Coronavirus

Der seltsam unerwachsene Umgang mit dem Mund-Nasen-Schutz

Der Mund-Nasen-Schutz befeuert grimmige Proteste gegen die Obrigkeit, Unverwundbarkeitsfantasien, Autoritätsgläubigkeit und neurotische Überängstlichkeit. EDITH MEINHART fragt sich, ob es nicht auch ein bisschen erwachsener ginge.

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Namhafte deutsche Virologen streiten, ob Kinder weniger ansteckend sind als Erwachsene. Als die Wallungen sich legten, blieb statt einer letztgültigen Antwort nur ein Fragezeichen. Und nun das Rauf und Runter der Masken. Aus der Weltgesundheitsbehörde, immerhin die allerhöchste Stelle auf Erden in medizinischen Belangen, verlautet anfangs, dass sie bei der Bekämpfung der Pandemie gar nichts bringen. Dann die Kehrtwendung: Plötzlich kann der Mund-Nasen-Schutz nicht schnell, oft und eng genug aufgesetzt werden. Wo bleibt die Wahrheit? Irgendwo in der Mitte? Völlig nutzlos ist das Stück Stoff im Gesicht nicht, sagen Studien. Eine Allzweckwaffe gegen das Virus ist es aber leider auch nicht. Das sagen andere Studien.

Welchen Anteil am Eindämmen der Infektionen haben brave Maskenverwender? 10,69 Prozent, 25,75 Prozent, mehr? So genau werden wir es vielleicht nie erfahren. Denn die Forschung zu Corona produziert neben beeindruckend exakten Befunden, Analysen und Vorhersagen auch jede Menge Wissensnebel, in dem die Bürgerinnen und Bürger herumtappen. Verunsichert und zunehmend gereizt. Zwar wäre auch bei schlechten Sichtverhältnissen ein angepasstes, vernünftiges Handeln möglich. Doch nicht wenige Menschen benehmen sich wie Kinder, die sich vor ihren Eltern auf den Boden werfen und brüllen: Hört auf zu streiten! Ihr habt keine Ahnung! Lasst mich in Ruhe!

Dass Unsicherheit und offene Fragen generell schwer auszuhalten sind und der autoritäre Charakter sich damit besonders plagt, wissen Psychologen schon lange. Die österreichische Psychologin Else Frenkel-Brunswik, die 1938 nach Amerika emigrierte, hatte der Fachwelt diesen Zusammenhang 1949 in einem Aufsatz für das "Journal of Personality" dargelegt. Sie war es auch, die das menschliche Vermögen, Zwischentöne, Schattierungen und Mehrdeutigkeiten zu ertragen, mit dem sperrigen Begriff Ambiguitätstoleranz fasste, eine Fähigkeit, die in einer global vernetzten Welt der schillernden und sich ständig wandelnden Sachverhalte immerhin als Schlüsselqualifikation gilt. Im unerbittlichen Entweder-oder, das in der Flüchtlingskrise vor fünf Jahren Familien und Freundschaften zerrüttete und nun die pandemiebedingten Debatten mit Furor auflädt, offenbart sich das genaue Gegenteil.

Maskenfall
Das Hin und Her zwischen "Ja", "Nein" und "Vielleicht" in der Maskenfrage scheint nicht etwa die menschliche Begabung zur Vernunft hervorzubringen, sondern die einigermaßen infantile Sehnsucht, "dass da jemand wäre, der uns sagt, was nützlich und was unnütz, was gut und was schlecht, was hundertprozentig sicher und was nicht sicher, was schwarz und was weiß ist", bemerkt der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer, der gerade an einem Buch über Angst und Politik schreibt. Dass ein Stück Textil über Mund und Nase, auf Österreichisch "ein Fetzn", nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vor einer Infektion schützt und einschlägige Befunde einander auch noch widersprechen, ist für einen erheblichen Teil der Bevölkerung, nun ja, zum Verrücktwerden. Dass Politiker sich mitunter allwissend gebärden, macht die Sache nicht viel besser. Schließlich sind ihre Wählerinnen und Wähler auch nicht ganz blöd.

Dann schon entweder #TeamVirologeA oder #TeamVirologeB sein. Dann die Maske mal überängstlich, mal demonstrativ in jeder Lebenslage tragen, selbst mutterseelenallein im Wienerwald, oder eben mit mal renitenter, mal machistischer Geste grundsätzlich niemals, und selbstverständlich auch in der U-Bahn zur Stoßzeit nicht. In diesem Entweder-oder spiegeln sich der grimmige Protest gegen Obrigkeiten und unreifes Stärkegehabe wie auch neurotische Überanpassung und Autoritätsgläubigkeit. Erwachsen ist es jedenfalls nicht. Wie bei Dreijährigen, die sich selbst bei Minusgraden keine Wollhaube überstreifen lassen, oder bei pubertierenden Jugendlichen, die sich weder Alkohol noch Drogen noch blöde Sprüche verkneifen, fruchten Appelle an die sogenannte "Realangst" nicht. So nannte Sigmund Freud die Angst, die sich an äußeren Bedrohungen und konkreten, benennbaren Gefahren entzündet. Eltern sollten den jungen Rebellen voraushaben, dass sie berechtigte Ängste von ihren neurotischen Schwestern halbwegs treffsicher unterscheiden können. In der Pandemie zeigt sich allerdings, wie rasch diese Fähigkeit selbst Erwachsenen abhandenkommt. "Nicht zuletzt unter dem suggestiven Einfluss von Gruppen und ermutigt durch Führergestalten kann der pubertär-rebellische Ichanteil ebenso wie der darunter liegende Ichanteil des Trotzalters reaktiviert und mobilisiert werden", formuliert es Ottomeyer.

Für Erforscher der menschlichen Seele liefert der öffentliche Protest gegen die Maskenpflicht reichlich Anschauungsmaterial. Das Aufbegehren auf der Straße und in den sozialen Medien wird von Verschwörungstheoretikern und rechten Aufwieglern instrumentalisiert. In Österreich ebenso wie in Deutschland, Serbien oder Amerika. Tenor: Wirtschaftliche und politische Eliten folgten einem finsteren Plan. Die Bevölkerung werde per Maskenzwang unterjocht, willkürlich herumkommandiert und ihrer Lebensfreude beraubt. Für Ottomeyer fügt sich die Rebellion gegen eine vermeintliche "Impfmafia" ins Bild. Das flächendeckende Impfen werde zum hinterlistigen "Einimpfen". Das wohltätige Paar Bill und Melinda Gates, das die Weltbevölkerung angeblich gegen Covid-19 behandeln wolle, in Wirklichkeit aber jeden und jede heimlich mit einem Chip versehe, verkörpert den Extremfall. In diesem fantastischen Kosmos trete die deutsche Kanzlerin Angela Merkel als "böse Mutter" in Erscheinung, die sich gemeinsam mit ihrem Chefvirologen Christian Drosten ständig weitere Freiheitseinschränkungen ausdenke. Keine Anti-Corona-Demo, auf der die Maske nicht für den "Maulkorb" der kleinen Leute steht.

In einem Regionalzug in Vorarlberg ging vergangene Woche ein Fahrgast auf Polizisten los, die ihn aufgefordert hatten, seine um den Oberarm gewickelte Maske an geeigneterer Stelle zu platzieren. Der Mann war 42, aus dem Pubertätsalter also längst heraus. Ob er sich für unverwundbar hielt, mit einer Maske im Gesicht wie ein lächerlicher sterblicher Schwächling vorkommt oder sich von Uniformierten grundsätzlich nichts befehlen lässt, ist nicht überliefert. Wohl eher auszuschließen ist, dass er den Stoff über Mund und Nase ablehnt, weil er das soziale Lächeln verdeckt, das Fremden in Sekundenbruchteilen signalisiert: "Alles normal! Ich tu dir nichts!" Und vermutlich drapierte er die Maske auch nicht um seinen Bizeps, weil er das Vermummungsverbot über alles stellt oder die Verhüllung des Gesichts irritierende und problematische Assoziationen auslösen könnte. Schließlich camouflieren sich auch Perchten, Bankräuber oder Krieger.

Strikte Direktiven ersparen es dem Einzelnen, das eigene Ich mit der ständigen Überprüfung der Wirklichkeit zu befassen, neue Erkenntnisse in Betracht zu ziehen und das eigene Verhalten an die jeweiligen Umstände anzupassen, die Maske im vollgestopften Bus aufzusetzen und im spärlich besuchten Gastgarten abzunehmen. Natürlich sind die schwankenden, mitunter schwer nachvollziehbaren Vorgaben der Regierung einem überlegten erwachsenen Umgang mit der Mund-Nasen-Bedeckung nicht gerade zuträglich. Und der Wunsch, alles möge wieder so sein, wie es früher war, ist auch nur zu verständlich. Trotzdem stehen die Überbleibsel des kindlich-magischen "Ich mach die Augen zu, dann sieht mich auch keiner"-Spiels Erwachsenen nicht gut zu Gesicht.

Geht es nicht ein bisschen vernünftiger? Dass sich das "Maske weg, Pandemie weg!" in der Praxis nicht bewährt, sollte als Befund von seltener Eindeutigkeit durchgehen. Zumindest bei Menschen jenseits der Volljährigkeitsgrenze.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges