Manuela Ertl

Ist da jemand? Staat lässt Flüchtlingshelfer im Stich

Die Bereitschaft, Flüchtlingen zu helfen, ist immer noch groß. Doch je länger der Krieg dauert, desto lauter wird die Kritik, dass der Staat die privaten Helfer allein lässt.

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Manuela Ertl, Gründerin der Flüchtlingshilfe "Train of Hope", kommt vom Tierarzt. Der Hund einer Krebspatientin hat ein gebrochenes Bein, das jetzt in einer roten Gipsbandage steckt. In der Spielecke treten ein paar Kinder in die Pedale von Plastiktraktoren, während ihre Mütter Wasserflaschen auffüllen, Handys aufladen, WhatsApp-Nachrichten verschicken, in den aufgestellten Kartons nach einem frischen T-Shirt suchen oder einfach dasitzen und ins Leere starren. Woran denken sie? An zu Hause, an das, was auf sie zukommt?

Normalerweise wird in der "Sport & Fun"-Halle hinter dem Wiener Praterstadion trainiert oder Volleyball gespielt. Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist sie eine der ersten Anlaufstellen für Flüchtlinge, samt Teststraße, Datenerfassung, Babywickelraum, Kantine und Auslauf für Haustiere. Anfangs landeten hier täglich 1200 und mehr Menschen, vor allem Frauen und Kinder, mittlerweile sind es zwischen 100 und 300, unter ihnen immer öfter Ältere, Gebrechliche, Menschen mit Behinderungen. Müde sind alle. "Manchmal bleiben ihre Busse stecken, weil an den Grenzen Männer im wehrfähigen Alter herausgeholt werden", sagt Ertl.

Immer noch wird gespendet, angepackt, organisiert. Zwei Monate sind seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vergangen. Warnende Stimmen werden lauter: Es reiche nicht, helfen zu wollen. Man müsse es auch können. Das offizielle Österreich brüste sich, ukrainischen Flüchtlingen ohne Wenn und Aber beizustehen. In der Praxis sei davon zu wenig spürbar, klagen jene, die Tag für Tag im Einsatz sind: Zu viel hänge an Freiwilligen. Flüchtlingskoordinator der Regierung, Michael Takacs, sieht seine Aufgabe nach eigenem Bekunden darin, "dass alle, die aus der Ukraine zu uns kommen, ein Dach über dem Kopf haben, versorgt sind und ein Bett haben". 48.500 Plätze in knapp 10.000 Quartieren seien bisher bei der BBU eingemeldet und an die Bundesländer weitergegeben worden. Tenor: alles bestens.

Ein Dach, ein Bett und Essen am Teller seien nicht genug, monieren hingegen die Kritiker. Der große Rest-von Kinderbetreuung über Zugang zu sozialen Leistungen und Pflege bis zu AMS-Anmeldungen und der Suche nach Schulplätzen - falle Chaos und Zufall anheim. Inzwischen appellieren NGO-Vertreter gar, das Innenministerium möge bei Evakuierungen aufpassen. Stelle sich, wie im Fall eines querschnittgelähmten Mannes, der aus Moldau geholt und in ein Wiener Spital gebracht wurde, heraus, dass niemand daran gedacht hat, dass er langfristige Pflege brauche, sei der Frust groß. "Dafür gibt es die Plätze in der Grundversorgung nicht, und die Gesundheitskasse ist bei solchen Aktionen nicht einmal eingebunden", kritisiert Lukas Gahleitner vom Verein Asylkoordination. Es ist eine von vielen Beschwerden.

Im Ankunftszentrum in der Wiener Engerthstraße bringt jeder neue Tag eine Flut von komplexen Schwierigkeiten, brennenden Anliegen und verrückten Geschichten. Die "Train of Hope"-Helferin Nina Andresen gönnt sich vor der Halle eine kurze Pause in der Sonne, als Nadiya* vorbeikommt. Die Ukrainerin hat auf ihrem Handy Bilder einer verdreckten Wohnung. Der Besitzer habe sich als wohltätiger Quartiergeber dargestellt, in Wirklichkeit aber eine Putzfrau und Bettgefährtin gesucht. Sie habe es mit der Angst zu tun bekommen und mit ihrem zwölfjährigen Sohn das Weite gesucht. Über Facebook habe sie eine Wohnung gefunden, in der sie nun zwar Ruhe habe, es aber sonst an allem fehle. Flüchtlingshelferin Andresen winkt einem Mann, der Mehlspeisen aus dem Auto lädt. Er spricht Polnisch und Russisch und wird Nadiya helfen, Matratzen, Decken, Polster und einen Handwerker aufzutreiben, der ein paar Glühbirnen aufhängen kann.

Wer im Ankunftszentrum in der Wiener Engerthstraße verschnauft, bekommt oft nicht nur unbürokratische Hilfe, sondern auch Informationen für das nächste Stück des Wegs. Ein Wiedersehen ist nicht vorgesehen. Dennoch kehren nicht wenige mehrfach zurück, sei es, weil sie auf die Auszahlung der Grundversorgung warten, sei es, weil das Verpflegungsgeld in der Höhe von 215 Euro monatlich - für Kinder gibt es zusätzlich 100 Euro - nicht reicht.

*Name von der Redaktion geändert

"Reihenweise stehen hier Mütter mit Tränen in den Augen, weil sie kein Essen kaufen oder ihr Baby nicht wickeln können", sagt "Train of Hope"-Helferin Ertl. Und: "Natürlich helfen wir." Möglich ist dies dank privater Spenden, die öffentliche Hand hat bis dato kein Budget dafür losgeeist. Ertl denkt nun darüber nach, ein Community Center aufzubauen. Auch dafür wären Bund und Länder zuständig. Dort soll es um all die Fragen gehen, um die es im Ankunftszentrum nicht gehen sollte.

Flüchtlingshelfer haben gute Chancen, zu Adressaten von flehentlichen Anrufen zu werden. Dazu gehört auch der Topmanager Cornelius Granig, der in der Ukraine als Generaldirektor von Siemens gearbeitet hat, und nun den ukrainischen Botschafter in Österreich berät. Oft seien Frauen aus schmutzigen Quartieren zu verlegen, müssten Therapieplätze für Kinder aufgestellt oder hilflose Pensionisten untergebracht werden. Er appelliert an die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung: "Warum optimiert die öffentliche Hand die bürokratischen Prozesse nicht mit den Mitteln der Digitalisierung? Ich würde gerne mit ihnen darüber sprechen, wie sich durch modernes E-Government die Situation nachhaltig verbessern ließe." Die Zivilgesellschaft könne dem Staat eine Atempause verschaffen, um taugliche Strukturen aufzubauen, sie sei aber nicht dafür da, "die Aufnahme von Flüchtlingen auf Dauer zu schaukeln", bekräftigt Asylkoordination-Sprecher Gahleitner.

Ottensheim hat schon bei der Flüchtlingsbewegung 2015 und 2016 geholfen. Nun hilft man wieder. Etwa 30 ukrainische Frauen und Kinder landeten in der knapp 5000 Einwohner zählenden Gemeinde nördlich von Linz. Man richtete ein Kontaktbüro ein, aktivierte die alten Verbindungen, setzte Wohnungen instand und könnte stolz auf das Geleistete sein, wäre da nicht auch ein Ärger. Die Helfer von "Willkommen Ottensheim" fühlen sich im Stich gelassen. Josef Geißler, Mitglied der Initiative, sagt, jedes Mal, wenn der Flüchtlingskoordinator sich für die "schnelle und unbürokratische" Versorgung der Vertriebenen lobe, klinge das in seinen Ohren wie "blanker Hohn". 2015 sorgte die Caritas für Kost, Logis, rechtliche Beratung und soziale Betreuung für die Flüchtlinge. 2022 bleibe "so gut wie alles" an der Initiative hängen. Sie sei es, die für Frauen und Kinder eine Bleibe zur Verfügung stelle, Lebensmittel auftreibe, wenn das Geld ausgeht, Dolmetscher, Kindergartenplätzen und Schulen suche, zum Arzt, zum AMS und zu Behörden begleitet. Manchmal seien sie auch noch Auskunftspersonen, "obwohl wir selbst Informationen dauernd nachlaufen", so Geißler: "Bund und Land halten sich aus der Verantwortung heraus. Die Flüchtlinge werden registriert, das war es im Wesentlichen dann."

Die 2004 eingeführte Grundversorgung hatte schon vor der Ukraine-Krise gravierende Schwächen. Christoph Riedl, Flüchtlingsexperte der Diakonie, spricht von einem "kaputten System". Die Tagsätze von 21 auf 25 Euro anzuheben, wie nun beschlossen, reiche nicht als Reparatur. Im Bestreben, Asylwerber abzuschrecken, habe man "Schikanen" geschaffen, die mit dem Anspruch, Geflüchtete schnell auf eigene Beine zu stellen, nicht kompatibel seien. Auch den Pflegenotstand oder fehlende Plätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gab es bereits vorher. Warum fällt das jetzt so richtig auf? Die Flüchtlinge aus der Ukraine sind anders als frühere: Ihre Einreise ist legal, sie müssen sich nicht in die Hände von Schleppern begeben, deshalb gelingt auch Waisenkindern, Pflegebedürftigen und Behinderten die Flucht. Als kürzlich fast 300 Gehörlose in Wien landeten, hatte niemand die Freiwilligen darauf vorbereitet. Und niemand hatte sie gewarnt, dass jede Sprache ihre eigene Gebärdensprache hat.

Irmgard Joo leitet mehrere Caritas-Einrichtungen und neuerdings das Haus "Mira" in Wien-Floridsdorf. Der Name ist vom russischen Wort "Mir" inspiriert. Es bedeutet Welt, aber auch Frieden. Hier sollen Flüchtlinge in 56 Garconnieren mit Küche, Bad und WC unterkommen. Noch wird im Gebäude gewerkt. Als die Caritas vor zwei Wochen Dutzende Vertriebene aus Odessa ankündigte, hoffte die Einrichtungsleiterin, fehlende Möbel würden schneller da sein als die Kriegsflüchtlinge. Die Stadt Wien karrte 70 Betten heran. "Am Anfang waren wir ziemlich überfordert, weil wir nicht wussten, wie krank die Menschen sind", sagt Joo. Eine Dialyse-Patientin war darunter, ein pflegebedürftiger 94-Jähriger, ein Familienvater mit Sehbehinderung, ein autistisches Mädchen. "Nach dem ersten Schock haben wir gemerkt, wie bedürftig, aber auch dankbar die Menschen sind." Syrische und afghanische Asylwerber meldeten sich als Freiwillige, stellten Tische und Bänke auf. Heimleiterin Joo sagt, sie haben ihnen "angesehen, wie konsterniert sie waren, als sie mitgekriegt haben, was bei Ukrainern im Vergleich zu ihnen möglich ist."

 

Wird es reichen? Im Bund geht man davon aus, dass 150.000 bis 200.000 ins Land kommen könnten. Auf welche sozialen Leistungen können sie zählen? ÖVP-Klubchef August Wöginger schien nicht abgeneigt, Vertriebenen die Sozialhilfe zu öffnen. Doch die ÖVP ruderte gleich wieder zurück. Es wäre ein Game Changer, weil sich daran Kinderbetreuungsgeld und Familienbeihilfe knüpfen. Im Hintergrund geht es ums Geld. Die Grundversorgung teilen sich Bund (60 Prozent) und Länder (40 Prozent);die Mindestsicherung ist Ländersache. "Lösen lässt sich das nur gemeinschaftlich, kein Land schafft das allein", sagt Susanne Winkler, stellvertretende Geschäftsführerin im Fonds Soziales Wien (FSW). Fußangeln gibt es auch in der Sozialhilfe. "Geflüchtete in Grundversorgung erhalten ein Dach über dem Kopf. Mit der Sozialhilfe landen sie sofort in der freien Wildbahn und müssen sich am privaten Markt etwas zum Wohnen suchen", sagt Martin Schenk, Sozialexperte der Armutskonferenz. Schlau wären flexible Regeln. So könnte das System der Mindestsicherung etwa nur für jene aufgemacht werden, die gleich einen Job finden. Für alle anderen sollte der Staat im ersten Jahr für eine Unterkunft sorgen.

Leistbarer Wohnraum wird zum brennenden Anliegen. Daran ändert auch die Tatsache wenig, dass noch nie so viele Quartiere für Flüchtlinge angeboten wurden wie anno 2022.90 Prozent der rund Ukrainerinnen und Ukrainer in Grundversorgung wohnen privat. Familien rückten zusammen, um Platz zu schaffen. Umbauten wurden aufgeschoben, Wochenend-Domizile zur Verfügung gestellt. Was passiert, wenn es den privaten Helfern reicht? "Dann werden die organisierten Unterkünfte, die jetzt zugesperrt werden, weil sie nicht ausgelastet sind, wieder gebraucht", sagt Christian Schörkhuber von der Volkshilfe Oberösterreich. Und woher kommt dann das Personal, Sozialarbeiter, Pflegerinnen, Übersetzer? Susanne Winkler sitzt im Ukraine-Krisenstab der Stadt Wien. "Österreich wächst unerwartet stark. Das fordert uns in allen Bereichen, im Kindergarten, in der Schule, im Behindertenbereich, in der Pflege und in der Grundversorgung." Noch harrt das Gros der Ukrainerinnen und Ukrainer in Nachbarregionen aus, in Polen oder Moldawien. Doch je länger die Bombardierungen dauern, desto mehr werden sich in Bewegung setzen. Regeln für ihre europaweite Verteilung gibt es nicht. Und Krieg gibt es nicht nur in der Ukraine. Derzeit sind 68.000 Personen österreichweit in Grundversorgung, etwa 40.000 davon sind ukrainische Staatsbürger.

Taras Demyanets arbeitet als IT-Manager bei der Erste Bank. Wenn es die Zeit erlaubt, zieht er sein Caritas-Gilet an, hängt sich ein Schild um - Dolmetscher, steht auf Ukrainisch darauf - und geht in die Kantine am Erste Campus hinter dem Wiener Hauptbahnhof, wo er früher zu Mittag gegessen hat. Nun ist hier ein von der Caritas betreutes Tageszentrum für durchreisende ukrainische Vertriebene. Sein Arbeitgeber, die Erste Bank, spendiert Essen-anfangs 2000 pro Woche, mittlerweile rund 1000 - außerdem Duschen, eine Gepäckaufbewahrung, ein Display mit aktuellen Zugverbindungen. Das kostbarste Gut auf der Flucht ist schnelle, präzise und akkurate Information. Julia aus Odessa verewigte sich im Gästebuch: "I wish everyone strength, we are going through it. Just stay strong. Lots of love." In den vergangenen Wochen hat Demyanets viel zugehört. Weil er als Informatiker gewöhnt ist, die Welt systematisch zu ordnen, bringt er zum profil-Termin zwei Listen mit. Auf der ersten steht, was aus Sicht der Flüchtlinge gut läuft: die erste, oft unbürokratische Hilfe, die kostenlosen öffentlichen Verkehrsmittel, SIM-Karten, Kleidung, Verpflegung. Auf der zweiten Liste versammeln sich Kritikpunkte: fehlende rechtliche Aufklärung bei ungeeigneten Unterkünften, schleppende Auszahlung der Grundversorgung.

Am Dienstag beraten wieder einmal die Flüchtlingsreferenten der Länder. Der Gesprächsstoff wird ihnen nicht ausgehen.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges