verschleiert vor dem Landesgericht Wien. „Wir sind kein Gottesstaat“, erklärte der Richter und verlangte die Enthüllung des Gesichts. Der OGH stellte sich hinter ihn. Seither köchelt die Frage, wie viel religiöse Symbolik sich für die Organe der Rechtssprechung schickt, auf kleiner Flamme weiter. Die Standesvertretung der Richter diskutiert darüber, im Justizministerium wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Klärung ist geboten, weil immer mehr Musliminnen ihr Jus-Studium abschließen. Vor einigen Jahren klopfte eine Studentin an, ob sie als Richterin ihr Kopftuch würde tragen dürfen. Ihre E-Mail landete bei Sabine Matejka, Vizepräsidentin der Richtervereinigung. Sie schrieb der Frau zurück, der Gesetzgeber habe sich nicht festgelegt, allerdings seien Richter verpflichtet, alles zu unterlassen, was Zweifel an ihrer Neutralität wecken könnte. Das spreche gegen ein Kopftuch.

So sieht es inzwischen die Mehrheit ihrer Kollegen. Bisher funktioniert die Selbstbeschränkung des Standes. Unter den rund 1700 Berufsrichtern findet sich niemand mit Kopftuch oder Kippa, und es sticht auch niemand mit Dreadlocks oder Gesichtspiercings hervor. Matejka verhandelt am Bezirksgericht in Wien-Leopoldstadt. Bei Mietrechtscausen kann es vorkommen, dass sich ein jüdischer Hausbesitzer mit seinen muslimischen Mietern in die Haare gerät. „Es schafft kein Vertrauen, wenn ich dann noch mit dem Kreuz dasitze“, sagt sie. Die Schwurgarnitur verstaubt in einer Lade, neben der Thora und dem Koran. Religiöse Vereidigungen sind selten geworden. Das Gros der Richterschaft würde gerne sämtliche sichtbaren Insignien eines Glaubens oder einer Weltanschauung an Richtern und Staatsanwälten entfernen. Die Tücken liegen in den Details. „Fällt ein kleines Kreuz als Halsanhänger oder ein Ring mit dem Zeichen Mohammeds auch darunter?“, fragt Oliver Scheiber, Vorsteher des Bezirksgerichts Wien-Meidling.

Kürzlich wollte ein Strafrichter in Wien keine Schriftführerin mit Kopftuch neben sich dulden. Sie wurde durch eine Kollegin ersetzt. Gehören Rechtspraktikantinnen, Schöffen und Geschworene zum Gericht? Allzu umfassend dürfe ein Neutralitätsgebot nicht sein, meint Sektionschef Michael Schwanda, der die Arbeitsgruppe religiöse Symbole im Justizministerium leitet: „Jede Einschränkung der Religionsfreiheit muss durch einen Zweck gerechtfertigt werden. Die Richterin hat für den Anschein einer neutralen Justiz sicher ein höheres Gewicht als Kanzleikräfte, Computer-Mitarbeiter oder Reinigungspersonal.“ Es erschwert die Suche nach einer beständigen Lösung, dass die hochgehaltene Neutralität im Gerichtssaal in keinem Gesetz festgeschrieben ist. Laut Schwanda orientiere man sich an Urteilen wie der erwähnten EGMR-Entscheidung zum Burkaverbot in Frankreich. Doch auch sonstwo in Europa kommt die Debatte auf keinen Nenner. Im bayerischen Augsburg hob das Verwaltungsgericht kürzlich ein Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen wieder auf. Ein friedlicher Freitagnachmittag am Bezirksgericht Wien-Döbling. Kaum zu glauben, dass in dem fast menschenleeren Gebäude die meiste Zeit um Kinder, Besitz und die Schuld am Zerbrechen von Beziehungen gestritten wird. In kaum einem anderen Feld der Juristerei schlägt sich der gesellschaftliche Wandel so rasch nieder wie im Familienrecht, der Domäne der Gerichtsvorsteherin Barbara Helige, die im zweiten Stock ihr Büro hat. Bei ihrer Angelobung war die große Familienrechtsreform gerade erst sieben Jahre her. Davor herrschte in den vier Wänden der Österreicher das Patriarchat: Selbst zum Geldverdienen brauchte die Frau die Erlaubnis ihres Mannes.

Bei der jüngsten Tagung der Familienrichter ging es um Migrantenkulturen, in denen Frauen zur Ehe gezwungen werden und Eltern ihre Kinder mit größter Selbstverständlichkeit ohrfeigen. Das Thema ist ein Symposiumsrenner. Beim kommenden Forum Alpbach soll Helige referieren, wie sich religiöse Überbleibsel im Familienrecht mit Einwanderung vertragen. „Die gibt es freilich nicht erst seit heute“, sagt sie. Als in den frühen 1990er-Jahren Jugoslawien in blutigen Kriegen zerfiel, wurden an ihrem Gericht Ehen zwischen Bosniern, Kroatinnen und Serben wegen nationalistischer und religiöser Verwerfungen geschieden. Seit einigen Jahren hat Helige vermehrt mit tschetschenischen Familien zu tun und neuerdings mit minderjährigen Flüchtlingen aus Afghanistan und Syrien. Dass Männer eine Richterin nicht akzeptieren, komme vor, „aber vor zehn Jahren haben auch österreichische Männer noch geschluckt“. Helige sieht „enorme Anpassungsschwierigkeiten“ vor allem bei traumatisierten, tschetschenischen Männern, die nach Gewaltausbrüchen aus der Wohnung gewiesen werden. Rechtlich sind die Causen klar, in der Praxis haben die Gerichte oft Mühe, ihre Urteile verständlich zu machen. „Wir können noch so viel begründen, dass der Vater sein Kind nicht sehen darf, weil er es schlägt. Wenn in der Familie diesen Standpunkt niemand teilt, stehen wir auf verlorenem Posten“, sagt die Richterin.

Polizei und Bundesheer

Seit 2009 patrouillieren in Großbritannien muslimische Polizistinnen mit Kopftüchern. „Sollte sich die Frage eines Tages bei uns stellen, wird man zwischen dem Wunsch, Kopftuch zu tragen, Sicherheitsaspekten und dem Auftreten in Uniform abwägen,“ sagt Innenministeriums-Sprecher Karl-Heinz Grundböck. Die Uniformtrageverordnung achtet auf das Auftreten der Ordnungshüter, allerdings redet bei der gültigen Fassung der Zeitgeist mit: Noch in den 1970er-Jahren durften Exekutivbeamte nur mit Zustimmung des Dienstgebers heiraten. So wollte man verhindern, dass gefährliche Elemente in das Korps einsickern. Als Polizeigewerkschafter Greylinger 1977 seinen Dienst antrat, hatte die Behörde schon ein paar Lockerungsübungen hinter sich: „Polizisten mit tätowierten Glatzen wie die Fußballer will ich nicht sehen“, sagt Greylinger. Laut aktuellem Aufnahmerlass sind „nach Lage oder Sitz jene Tätowierungen zulässig, die bei aufrechter Körperhaltung und angelegten Armen von der Sommeruniform (kurzes Hemd und lange Hose) verdeckt werden oder die rein kosmetischen Zwecken dienen (sog. Permanent-Make-up)“. Nicht immer sind die roten Linien so fix zu ziehen wie für Greylinger, etwa bei der Frage, ob polizeiliche Sonderkommandos die Kampfstiefel ausziehen sollen, wenn sie zu einer Razzia in einer Moschee ausrücken. Berliner Fahnder waren bei einem Einsatz im Vorjahr so höflich gewesen. Greylinger: „Die österreichische Staatsgewalt kommt beim Verdacht auf schwere Straftaten sicher nicht in Socken daher. Da hört sich jedes Entgegenkommen auf.“

Auch beim Bundesheer herrscht Uniformierungszwang. Frisur und Oberlippenbehaarung müssen beim ordentlichen Militärdiener sitzen. Bei Strenggläubigen drückt der Befehlshaber allerdings die Augen zu. Grundsätzlich dürfen Vertreter aller anerkannten Konfessionen beim Bundesheer ihren religiösen Pflichten nachgehen, und niemandem wird in der Kantine ein Schweinsschnitzel aufgezwungen. Muslime, die von der Islamischen Glaubensgemeinschaft bescheinigt bekommen, dass sie strenggläubig sind – rund 20 jedes Jahr, davon wird höchstens eine Handvoll auch von der Rasur befreit –, werden als Grundwehrdiener zunächst zur Garde abkommandiert und danach auf Dienststellen verteilt, wo sie ihre Gebete verrichten können. In der Maria-Theresien-Kaserne steht dafür ein eigener Raum zur Verfügung. Seine Auslastung ist dem Vernehmen nach eher bescheiden, denn die Gebetszeiten werden an die Dienstzeit angehängt, und das Gros der Rekruten zieht es vor, früher heimzugehen als untertags zu beten. So wichtig sind Allah & Co. dann auch wieder nicht. Neuerdings werden auch Hipster in den Reihen der jungen Soldaten gesichtet: Sie müssen allerdings ein Attest vom Arzt bringen, dass Glattrasieren ihrer Haut schadet, um sich einen profanen Rauschebart stehen lassen zu dürfen.

Auf der Straße

Frankreich mit seinen fünf Millionen Muslimen – unter ihnen schätzungsweise rund 2000 vollverschleierte Frauen – setzte 2010 den Auftakt im Reigen der Burka-Verbote. Belgien zog nach, in Barcelona, Spanien, herrscht Vermummungsverbot in öffentlichen Gebäuden. In Großbritannien wurde die Vollverschleierung immer wieder diskutiert, aber, so wie in Deutschland oder Österreich, nicht gänzlich verboten. Manfred Nowak, Menschenrechts-Experte und Anhänger einer vollständigen Trennung von Kirche und Staat nach dem Muster des französischen Laizismus, hält Burka-Verbote für bedenklich: „Jeder Mensch hat das Recht, sich innerhalb der Grenzen von Schicklichkeit und Anstand zu kleiden.“ Lodenhut oder Tschador, beides möglich.

Was tun mit Männern, die bisher fast nur verschleierte Frauen gesehen haben und nun als Flüchtlinge in einem Land leben, wo Frauen fast nackt auf die Straße gehen? Ali Gedik leitet eine Wohngemeinschaft für junge Flüchtlinge in Wien. 17 Burschen wohnen hier, drei von ihnen stammen aus Afghanistan, einer ist aus Algerien, einer aus dem Irak, der Rest aus Syrien. Gedik und seine Mitarbeiter – die Hälfte von ihnen Frauen – wechseln sich rund um die Uhr mit der Betreuung ab, und wenn es sich ergibt, reden sie mit den Burschen über Demokratie, Männlichkeit, Sex, Gewalt, Gleichbehandlung oder Präsidentschaftswahlen. „Ich leugne nicht, dass es jede Menge zu besprechen gibt, aber es kann dabei nicht um uns und die anderen gehen“, sagt Gedik: „Ich versuche den Burschen klarzumachen, dass man Kinder und Frauen an keinem Ort der Welt schlecht behandeln darf.“ Ein paar bleiben auf Distanz. „Man braucht halt Nerven und Geduld“, sagt Gedik.

Ist das zu viel an Sympathie? Vor Kurzem schrieb der arabisch-israelische Psychologe Ahmad Mansour, der in Deutschland mit radikalisierten Jugendlichen arbeitet, einen Essay in der „TAZ“, in dem er seinen „linken, progressiven Zeitgenossen“ ordentlich die Leviten las: Konservative Muslime dürften zu viel, weil Progressive ihnen zu viel durchgehen lassen und sie vor ihren muslimischen Kritikern in Schutz nehmen. Oft echauffieren wir uns über die falschen Dinge. Es gerät kein Pfeiler unserer demokratischen Ordnung ins Wanken, wenn ein alter Mann einer Frau die Hand nicht gibt, weil er das so gelernt hat. Einwanderer der zweiten und dritten Generation, die Frauen für minderwertige Geschöpfe halten oder den Islam über die Demokratie stellen, sind hingegen ein gravierendes Problem – und ein verbreitetes noch dazu: Kürzlich befragte die Uni Münster 1200 türkischstämmige Einwanderer: Ein Drittel sehnt sich nach einer Gesellschaftsordnung wie zu Mohammeds Zeiten, 36 Prozent meinen, nur der Islam löse die Probleme der Zeit.

Ob Vielfalt gut oder schlecht ist, ist ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die verkehrte Frage. Welche wollen wir? Seit fast zehn Jahren arbeitet die Wiener SPÖ-Stadträtin Sandra Frauenberger, zuständig für Integration, Frauen und Bildung, daran, dass die Stadtbevölkerung – die Hälfte hat Migrationshintergrund – sich in der Verwaltung widerspiegelt. „Der Stadt tut das gut, je näher man anderen kommt, desto weniger Ressentiments gibt es.“ Frauenberger sagt, sie wolle Probleme etwa in den Schulen nicht kleinreden: „Aber die Debatten sind gefährlich. Wenn Probleme hochgespielt werden, bekommen Menschen das Gefühl, jetzt geht nichts mehr. Und das ist einfach nicht wahr.“ Reinhard Kreissl, Soziologe und Gründer des Wiener Zentrums für Sozialwissenschaftliche Sicherheitsforschung, hält sich bei der Frage, was Muslime dürfen, an den Philosophen Richard Rorty: „Die großen Probleme der Menschheit werden nicht gelöst, sondern langweilig und irgendwann vergessen.“ Anders ausgedrückt: Lieber auf die kleinen Schlachten im Alltag schauen, als die großen ums Abendland führen. Fremdes wird einverleibt, Altes verworfen: „Auch das Recht ist ein lebendes System. Es sollte moralische Mindeststandards sichern und nicht festschreiben, welche Kultur die richtige ist.“

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges