Koalitionsverhandlungen: ÖVP mit SPÖ ohne FPÖ – geht das gut?
Von Gernot Bauer und Iris Bonavida
Schriftgröße
Das Gute an Phrasen und Pathos ist, dass sie lange halten. Die Präambel für das zukünftige Koalitionsprogramm könnte man schon drucken: „Die Sozialdemokratische Partei Österreichs und die Österreichische Volkspartei verbindet der Glaube an Österreich, das feste Vertrauen in die Stärke der Österreicherinnen und Österreicher und der Wille, die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam zu bewältigen. Die letzten Jahre der Krise haben eines deutlich gezeigt: Die konstruktive Zusammenarbeit von zwei unterschiedlichen politischen Kräften hat Österreich gut durch schwierige Zeiten geführt.“
Der Text stammt vom Dezember 2013, als sich ÖVP und SPÖ zum vorerst letzten Mal auf einen Koalitionspakt einigten. Der rote Bundeskanzler hieß Werner Faymann, der schwarze Vizekanzler und Finanzminister Michael Spindelegger. Gemeinsam verfügten sie mit 99 von 183 Mandaten über eine ausreichende Mehrheit im Nationalrat.
Elf Jahre später sollen die heutigen Parteichefs Karl Nehammer, ÖVP, und Andreas Babler, SPÖ, das Kunststück wiederholen, diesmal unter schwarzer Führung. Aber kann zusammenfinden, was eigentlich nicht zusammengehört? Und das unter erschwerten Bedingungen, weil für eine stabile Regierungsmehrheit eine dritte Partei – NEOS oder Grüne – notwendig ist?
Der Bundespräsident jedenfalls will es so. Alexander Van der Bellen erwartet sich – wie er es Dienstagmittag in der Hofburg formulierte – eine „integre“ Bundesregierung. Am Vormittag hatte er Nehammer den Regierungsbildungsauftrag erteilt. Noch am Vorabend herrschte im Kanzlerbüro Ungewissheit. Würde der Präsident allein Nehammer beauftragen oder ein weiteres Experiment wagen und die Chefs von ÖVP und SPÖ zusammen zu Verhandlungen auffordern?
Karl, der Redliche
Nehammer nahm den Auftrag „in aller Redlichkeit und Ernsthaftigkeit an“. Der übergangene FPÖ-Obmann Herbert Kickl blieb ruhig. Seine Fans ließ er in sozialen Medien wissen, es sei noch nicht „aller Tage Abend“. Und: „Ich bin davon überzeugt, dass die Schönheit der Demokratie darin besteht, dass die Durchsetzung des Wählerwillens zwar mitunter gebremst und verlangsamt, aber letztendlich nicht verhindert und gestoppt werden kann.“
Es war eine versteckte Kritik an Van der Bellen, der in seinem Statement in aller Breite referierte, was aus Nehammers und Bablers Warte gegen eine Zusammenarbeit mit Herbert Kickl spricht: Sorgen um die liberale Demokratie; die mangelnde proeuropäische Haltung der FPÖ; ihre Putin-Nähe; die herabwürdigende Sprache; ein rückwärtsgewandtes Frauenbild und die fehlende Abgrenzung vom Rechtsextremismus.
Statt ihres Bundesparteiobmanns ließen die blauen Landeschefs Dampf ab: Van der Bellen habe mit seiner Entscheidung „sein Amt beschädigt“, kritisierte Oberösterreichs Landeshauptmann-Stellvertreter Manfred Haimbuchner. Der steirische FPÖ-Landesparteiobmann Mario Kunasek ortete „eine Missachtung des Wählerwillens“, sein Wiener Kollege Dominik Nepp gar „einen schwarzen Tag für die Demokratie“. Die blaue Salzburger Landeshauptmann-Stellvertreterin Marlene Svazek warnte vor einer „Koalition der Gescheiterten“, die „weitere fünf verlorene Jahre“ bringe.
Karl Nehammer muss den Gegenbeweis fünf guter Jahre erbringen. In der Theorie weiß er, was jetzt notwendig ist – und was nicht. In seinem Statement Dienstagnachmittag hielt er fest, das Wahlergebnis sei kein Auftrag für ein „Weiter-wie-bisher“. Nun brauche es „Veränderungen und Reformen, um die Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können“. Dafür sei eine „stabile, von einer breiten Mehrheit im Nationalrat getragenen Bundesregierung“ nötig, so Nehammer. Soll heißen: eine Dreier-Koalition.
Doch ein Doppel?
Nicht alle in den ehemaligen Großparteien ÖVP und SPÖ sehen das so. Nach wie vor kursiert die Variante, ein schwarz-rotes Doppel zu wagen, auch wenn dessen Mehrheit im Nationalrat nur mit einem Mandat abgesichert wäre. Dennoch sei dies immer noch stabiler als ein Dreierbündnis, da politische Tauschgeschäfte, wie sie in einer Regierung notwendig seien, zu dritt undurchführbar wären. Und für die bei Verfassungsbestimmungen notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat brauche man ohnehin eine vierte Fraktion.
Doch der Kanzler hat gesprochen, damit ist die Sache erledigt. SPÖ-Vorsitzender Andreas Babler zeigte sich Dienstagnachmittag „offen“ für „konstruktive Gespräche“. Bedingung sei, reale Verbesserungen für die Bevölkerung umsetzen zu können. Denn „ein Weiter-wie-bisher“ wolle er nicht. Die ersten informellen Sondierungsgespräche sollen ab Freitag stattfinden. So richtig los geht es nach den Herbstferien.
Dass Nehammer und Babler dasselbe Wording benutzen, ist wohl kein Zufall. Offiziell trafen die Parteichefs von ÖVP und SPÖ dem Wunsch des Bundespräsidenten folgend Mittwoch vergangener Woche zusammen. Inoffiziell gab es bereits mehrere Termine, unter vier Augen oder im Zwei-plus-zwei-Format. Nehammer nahm seinen Kabinettschef Andreas Achatz mit und Babler SPÖ-Bundesgeschäftsführerin Sandra Breiteneder.
In den Gesprächen ging es weniger um Inhalte als um Vertrauensbildung. Soll eine Koalition halten, muss das Spitzenduo harmonieren. Im ORF-Duell waren Nehammer und Babler aneinandergeraten, aggressiv der ÖVP-Obmann, herablassend der SPÖ-Vorsitzende. Der Clash ist mittlerweile verarbeitet.
In ihren früheren politischen Leben hatten die beiden nur ein Mal miteinander zu tun. Während der Coronapandemie kam es auch im (dem Innenministerium unterstehenden) Flüchtlingsaufnahmezentrum Traiskirchen zu gefährlichen Covid-Ausbrüchen. Der zuständige Innenminister Karl Nehammer kooperierte mit dem damals verantwortlichen Bürgermeister Andreas Babler. Hin und wieder kam es auch zu Scharmützeln zwischen Innenministerium und Gemeinde wegen der Überbelegung des Aufnahmezentrums. Heftige Kritik am Innenministerium übte Babler im Jänner 2021, als drei georgische Schülerinnen abgeschoben wurden.
Niederösterreich verbindet
Wie schon im Wahlkampf strapaziert der SPÖ-Vorsitzende weiterhin die Nerven seiner Parteifreunde, indem er sich nur mit seinem engsten Kreis, darunter Breiteneder und ihr Co-Geschäftsführer Klaus Seltenheim, abspricht. Babler ist und bleibt alles andere als ein zugänglicher Parteichef.
Aber nun muss er umso intensiver mit dem ÖVP-Obmann kommunizieren. Als niederösterreichischer Kommunalpolitiker dürfte der Traiskirchener seine Erfahrungen mit dem Machtanspruch der Volkspartei gemacht haben. Nehammer, wiewohl Wiener, wurde in der niederösterreichischen ÖVP sozialisiert. Als Geschäftsführer der Parteiakademie und Leiter der Kommunalabteilung der Landespartei war er für die Betreuung der schwarzen Funktionäre zuständig.
Doch nicht nur Niederösterreich verbindet den ÖVP-Obmann und den SPÖ-Vorsitzenden. Nach dem Grundwehrdienst waren beide Zeitsoldaten, Nehammer als Offizier, Babler als Charge. De facto haben beide ihr gesamtes Berufsleben in der Politik verbracht. Ihr Werkzeug ist die politische Kommunikation. Ihr Rüstzeug holten sich Nehammer und Babler im Universitätslehrgang Politische Kommunikation an der Donau-Universität Krems unter Leitung des Politik-Professors Peter Filzmaier. Daher dürfen die Kommilitonen ihrem Namen den Titel „MSc“ (Master of Science) nachstellen.
Ob sie Meister der Koalitionsverhandlungen sind, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Karl Nehammer nominierte für sein Team Klubobmann August Wöginger, Jugend-Staatssekretärin Claudia Plakolm, Generalsekretär Christian Stocker, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler und Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer. In Andreas Bablers Truppe finden sich die Dritte Nationalratspräsidentin Doris Bures, Klubobmann Philip Kucher, Bundesfrauenvorsitzende Eva-Maria Holzleitner und ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian.
Hoffnung Sozialpartnerschaft
Vor allem von Mahrer und Katzian wird es abhängen, ob ÖVP und SPÖ ihre inhaltlichen Differenzen überwinden können. Die Sozialpartner-Achse funktionierte auch während der vergangenen Jahre, als zwischen Schwarz und Rot aufrichtige Feindschaft herrschte. Auch im Parlament gab es seit Jahresbeginn wieder Annäherungsversuche – der gemeinsame Gegner Herbert Kickl machte es möglich. Im sogenannten „Rot-Blauen Machtmissbrauch-Untersuchungsausschuss“ im Frühjahr schonten die ÖVP- und SPÖ-Abgeordneten einander. Die Schwarzen verzichteten auf die Ladung von roten Spitzenpolitikern – und umgekehrt. Im Mittelpunkt standen stattdessen Kickl und dessen Wirken als Innenminister.
In der Steiermark, in Kärnten und Tirol ist die Große Koalition das bewährte Modell. In Graz und Innsbruck regiert jeweils ein ÖVP-Landeshauptmann mit der SPÖ, in Klagenfurt der SPÖ-Landeshauptmann mit der Volkspartei. Auch Wiens Bürgermeister Michael Häupl und Doris Bures gelten als Anhänger einer Neuauflage der Großen Koalition.
Diese ist die längstgediente Regierungsform der Zweiten Republik. Von 1945 bis 1966 regierte Schwarz-Rot das Land, von 1986 bis 2000 und von 2007 bis 2017 Rot-Schwarz. In den meisten EU-Staaten ist eine derartige Koalition unüblich und nur in Krisensituationen opportun. Solche Bündnisse, so die Denkart, sind nur für große Aufgaben vorgesehen. In Österreich war dies der EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1995, den SPÖ und ÖVP in seltener Einigkeit und Entschlossenheit durchzogen. Schon damals dagegen: die FPÖ.
Große Aufgaben würden auch im Jahr 2024 anstehen. Einen Teil davon erwähnte Nehammer in seinem Statement am Dienstag, als er „Kernfragen und inhaltliche Schwerpunkte“ für die Verhandlungen definierte: Standortpolitik und Wettbewerbsfähigkeit, Migration und Integration, Pflege und ein Gesundheitssystem mit kurzen Wartezeiten – Letzteres ist wohl bereits der Versuch eines Entgegenkommens gegenüber der SPÖ. Im Wahlkampf hatte Andreas Babler eine – unrealistische – Garantie für einen Arzttermin innerhalb von 14 Tagen gefordert.
Ein hochrangiger SPÖ-Funktionär nennt im Gespräch mit profil dieselben Themen wie Nehammer. Was die Parteien zu Beginn der Verhandlungen verbindet, sind Äußerungen aus dem Wahlkampf, in dem Nehammer und Babler behaupteten, Österreich werde kein Sparpaket brauchen. Vier Tage nach der Wahl hob das Finanzministerium allerdings die Prognose für das öffentliche Budgetdefizit an. Österreich liegt damit über dem EU-Schuldenlimit.
Also wird die neue Regierung mit mehr Einnahmen oder weniger Ausgaben das Budget sanieren müssen. Die SPÖ will den Spitzensteuersatz von 55 Prozent behalten (er läuft 2025 aus), Vermögen und Erbschaften besteuern (die ÖVP lehnt das ab) und die Körperschaftssteuer auf Einkommen bestimmter Unternehmen auf 25 Prozent wieder erhöhen (die ÖVP möchte sie auf bis zu 15 Prozent reduzieren). Steuererleichterungen will die Volkspartei unter anderem mit Kürzungen der Sozialleistungen gegenfinanzieren, die für die SPÖ nicht infrage kommen.
Ein Modus für Streitfälle
Aus beiden Parteien heißt es, man gehe offen in die Verhandlungen, müsse aber nicht „um jeden Preis“ abschließen. Anzunehmen ist, dass die größten Probleme schon vor dem Beginn der eigentlichen Verhandlungen in Untergruppen gelöst werden. Gibt es keine Einigung, bietet sich ein Mechanismus aus der derzeitigen Regierung an. In ihrem Koalitionspakt einigten sich Schwarz und Grün darauf, unlösbare koalitionäre Streitfragen bei Migration und Asyl dem freien Spiel der Kräfte im Nationalrat zu überlassen.
Die Haltbarkeit einer Koalition wird umso größer sein, je detaillierter das Regierungsprogramm ausfällt. Das gilt noch mehr für ein Dreier-Bündnis. Kommod wäre es für ÖVP und SPÖ, sich zunächst auf ein grobes Programm zu einigen – und dann die NEOS dazuzuholen. Die Kleinpartei will aber nicht als Junior-Partner im Abseits stehen, sondern von Beginn an mitreden. Wenn man schon verhandelt, dann sollte es von Anfang an mit allen Partnern sein. Ihre Vorstellungen teilten die Pinken ihren potenziellen Partnern bei vertraulichen Gesprächen auf neutralem Boden im Parlament mit: große Reformen im Steuer-, Bildungs- und Verwaltungsbereich.
Das Koalitionsprogramm muss auch deswegen Akzente der NEOS beinhalten, weil es sonst wohl nicht den Sanctus der Mitglieder bekommen würde. Wie auch die Grünen hat die Partei in ihren Statuten eine Abstimmung über einen Koalitionspakt festgelegt. Die Grünen sollen angeboten haben, den NEOS vor den Verhandlungen ein paar Ratschläge über den Umgang mit der ÖVP zu geben.
Um in der Dreier-Koalition nicht unterzugehen, müssen die NEOS darauf bestehen, im Parlament nicht von der schwarz-roten Mehrheit überstimmt zu werden. Schon in einem Zweier-Bündnis sind Minister als Regierungskoordinatoren für das Koalitionsmanagement unabdingbar. Zu dritt wird der Feintuning-Bedarf noch größer sein.
Ministerliste
Auch wenn es die Beteiligten leugnen, wird nicht erst am Ende, sondern schon zu Beginn auch über Posten verhandelt. Die ÖVP wird neben dem Bundeskanzler den Finanzminister und den Innenminister stellen wollen. Die Ressorts Wirtschaft und Landwirtschaft hält sie ohnehin für ihre Erbhöfe. Die SPÖ wird wohl die Bereiche Arbeit, Soziales und Frauen beanspruchen, die NEOS eventuell Bildung oder das Justizressort. Auf das Außenministerium könnten alle drei Parteien Lust haben.
Wie die Freiheitlichen glauben auch die Grünen, dass noch nicht aller Tage Abend ist, und sie am Ende in der Regierung bleiben könnten. ÖVP und SPÖ werden sich die grüne Option offen lassen, sei es auch nur aus taktischen Gründen, um die NEOS unter Druck setzen zu können. Auch als Oppositionspartei bleiben die Grünen für die mögliche Regierung wichtig. Gerade im Bildungsbereich, der Rot und Pink so wichtig ist, sind große Reformen nur mit Änderungen von Verfassungsbestimmungen möglich. Für die dazu notwendige Zweidrittelmehrheit würden ÖVP, SPÖ und NEOS die Grünen benötigen.
Im Schnitt dauern Koalitionsverhandlungen 70 Tage. Österreich hätte demnach im Jänner 2025 eine neue Regierung. Scheitern können die Verhandlungen allerdings auch durch Querschüsse von außen. Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil ist gegen eine Regierungsbeteiligung der SPÖ und könnte den Störenfried spielen. Und in Kreisen der Industrie, vor allem in der Steiermark und in Oberösterreich, wird eine Koalition zwischen FPÖ und ÖVP bevorzugt.
Danach beginnt der Koalitionsalltag, zu dem auch die Beziehungspflege unter den Regierungspartnern erzählt. Dass man den Parlamentsklub der jeweils anderen Partei bei Laune halten muss, wussten SPÖ und ÖVP auch 2013 bei ihrer bisher letzten Koalition. Im damaligen Regierungsprogramm hielten sie fest: „Die Mitglieder der Bundesregierung erklären sich bereit, in regelmäßigen Abständen den Abgeordneten des Koalitionspartners die Gelegenheit zu einer Aussprache über aktuelle Fragen der gemeinsamen Regierungsarbeit zu geben.“
Geholfen hat es nichts. Die SPÖ-ÖVP-Koalition zerbrach im Mai 2017, ein Jahr vor dem regulären Ablaufdatum.
Gernot Bauer
ist seit 1998 Innenpolitik-Redakteur im profil und Co-Autor der ersten unautorisierten Biografie von FPÖ-Obmann Herbert Kickl. Sein journalistisches Motto: Mitwissen statt Herrschaftswissen.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.