Erst enteignet, dann Wahlkampfthema: Das Dorf Gries und seine Brücke
Von Iris Bonavida
Schriftgröße
Karl Mühlsteigers größte Feindin thront wie ein massives Ungetüm über seiner Gemeinde, und das vielleicht Schlimmste daran: Er ist immer wieder auf sie angewiesen. Der Bürgermeister von Gries am Brenner, 47, hat gerade seinen Škoda in einer Kurve geparkt, ist aus dem Wagen gestiegen und steht jetzt vor ihr: Die Luegbrücke schlängelt sich über 1,8 Kilometer den Hang
des Sattelberges entlang, es ist die letzte Brücke der Brennerautobahn vor der Grenze zu Italien, und sie ist dementsprechend wichtig. Wuchtige Pfeiler tragen die Fahrbahnen, auf denen der Verkehr in Richtung Süden und zurück kursiert. Allein in diesem Jahr waren es knapp zehn Millionen Fahrzeuge. Weil die meisten Grieserinnen und Grieser beruflich pendeln müssen, sind sie zu den Stoßzeiten Teil des Verkehrs. Aber auch mit dem Feierabend sind sie ihn nicht los. Zu Hause hören sie den Lärm, der von der Luegbrücke dröhnt, und atmen den Feinstaub ein, den die Autos und Laster ausstoßen.
Und jetzt soll Karl Mühlsteigers Nemesis auch noch erneuert und verbreitert werden.
Mühlsteiger hat auch deswegen hier auf dem Schotterweg geparkt, weil das Panorama besonders weit reicht, was in einem engen Tal keine Selbstverständlichkeit ist. Aber wenn der oberste Bürger sein Gries am Brenner überblickt, schaut er gleichzeitig auf fremdes Gemeindegebiet. Da links, er zeigt er mit dem Finger auf die Baustelle unter der Brücke, ist dauerhaft enteigneter Grund. Dort rechts, wo sich ein Erdhaufen türmt, war einmal der Fußballplatz, die Fläche wurde der Gemeinde übergangsmäßig entzogen. Die aus Mühlsteigers Sicht feindliche Macht, die Ansprüche auf dieses urige Stück Tirol gestellt hat, ist die ASFINAG. Die Luegbrücke ist altersbrüchig und muss neu errichtet werden. Und dazu braucht der Autobahnbetreiber Zugang zu den Flächen darunter. Mühlsteiger wollte das mit allen rechtlichen Mitteln verhindern, und er gibt auch jetzt noch nicht auf: Falls die Behörde es genehmigt, will er mit einer Demonstration die Autobahn blockieren. Wenn es nach ihm geht, sollte die Luegbrücke für immer aus dem Tal verschwinden und ein Tunnel den Verkehr durch den Sattelberg führen.
Die Geschichte der Luegbrücke könnte eine Lokalposse sein, die skurrile Heldensaga eines widerspenstigen Bürgermeisters in Tirol. Wäre nicht erstens die Luegbrücke eine wirtschaftlich und verkehrspolitisch essenzielle Verbindung zwischen Süd- und Nordeuropa und wäre nicht, zweitens, Nationalratswahlkampf. Der Brenner-Transit mit Gries zwischendrin entwickelt sich zum Politikum in Tirol, mit Auswirkungen bis nach Wien. Vergangene Woche reiste sogar FPÖ-Chef Herbert Kickl an, um sich die Luegbrücke genauer anzusehen, und er versprach den Anwesenden: Sollte er ins Kanzleramt einziehen, werde ein Tunnel kommen.
„Klammern uns an jeden Strohhalm“
Die Erzählung vom Kampf David gegen Goliath, konkret: parteiunabhängiger Bürgermeister gegen schwarzen Landeshauptmann (Anton Mattle) und grüne Verkehrsministerin (Leonore Gewessler) passt nur zu gut in die freiheitliche Kampagne. Vermutlich schadete es auch nicht, dass die FPÖ in Gries bei der EU-Wahl Platz eins belegte. Mehr gemeinsame Anliegen gibt es aber nicht, denn Mühlsteiger fordert auch die Abschaffung des Dieselprivilegs, weniger Straßenverkehr und dadurch eine bessere Luftqualität. Trotzdem ist er für die politische Aufmerksamkeit dankbar. „Das klingt jetzt leider armselig, aber es ist die Wahrheit: Wir klammern uns an jeden Strohhalm.“
Tatsächlich lässt sich von Gries aus gar nicht so leicht ausmachen, wer die politische Verantwortung trägt. In der einen oder anderen Form haben mehrere Parteien ihren Anteil an der Eskalation. Der frühere ÖVP-Landeshauptmann Günther Platter sprach sich für einen Tunnel aus, sein Nachfolger Mattle dagegen. Die Grünen waren früher mit Vize-Landeshauptfrau Ingrid Felipe skeptisch gegenüber dem Tunnel, vor allem nach einem dementsprechenden Gutachten. Grünen-Landesparteichef Gebi Mair sagt heute: „Der Hofer war’s.“ Wäre der Tunnel der FPÖ so wichtig gewesen, hätte Norbert Hofer in seiner Zeit als Verkehrsminister die Weichen dafür stellen können. Das Fazit ist unbefriedigend. Tatsächlich wurde so lange über die richtige Option diskutiert und der Baubeginn hinausgezögert, bis die ASFINAG irgendwann mitteilte: Die Brücke ist jetzt schon so baufällig, dass keine Zeit mehr für Tunnelbauten bleibt. Sie muss sofort neu errichtet werden, um nicht zu einem ernsthaften Sicherheitsrisiko zu werden.
Mühlsteiger hat kein Vertrauen in die Informationen der ASFINAG. Er bezweifelt das Versprechen, wonach eine breitere Brücke mit Pannenstreifen nicht mehr Verkehr bedeute. Experten, die auf ihn zugekommen seien, würden die Vorteile eines Tunnels durchaus sehen. Die Luft könnte dort gefiltert werden, um nur einen zu nennen. Die Autobahngesellschaft habe nie ernsthaft einen Tunnel in Erwägung gezogen, sagt Mühlsteiger.
„Vorprogrammiertes Chaos“
Tatsächlich habe schon 2016 eine interne und externe Prüfung ergeben, dass eine Brücke die bessere Option ist, sagt Stefan Siegele, Alpenstraßen-Geschäftsführer der ASFINAG. „Das wesentlichste Argument dafür ist der Schutz der Anrainer und Anrainerinnen. Einen zwei Kilometer langen Tunnel auf 1300 Meter Höhe zu betreiben, hätte gravierende Nachteile.“ Zum Beispiel seien Staus im Tunnel aus Sicherheitsgründen unbedingt zu vermeiden, daher müsste man immer wieder Blockabfertigungen einführen. „Stellen Sie sich vor, Sie machen bei so einer Steigung wie auf der A13 Stop and Go, dann schneit es auch noch, das ist vorprogrammiertes Chaos.“ Bei einem Unfall oder Wartungsarbeiten würde der Ausweichverkehr dann durch die Dörfer ziehen und die Menschen erst recht belasten. „Die Entscheidung für die Brücke hat nichts mit einer wirtschaftlichen Berechnung zu tun, sondern mit einer betrieblichen Notwendigkeit.“ Er verweist auch auf ein Gutachten aus dem Jahr 2020, bei dem beide Varianten geprüft wurden. Auf 182 Seiten werden auch ökologische Vorteile des Tunnels aufgezählt und vor künftigen Steinschlägen gewarnt, aber letztendlich die Brücke empfohlen.
Die Auswirkungen sind enorm, nicht nur für Gries und Tirol, sondern auch für Deutschland und Italien. Nach wie vor haben es die drei Länder der Transitroute nicht geschafft, eine gemeinsame Lösung für den stetig wachsenden Verkehr zu finden. Die wirtschaftlichen Interessen von Rom und Berlin treffen auf die ökologischen Bedürfnisse der Anrainer in Österreich, und ab 1. Jänner wird dieser Konflikt noch verschärft.
Weil die Luegbrücke geschont werden muss, wird sie ab 2025 nur noch einspurig befahrbar sein. An besonders reisestarken Tagen müssen Lkw verpflichtend die linke Spur verwenden, weil diese stabiler ist. Währenddessen baut die ASFINAG eine neue Brücke mit breitem Tragwerk. Sobald sie steht, wird der Verkehr auf sie umgeleitet und die alte Luegbrücke abgerissen. Ein zweites, neues Tragwerk kommt dazu, und die zwei neuen Brücken werden vereint. 2030 soll die Luegbrücke endlich fertig sein.
Karl Mühlsteiger
Der Bürgermeister von Gries am Brenner, im Hintergrund: die Luegbrücke.
Die ASFINAG warb auch in einer Postwurfsendung für ihre Position. „Die notwendige Wiedererrichtung ist alternativlos und die einzig umsetzbare Variante“, heißt es in einem Brief, der an alle Anrainer der Inntal- und Brennerautobahn ging. Dass während der Bauarbeiten die Brücke nur noch einspurig befahren werden kann, „ist der nicht nachvollziehbaren Haltung des Bürgermeisters von Gries am Brenner geschuldet.“
Mühlsteiger hofft, dass zumindest Lärmschutzwände und sogenannte Einhausungen, also eine Art Kuppel über den Fahrspuren, errichtet werden. „Das würde spürbare Effekte bringen.“ Laut ASFINAG ist der Lärmschutz vorgesehen, nur die Einhausungen würden im Fall von Stau und Unfällen dieselben Nachteile wie der Tunnel bringen.
„Wenn die ASFINAG stur bleibt, kann ich es auch“, sagt Mühlsteiger. „Und ich habe kein Problem damit, nach der Wahl die Politik an ihre Wahlversprechen zu erinnern.“
Dann wendet er sich von der Brücke ab, steigt in seinen Wagen und fährt in sein Gemeindeamt.
Iris Bonavida
ist seit September 2022 als Innenpolitik-Redakteurin bei profil. Davor war sie bei der Tageszeitung "Die Presse" tätig.