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Titelgeschichte

Leonore Gewessler: Diese Frau verändert unser Leben

Klimaschutzministerin Leonore Gewessler hat das größte Ressort der Regierung, das üppigste Budget und die wuchtigsten Machthebel – und scheut sich nicht, damit ordentlich umzurühren und anzuecken.

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Die ÖBB-Securities haben ihre Lektion gelernt. Sie warten am Bahnsteig in Wien-Meidling auf ihre Ministerin. Bei der ersten Ausfahrt der neuen Ressortchefin vor zwei Jahren hielten sie am Parkplatz nach dem Dienstauto Ausschau-vergeblich, Leonore Gewessler kam mit der S-Bahn. Mittlerweile haben sich die Eigenheiten der ersten grünen Infrastrukturministerin herumgesprochen.

Gewessler verzichtet auf Chauffeur und fährt öffentlich: "Das erdet." Nach aufgekratztem Plausch mit den Securities richtet sie im Railjet nach Salzburg mit Laptop und Handy routiniert ihr Mobilbüro ein, eine Lokalbahn-Zuckelfahrt später ist sie in Lamprechtshausen. Ein 4000-Einwohner-Ort, 25 Kilometer nördlich von Salzburg, Zentrum der Viehwirtschaft und der ÖVP.

Im Sitzungssaal der "Salzburg Milch" warten drei Käseplatten und vier Männer. Den jovialen Small-Talk-Versuch kappt Gewessler freundlich, aber energisch, sie will Zahlen, Fakten. Und hört: 364 Mitarbeiter. 288 Millionen Kilo Milch jährlich. Bio-Anteil 56 Prozent, wächst zweistellig. Auf dem 13.000 Quadratmeter-Dach 4200 nagelneue Photovoltaikmodule, gefördert aus Gewesslers Ministerium, deckt ein Viertel des Energiebedarfs. Ziel: Ausstieg aus Gas. 

Gewessler fachsimpelt, ob Hackschnitzel oder Biogas sich anbieten, probiert den Käse, lässt sich von einer Hubplattform zur Photovoltaikanlage hieven. Das Foto "Ministerin am Dach" ist eine halbe Stunde später auf ihrem Instagram-Account zu sehen.

Da ist Gewessler schon weitergezogen, unterwegs auf der Tour zu den Spuren, die jene Zigmilliarden Euro Förderungen hinterlassen, die aus ihrem Riesenministerium verteilt werden. Die Klimaschutzministerin verfügt über die mit Abstand üppigsten Budgetmittel und wirksamsten Machthebel der gesamten Bundesregierung, und sie scheut sich nicht, damit ordentlich umzurühren und anzuecken.

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Nächster Stopp: ein kleines Geschäft nahe der schmucken Salzburger Altstadt, vollgestopft mit defekten Elektrogeräten. Zwei gut gelaunte ältere Herren hören Musik, so laut, dass Gewessler sich mit etlichen Hallo-Rufen bemerkbar machen muss, und reparieren Nähmaschinen. Das soll Müll reduzieren, wird von der Reparaturpauschale des Landes und bald auch des Ministeriums gefördert. "Super, dann kann ich einen Mitarbeiter anstellen", freut sich der Chef. Gewessler lächelt. Und wird auf der Zugfahrt retour bei ihrem fünften schwarzen Tee des Tages sagen: "Viele Unternehmen haben verstanden, dass wir etwas tun müssen. Das waren zwei davon. Ich habe beim Klimaschutz nicht die Zeit, auf jene zu hören, die immer Nein sagen."

Solche Sätze klingen, wie alles bei Gewessler, ruhig, unaufgeregt, optimistisch und unverbindlich. Sie kommentiert den heiklen türkis-grünen Sideletter, in dem auch Jobvergaben in ihrem Ressort festgeschrieben sind, genauso sachlich-nüchtern ("Wir Grüne sind unseren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden, das tut mir leid") wie die neueste Verkehrsstatistik. Sie wechselt nie die Tonalität, sie wird nie laut, sie zeigt kaum Emotion, sie ist stets gleich freundlich, sie spricht fast ohne Gestik und Mimik.

Eineinhalb Jahre lang hat man die unprätentiöse 44-Jährige beinah übersehen. Auch deshalb, weil sie nach ihrer Angelobung (sie kam mit dem Fahrrad in die Präsidentschaftskanzlei, was sonst) als "Superministerin" im Monsterressort, das von Abfall bis Weltraum, von Energie bis Verkehr fast alle Umweltbereiche umfasst, von der öffentlichen Bühne verschwand-alle Aufmerksamkeit galt Corona. Politikerinnen und Politiker anderen Zuschnitts wären in diesem ausgedehnten Pandemie-Wartesaal ungeduldig geworden, hätten hektisch versucht, sich in den Vordergrund zu drängen oder mit bemüht-kantigen Ansagen ins Scheinwerferlicht zu spielen.

Anti-Politikerin statt Rampensau

Derartige Rampensau-Qualitäten sind Gewessler fremd. Manchmal wirkt sie wie eine Anti-Politikerin: Insignien der Macht sind ihr fremd, sie tritt unkompliziert und natürlich auf. Sie verteilt keine knackigen Haltungsnoten über Koalitionsklima oder Regierungskollegen, sondern gibt lieber knochentrockene Formulierungen ab à la: "Das ist keine Stimmungsgemeinschaft, in einer Koalition will ich professionell zusammenarbeiten." Die schnelle Schlagzeile ist nicht ihr Metier, taktische Winkelzüge genauso wenig. Wer pointiert-launige Sager oder Polit-Entertainment erwartet, wird enttäuscht. Gewessler begnügt sich nicht mit Zwei-Seiten-Briefings, sie ackert ganze Studien durch, strotzt vor Fachwissen und ist beseelt von Umwelt-Inhalten. Andere Ministerinnen und Minister versuchen, die eigene Bedeutung durch Kommentare zu allen Politikfeldern zu erhöhen. Ihre Amtsvorgängerin etwa, Elisabeth Köstinger, heute Landwirtschaftsministerin, positioniert sich als ÖVP-Allzweckwaffe für Themen aller Art. Gewessler verlässt ihre Ressortgrenzen nicht. Sie spricht ausschließlich über Klimaschutz. Bevorzugt ausführlich und detailreich.

Gewesslers Ministerium stand in der Pandemiebekämpfung nicht in der ersten Reihe. In aller Ruhe, Stück um Stück nutzte sie die Corona-Zwangspause, krempelte das Ministerium um, installierte en gros Vertrauensleute in Aufsichtsräten, stets nach dem Motto: FPÖ raus, Grün rein-ohne lange zu fackeln. Kathrin Glock etwa, Ehefrau des Kärntner Waffenproduzenten und FPÖ-Kumpels Gaston Glock, enthob die Ministerin am Tag nach Glocks Auftritt voller Ausflüchte im Ibiza-U-Ausschuss wegen Missachtung des Parlaments flugs vom Job als Aufsichtsrätin der AustroControl. Gewesslers Ruf als beinharte Umfärberin resultiert aus solchen Aktionen.

Ihre Nachrede als umsetzungsstarke Ministerin wurzelt in der ersten Regierungsphase 2020, als sie im Hintergrund strukturiert eine Novelle nach der anderen vorbereitete. Im Frühsommer 2021 fiel das erstmals auf: Damals wurden die 3,5 Milliarden Euro des Corona-Wiederaufbaufonds der EU vergeben-mit satten 46 Prozent floss fast die Hälfte der Gelder an Öko-Projekte aus Gewesslers Ressort.

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Seither geht es Schlag auf Schlag. Ausbaugesetz für Erneuerbare Energien. CO2-Abgabe. Klimabonus. Öko-Steuerreform. 1-2-3-Klimaticket. Erhöhung der Normverbrauchsabgabe Nova. Pfand auf Plastikflaschen. Stopp für Lobau-Tunnel. Ökos applaudieren, Landeshauptleute wie Wiens Michael Ludwig toben, die Industrie jault auf-und Gewessler macht unbeirrt weiter. Mit einem Mix aus Finanzzuckerl für umweltfreundliche Energieträger und Strafen für Ökosünden, mit Rieseninvestitionen wie dem 18-Milliarden-Euro-Bahnpaket verändert sie Schritt für Schritt das Leben aller-und streut Show-Aktionen wie die Klage gegen die EU und deren Faible für Atomkraft dazwischen. Und der erstaunte Koalitionspartner ÖVP, der Gewessler lang unterschätzte, lernt wie die zusehends verärgerte Wirtschaft und der Rest der irritierten Öffentlichkeit: Da will offenbar jemand wirklich Klima-Politik machen.

Das ist neu, das ist Österreich nicht gewohnt. Umweltschutz funktionierte hierzulande seit den 1990er-Jahren stets nach folgendem Muster: Mit grandiosem Gedöns versprachen wechselnde Regierungen, diesmal aber wirklich etwas gegen die Klimakatastrophe zu unternehmen, und hielten damit die

Angelegenheit für erledigt. Aber wirklich. In regelmäßigen Abständen wurden hohle Mythen über das angebliche Umweltmusterland Österreich verbreitet, sonst passierte nichts. Die Konsequenz dieser Nichtpolitik ist in der CO2-Bilanz abzulesen: Seit drei Jahrzehnten verfehlt Österreich meilenweit die Klimaziele, Milliarden-Strafzahlungen der EU drohen. Diese Routine ist mit Gewessler beendet. Ihr ungewohnter Tatendrang kommt einem Tabubruch gleich.

Das polarisiert.

Idol und Hassfigur

Die Super-Grüne ist Hoffnungsträgerin und Hassfigur zugleich, verehrtes Idol und verschriene Ideologin. "Ihre Politik gefährdet den Wirtschaftsstandort", grollt Siemens-Generaldirektor Wolfgang Hesoun. Wirtschaftskammer-Generalsekretär Karlheinz Kopf diagnostiziert "ideologiegetriebene Bestrafungsfantasien".Ökos hingegen sehen die kantige Ministerin als kommende Grüne Nummer eins. Gewessler spaltet, das spiegelt sich im APA-OGM-Vertrauensindex wider: Im jüngsten Ranking sackte sie, noch hinter Pandemie-Buhmann Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein, ins unterste Drittel ab-mit steigenden Misstrauenswerten. Die stets freundlichleise Ministerin war gestern, je aktiver Gewessler in Erscheinung tritt, desto extremer klaffen die Meinungen über sie auseinander.

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Nur in einem Urteil sind sich Fans und Gegner einig: Beide attestieren Gewessler, höchst umtriebig zu sein. "Sie ist die stärkste Waffe der Grünen in der Regierung, das muss man leider neidlos anerkennen", urteilt Wolfgang Rosam, der PR-Berater und Lobbyist, der aus seinem Faible für Türkis im Allgemeinen und Sebastian Kurz im Besonderen nie ein Geheimnis machte. Rosam glaubt bei Gewessler eine "perfekte jesuitische Dialektikschulung: freundlich im Auftreten, knallhart in der Sache" zu erkennen. Er ist überzeugt: "Die Erfolge, die Grüne in der Koalition verbuchen, gehen fast ausschließlich auf Gewesslers Konto." In der Tat fiel vor einem Jahr die Koalitions-Zwischenbilanz bitter für die Grünen aus: Die ÖVP wich keinen Millimeter vom harten Migrationskurs ab, die Grünen hatten zähneknirschend zuzustimmen und kaum eigene Regierungsakzente vorzuweisen, ihr damaliger Star Rudolf Anschober wirkte zermürbt. Ein Jahr später hat sich das Kräfteparallelogramm in der Regierung verschoben: Sebastian Kurz ist Geschichte, die ÖVP taumelt durch Korruptionsaffären und ständig neue Chat-Erregungen (die Aufreger dieser Woche: "Gsindl"-Sager und Postenschiebereien). Und Gewessler liefert konstant Umwelt-Duftmarken.

Im Grunde ruht auf ihren Schultern die Verantwortung, die Antwort auf die Frage "Ist es das Mitregieren wert?" auf "Ja" zu drehen. Beim Klimaschutz, da müssen große Würfe gelingen, die Grünen Kompromisse bei Asyl und Co ausmerzen, um den Slogan "das Beste aus beiden Welten" mit Inhalt zu erfüllen. Verspürt Gewessler Druck? "Mir ist bewusst, dass es eine Erwartungshaltung gibt. Das ist keine einfache Herausforderung. Aber ich bin ja in die Politik gegangen, um die Klimakrise zu bekämpfen."

Den gruselig-alarmistischen Greta-Thunberg-Ton ("Ich will, dass ihr in Panik geratet")vermeidet Gewessler, sie verbreitet lieber Wir-schaffen-das-Stimmung. "Es ist eine der schönsten Eigenschaften von Leonore, dass sie Klimaschutz als Chance für Lebensqualität definiert und nicht als Schritt in die Steinzeit", lobt Ex-Gesundheitsminister Rudolf Anschober den positiven Zugang. Er selbst ist auch an Fouls der ÖVP gescheitert, Gewessler traut er zu, Widerstände zu überwinden: "Sie ist eine schwierige Verhandlungspartnerin, weil sie inhaltliche Überzeugungen mit ungeheuerlicher Beharrlichkeit mischt. Wenn es beim ersten Mal nicht funktioniert, startet sie einen zweiten, dritten, vierten, fünften Anlauf." Jedenfalls macht ihr Beispiel international Schule. Das Ressort des neuen deutschen grünen Klimaministers Robert Habeck ist wie Gewesslers Ministerium gebaut, vereint Verkehr und Wirtschaft.

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Ihr Ehemann schenkte Gewessler zum Amtsantritt die Karikatur eines Mammuts, passend zur Mammutaufgabe Klimaschutz. Fraglos schlägt die Ministerin Wellen. Aber wie nachhaltig ist ihre Politik? Was bewegt sie wirklich, wie viel ist nur Getöse? Schafft sie tatsächlich die Klima-und Energiewende?

Julia Herr, Jungspund und Umweltsprecherin der SPÖ, beantwortet diese Fragen so: "Gewessler macht viel Symbolpolitik, beim Lobau-Tunnel etwa geht es nur um die letzten Kilometer. Andere Dinge rührt sie als Ankündigungsministerin nicht an, auf das Klimaschutzgesetz warten wir schon ewig. "In der Tat bohrt Gewessler manch dicke Bretter lieber nicht: Das Pendlerpauschale bleibt, die Liste klimaschädlicher Subventionen liegt nicht vor. Michael Bernhard, Umweltsprecher der NEOS, analysiert: "Sie ist eine beinharte Lobbyistin und interessiert sich nur für das grüne Zielpublikum." Show inklusive: Um den Klimabonus, das Goodie zum Versüßen der CO2-Bepreisung, zu verteilen, kreiert Gewessler eine eigene Bürokratie-damit ihr Ministerium und nicht das Finanzministerium die 100 (Wien) bis 200 Euro (Landgemeinden) Klimabonus auszahlen kann.

Letztlich wird Gewesslers Erfolg oder Misserfolg ganz so, wie es die Ministerin mag, an Zahlen und Daten bemessen werden: Sinkt der CO2-Ausstoß? Erreicht Österreich seine Klimaziele oder muss es neun Milliarden Euro Strafe zahlen? Gelingen Klima-und Energiewende? Alle Experten sind mehr als skeptisch. Angela Köppl, Umweltökonomin beim Wifo, urteilt etwa: "Die Trendwende ist noch nicht geschafft."  Auch Angela Zauner von Global2000, der Umwelt-NGO, bei der Gewessler vor ihrem Polit-Einstieg Geschäftsführerin war, hält den CO2-Preis mit 30 Euro für viel zu niedrig. Sie drängt auf das Energieeffizienz-Gesetz: "Sonst werden wir die Ziele nicht schaffen."

Lauter noch fällt der anschwellende Groll von Industriebossen auf die forsche Ministerin aus. Vorgetragen wird Kritik - als Tribut an Gewesslers Wirkungsmacht - erst nach einem Kompliment. Wer etwa Siemens-Generaldirektor Wolfgang Hesoun fragt, bekommt zu hören: "Ich habe wenige Menschen kennengelernt, die so gescheit und so nett wie Gewessler sind." Dann folgt das große Aber: "Wer die Branche kennt, weiß, dass die Vorgaben bei der Erneuerbaren Energie nicht funktionieren werden, wenn wir Technologien wie Erdgas nicht zulassen."Hesoun zweifelt, dass genügend Windräder und Solarparks gebaut werden können. Und: "Damit steuert Österreich auf ein Blackout zu. Das ist fahrlässig und gefährdet den Standort." Um die Energieziele zu erreichen, braucht es laut Rechnungen der Wirtschaftskammer 1100 neue Windräder, durchschnittlich zehn pro Monat. Und alle zwei Minuten eine neue Photovoltaik-Anlage auf einem Einfamilienhaus. Derartige Einwände lässt Gewessler abperlen. Sie verbreitet Zuversicht, argumentiert mit steigenden Energiepreisen und Putins Drohungen: "Jedes neue Windrad ist ein Schritt zur Unabhängigkeit."

Kompromissbereit ist die stets freundlich-nette Ministerin Gewessler nur auf den ersten Blick. Sie ist umgänglich, sie hört zu-aber lässt sich nichts sagen. Konflikten geht sie nicht aus dem Weg, im Gegenteil. Sie scheut sich nicht, anzuecken und ihre Macht gezielt einzusetzen. Den damaligen Staatssekretär Magnus Brunner, eigentlich von der ÖVP als Aufpasser für die Superministerin installiert, hielt sie klein, er vertrat Gewessler im Bundesrat, bekam aber sonst keine Agenden.

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Nicht ohne Geschick weiß sie Umwege zu gehen, wenn die ÖVP ihre Pläne nicht unterstützen will: Beim Einwegpfand zog sie einzelne Stakeholder auf ihre Seite, zuerst mit Lidl den Handel, dann den Getränkeriesen Red Bull. So wurde das Prinzip Pfand besiegelt-ein Projekt, das nicht einmal im Koalitionsabkommen steht. Den Klimarat wiederum, ein Gremium aus 100 per Zufallsgenerator ausgewählten Menschen, die die Politik beraten, verweigerte die ÖVP als Gesetz-worauf Gewessler den Klimarat einfach via Ministerium einsetzte. Und zwar ohne Vorinformation, wie ÖVP-Umweltsprecher Johannes Schmuckenschlager moniert: "Sie hat mir an dem Tag im Parlament gesagt, beim Klimarat gibt es bisher nur Vorarbeiten. Wenig später hat sie über Social Media die Einsetzung verkündet. So versucht Gewessler Fakten zu schaffen. Das ist effizient. Vertrauensbildend ist es nicht."

Manchmal geht die Taktik, Fakten zu schaffen, schief: ÖVP-Landesräte empören sich darüber, dass die Ministerin nach einer Besprechung zum Erneuerbaren-Wärmegesetz den Medien verkündete, alle seien sich einig. Das sahen die Landesräte anders. Das Gesetz gibt es bis heute nicht. Mit ihm fehlen Detail-Verordnungen, die große Würfe wie das Erneuerbaren-Ausbaugesetz erst in der Praxis zum Leben erwecken. Nichts Spektakuläres, schlicht dröges Handwerk: "Die Mühen der Ebene liegen Gewessler weniger", seufzt ÖVP-Politiker Schmuckenschlager.

Führungsstark war sie dafür immer, schon als Studentin. Bei Bergtouren mit ihren Freundinnen übernahm Gewessler Planung und Route, auch bei Städtetrips war sie gut vorbereitet und wusste, wo es langgeht. "Leo ist eine Checkerin. Wir konnten ihr immer getrost hinterhertrotten", erinnert sich Eva Ruppnig. Sie ist Kommunikationsberaterin bei einer Agentur und Gewesslers Trauzeugin. Die beiden lernten sich zu Beginn des Jus-Studiums kennen, waren einander auf Anhieb sympathisch "weil wir nicht zur Perlenohrringe-Fraktion gehörten". Aus Protest färbten sie eine Haarsträhne Grün. Damit war aber auch Schluss mit rebellisch. Schon damals, rund um die Jahrtausendwende, als die Grünen (bei der ÖVP) als "Haschtrafikanten" oder (beim Rest) als wilde Chaoten galten, lebte Gewessler wohlorganisiert und penibel. "Ich habe eine Zeit mit ihr zusammengewohnt. Sie ist superordentlich, die Wohnung sehr aufgeräumt, auf der Couch durfte man nichts essen. Ich empfand das als angenehm, man kann sich gut konzentrieren, wenn nichts herumliegt", erzählt Ruppnig. Als einzige Schwäche Gewesslers nennt sie "Perfektionismus", als größte Stärken "Liebenswürdigkeit, Verlässlichkeit und Ruhe".

Das Jus-Studium vollendeten beide Freundinnen nicht. Gewesslers eigentliches Studium war Politologie, auch geprägt vom Elternhaus. Der Vater ein Landarzt in St. Marein, 30 Kilometer östlich von Graz, ein politisch interessierter Mann, der die "Zeit im Bild" als Pflichtprogramm betrachtete. "Wir haben intensiv diskutiert, er war eine meiner Debattenschulen", sagt Gewessler. Die Mutter, eine Krankenschwester, arbeitet in der Ordination im Haus mit und legt viel Wert darauf, dass Gewessler und ihre Schwester Ausbildung und Eigenständigkeit erlangen. Das prägt. "Natürlich bin ich Feministin", sagt die Tochter und nennt als Vorbild Jacinda Ardern, Premierministerin von Neuseeland. "Sie hat einen ganz eigenen Stil-klar in der Entscheidung, aber immer emphatisch."

Noch eine Richtung gibt die Mutter vor: Ökologie. Müll getrennt wurde bei Gewesslers immer, doch Fleisch isst die Ministerin bis heute. 26. April 1986, Atomkraftwerk Tschernobyl, der größte anzunehmende Unfall, der große politische Einschnitt: Ein Reaktor explodiert. Gewessler ist neun Jahre alt, erlebt den Super-GAU als beklemmend: Sandkisten sind plötzlich gefährlich, die Nachbarn bauen Bunker. Ein Jahr später kommt Gewessler ins Gymnasium nach Graz. Das bedeutet: Eine halbe Stunde Busfahrt in die Schule und retour. Die Geschichte erzählt sie heute gern, wenn ihr vorgeworfen wird, als grüne Bobo habe sie keinen blassen Schimmer vom Leben am Land.

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Mit 18 zieht Gewessler in die Stadt, nach Wien, zum Politik-Studium, sie interessiert sich für Völkerrecht und Außenpolitik. Gemeinsam mit den ehrgeizigen Nachwuchswissenschaftern Gerhard Mangott (heute bekannt als Russland-Erklärer) und Peter Filzmaier (Dauerfernsehgast als Innenpolitik-Erklärer) verfasst sie "Internationale Politik",eine 304-seitige Einführung in die Politikwissenschaft. Ein derartiger Wissenschaftswälzer taugt nicht als Bestseller-aber als Eintrittskarte für eine Uni-Karriere. Filzmaier und Mangott scharrten in den Startlöchern für eine Professur, auch bei Gewessler "war ich überzeugt, dass sie in der Wissenschaft landet", erzählt Filzmaier. Eine seiner raren Fehleinschätzungen. "Gewessler hat das Buchprojekt zusammengehalten. Sie war kompetent und hatte einen hohen Grad an Organisationsfähigkeit." Und wirkte überaus kontrolliert, erinnert sich Filzmaier: "Wir waren während des gesamten Buchprojekts kein einziges Mal auf ein Bier."

Gewesslers große Leidenschaft gilt damals der Musik. Sie singt im "Jazz-Chor Wien", Gospelkonzerte, moderne Jazz-Kompositionen. Der Chor tritt in Kirchen, in der alternativen Sargfabrik, bei einem Jazzchor-Festival in Deutschland auf. Gewessler hat eine feste Altstimme, singt im Solistenensemble, managt den Chor mit und liebäugelt, das Singen zum Beruf zu machen. Es kommt anders. Lise Smidth, eine Chor-Freundin, führt sie in die regionale Politik ein: 2001, als im Bund Schwarz-Blau regiert, feiern die Grünen im Wiener Bobo-Bezirk Neubau einen Überraschungserfolg und klettern auf 32,55 Prozent. Smidth ist Bezirksrätin, nimmt Gewessler mit zu einer Sitzung: "Ich habe sie gefragt, ob sie auch Bezirksrätin werden will. Sie hat abgelehnt-das sei nichts für sie, sie bleibe lieber im Hintergrund." 2010 verlässt Smidth die Politik, legt ihr Mandat zurück, weil sie mehr Musik machen will. Gewessler geht den umgekehrten Weg.

Sie avanciert zur Büroleiterin des Grünen Bezirksvorstehers Thomas Blimlinger, Bruder der heutigen Mediensprecherin Eva Blimlinger. Quer durch Österreich sind die Grünen widerborstige Oppositionspartei-nur in Wien-Neubau regieren und gestalten sie. Gewessler lernt, wie man eine Tiefgarage verhindert und durch einen Park ersetzt, wie man die damalige Novität Passivhaus plant. "Sie war vom ersten Tag an ehrgeizig",erzählt Thomas Blimlinger.

2008, nach knapp drei Jahren, zieht sie weiter, nach Brüssel zur Green European Foundation, einer neuen Stiftung, finanziert vom Europaparlament. Sie baut die Organisation auf("Meine erste Amtshandlung war, mir einen Schreibtisch zu kaufen"),sammelt Führungserfahrung, lässt das Singen sein. Die Anreise zum Bewerbungsgespräch für den neuen Job wird ihr lange in Erinnerung bleiben: Es wirkt wie eine Kerosin-Pointe, dass die passionierte Zugfahrerin Gewessler ausgerechnet im Flugzeug nach Brüssel ihren späteren Mann kennenlernt, Herbert Greisberger, heute Leiter der niederösterreichischen Energie-und Umweltagentur.

2014 hat Gewessler das Pendeln von Brüssel nach Österreich, zwischen Beruf-und Privatleben, satt, sie bewirbt sich als Geschäftsführerin der Umwelt-NGO Global 2000 in Wien. Erhält eine Aktivistinnen-Schulung, erlernt Krankraxeln mit Seilsicherung. Das kann sie später gut brauchen: Vor der Nationalratswahl 2019 erklomm Gewessler, mittlerweile Nummer zwei hinter Werner Kogler auf der grünen Liste, den Baukran vor dem Parlament und hisste das Banner "Comeback Klimaschutz".

Nicht Everybody's Darling

Nirgendwo lernt man spektakulären Aktionismus mit Pathos besser als bei einer NGO: Mit Josef Muchitsch, heute stimmgewaltig-mächtiger Bau-Holz-Gewerkschafter, zelebrierte Gewessler zum 30. Jahrestag der Besetzung der Hainburger Au die Versöhnung zwischen Arbeiter-und Umweltbewegung, die 1984 in der Au aneinandergekracht waren. Im idyllischen Schmetterlingshaus besiegelten Gewessler und Muchitsch den Neuanfang. Muchitsch beschreibt Gewessler heute als "konsequent, manchmal fast stur". Im Nachhinein betrachtet liest sich Gewesslers Biografie, als hätte sie Baustein für Baustein aufeinandergelegt, um die perfekte Ausbildung zur Keine-Kompromisse-Ministerin zu absolvieren. Uni-Forschung. Konkrete Kommunalpolitik. Grundsätzliche EU-Politik. Angriffige NGO-Politik. Plötzlich Superministerin, der das Amt sichtlich Spaß bereitet und die vor unpopulären Entscheidungen nicht zurückschreckt.

Diese Courage nötigt auch Menschen Respekt ab, die von der Papierform her nicht in Gewesslers Fan-Sektor sitzen. Wolfgang Anzengruber, bis 2021 Vorstandsvorsitzender beim Verbund, hat sie bei Diskussionen über die ewig umstrittene 380-KV-Leitung in Salzburg erlebt. Anrainer hatten erwartet, dass die grüne Ministerin auf der Protestseite steht-Gewessler aber erklärte die Stromleitung für notwendig. "Sie hat den Leuten nicht nach dem Mund geredet, sondern klare Positionen vertreten", schildert Anzengruber. Und: "Gewessler ist mit ihren Aussagen nicht darauf fixiert, Everybody's Darling zu sein. Das imponiert mir."

In der Tat hält Gewessler es überdurchschnittlich gut aus, nicht von allen geliebt zu werden. Woran bemisst sie selbst, ob sie eine erfolgreiche Ministerin ist? "Wenn mich meine 13-jährigen Nichten irgendwann einmal fragen: Was hast du eigentlich gegen die Klimakatastrophe gemacht, dann will ich antworten können: Ich habe alles getan, was ich konnte. Ich will nicht sagen müssen: Als es darauf ankam, da habe ich mich nicht getraut."

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Diese Geschichte stammt aus der profil-Ausgabe 7/2022 - hier als E-Paper.

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Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin