Interview

Karas: "Menschen haben es satt, wenn sich Parteien ständig mit sich selbst beschäftigen"

Othmar Karas, Erster Vizepräsident des EU-Parlaments, führt den Höhenflug der FPÖ auf ein Versagen der Mitte zurück und legt ein Buch zur Asylpolitik vor.

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Sie sind Niederösterreicher. Welche Lehren ziehen Sie aus dem Wahlergebnis?
Karas
Quer durch Europa bereiten dieselben Themen den Menschen Sorgen. Daher sollte uns dieses Wahlergebnis zu denken geben. Permanente Zuspitzung und ständiger Krisenalarm bedienen nur die politischen Ränder. Die Mitte verliert an Gewicht. Das trifft ÖVP und SPÖ. Es ist ein Fehler, sich an die Ränder anzubiedern und deren Politik zu kopieren. Davon profitieren nur die hemmungslosen Nationalisten und skrupellosen Vereinfacher. 
Wen meinen Sie mit Rändern? Die FPÖ?
Karas
Ja, aber nicht nur. Wir erleben Polarisierung in der Gesellschaft, Politik der Schuldzuweisungen statt der Suche nach Lösungen. Und eine Auseinandersetzung, die sich am nächsten Wahlergebnis orientiert, statt Zukunft zu gestalten. Das hilft den Vereinfachern. Daher ist es wichtig, dass ÖVP und SPÖ in die Mitte zurückkehren und sich nicht mit Wer-bietet-mehr überbieten. Die SPÖ hat in der Teuerungsdebatte immer neue Forderungen erhoben, damit aber nur den rechten Populisten geholfen.
Ein wichtiges Wahlmotiv war Asylpolitik.
Karas
Seit Jahren liegt ein EU-Asylpaket auf dem Tisch. Es fehlt der politische Wille, eine Mehrheit dafür zu finden. Eine gemeinsame EU-Asylpolitik würde gerade auch Österreich helfen. Denn auch den Außengrenzschutz können wir nur gemeinsam sicherstellen.
Damit kritisieren Sie die ÖVP, die etwa ein Veto gegen den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien einlegte.

 

Karas
Die Schengen-Blockade war inhaltlich falsch. Jeder nationale Fleckerlteppich verhindert eine gemeinsame EU-Asyl-und Migrationspolitik. Unser Ziel muss sein, dass die Schengengrenze und die EU-Außengrenze ident sind.
Sie veröffentlichen ein Buch über Asyl mit dem optimistischen Titel "So schaffen wir das".
Karas
Ich will die Spaltung überwinden, habe mich daher intensiv mit dem Thema Asyl und Migration beschäftigt und mit Expert:innen aus Politik und Wissenschaft das Buch verfasst. Der Kern: Wir brauchen einen gemeinsamen EU-Außengrenzschutz, der Rechtssicherheit bietet, ein einheitliches EU-Asylverfahren mit solidarischer Verteilung und eine besser koordinierte Hilfe vor Ort. Und bei all dem muss man die Menschenrechte hochhalten und zwischen Asyl und Migration unterscheiden. Arbeitsmigration ist eine Notwendigkeit.
Die Menschenrechte werden von der FPÖ infrage gestellt, auch ÖVP-Klubchef August Wöginger will die Menschenrechtskonvention überarbeiten.
Karas
Ich werde immer die Stopptaste drücken, wenn derartige Debatten beginnen. Eine liberale Demokratie baut auf Einhaltung des gemeinsamen Rechts. Die Charta der Vereinten Nationen, die Genfer Flüchtlingskonvention, die EMRK sind auf Punkt und Beistrich einzuhalten. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben die Lehren aus dem Fluchtjahr 2015 nicht gezogen. Seit 2015 weiß man, dass wir ein gemeinsames Asyl-und Migrationsrecht brauchen. Die Vorschläge dafür liegen am Tisch, werden aber nicht umgesetzt. Stattdessen werden Überfremdungsängste geschürt. Dieses Verlassen der Mitte, die Nationalisierung statt der Europäisierung, ist ein Fehler.
Hat auch die ÖVP in der Asyl-und Migrationsfrage die Mitte verlassen?
Karas
Phasenweise ja, das haben wir in der Schengen-Frage bei ÖVP und SPÖ gesehen. Das ist eine Fehlentwicklung im Umgang mit komplexen Themen. Das niederösterreichische Wahlergebnis zeigt die Konsequenzen. Mit dem Daueralarm stärkt man nur die Ränder.
Leidet die Politik generell unter einer Vertrauenskrise?
Karas
Eindeutig. Ich halte die Reduzierung auf Kurzfristigkeit, auf taktische Spielchen, auf Meinungsumfragen und Wahltermine für einen Fehler. Menschen haben es satt, wenn sich Parteien ständig mit sich selbst beschäftigen. Wir sind nicht auf unsere Parteiprogramme angelobt, sondern auf die Verfassung. Den Vertrauensverlust können wir nur wieder gutmachen, indem wir gemeinsam nach Lösungen suchen. Und die Generalsanierung von Staat und Demokratie vorantreiben. Die gleichzeitigen multiplen globalen Herausforderungen sind die schwierigsten seit 1945. Der Höhenflug der FPÖ ist nicht primär ein Erfolg der FPÖ, er beruht auf dem Versagen der Parteien der Mitte.

Angst ist nie ein guter Ratgeber.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen will die FPÖ nicht zur Kanzlerpartei küren. Hat er recht?
Karas
Man sollte nicht darauf warten, bis sich diese Frage für den Herrn Bundespräsidenten stellt. Die anderen Parteien haben es in der Hand. Die Mitte muss wieder das Heft in die Hand nehmen. Angst ist nie ein guter Ratgeber. Ich erwarte mir, dass der EU-Gipfel zum Thema Asyl die Wende von der Schuldzuweisung zur Lösung vollzieht.
Ist Herbert Kickl als Kanzler vorstellbar?
Karas
Wer Gesellschaften spaltet, wer die Rechts-und Wertegemeinschaft infrage stellt, ist ungeeignet als Führungskraft in einer Regierung. Die Politik des Herrn Kickl hat noch in keiner einzigen Frage einen Beitrag zur Lösung von Problemen geleistet.
Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin