Migration: Eine Odyssee von Afghanistan nach Österreich

Ein afghanischer Arzt braucht zwei Jahre, bis er arbeiten kann. Warum macht es ihm Österreich so schwer?

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Diese Geschichte erschien im profil Nr. 8 / 2021 vom 21.02.2021.

Er steht an Patientenbetten, erkundigt sich nach dem Befinden der frisch Operierten, vergleicht Befunde, tippt Laborwerte in den Computer. "Mohammad" steht auf seinem Namensschild. Im Landeskrankenhaus im niederösterreichischen Mistelbach ist er einer von vielen, die im weißen Kittel Dienst versehen. Und weil der Mittfünfziger Deutsch spricht, als wäre er schon ewig hier, fällt er hier nicht weiter auf.

Spitäler suchen händeringend nach Personal. In zahlreichen Gemeinden drohen in den nächsten Jahren Ordinationen zu verwaisen. Bis zum Ende des Jahrzehnts könnten Tausende Ärzte fehlen, warnen Studien. Man möchte meinen, Medizinern stünden alle Türen offen. Der afghanische Arzt aber erlebte das Gegenteil.

Seine Geschichte gleicht einer Odyssee, auf der sich ständig neue Hindernisse auftürmen. Am Ende hatte der Doktor aus Dschalalabad bereits die Hoffnung verloren, je ans Ziel zu kommen. Zwei Jahre und Tausende Euro kostete ihn jenes scheckkartengroße Stück Plastik, das ihn als "sonstige Schlüsselkraft" ausweist. "Ich sehe viele, die illegal kommen und schneller sind. Hätte ich einen Schlepper bezahlt, wäre ich besser dran gewesen", sagt er rückblickend. Wie kann das sein?

profil traf Mohammad in der Kanzlei seines Wiener Rechtsanwalts Christian Schmaus. Die monatelange Korrespondenz zwischen St. Pölten und Islamabad, Unidiplome, Auszeichnungen, beglaubigte Übersetzungen füllen zwei dicke Ordner. Der afghanische Arzt will seine Geschichte erzählen, "damit anderen erspart bleibt, was ich durchgemacht habe". Sie zeigt, wie Österreich mit Einwanderern aus Drittstaaten umspringt, selbst dann, wenn sie von A wie Ausbildung bis Z wie Zeugnisse alles mitbringen, was man sich wünschen kann - und sie auch noch dringend gebraucht werden.

Von Afghanistan nach Deutschland

Mohammad kommt 1963 als Kind eines Beamten in Afghanistan zur Welt. Die Familie reist von Bezirk zu Bezirk, von Stelle zu Stelle. Der heranwachsende Bub sieht Hippies aus dem Westen in klapprigen VW-Bussen durch ein gastfreundliches Land reisen. Sie rauchen Haschisch und verkaufen Habseligkeiten, wenn ihnen das Geld ausgeht. Seine Eltern erstehen eine Matratze mit Sprungfedern. Eine prokommunistische Regierung ist an der Macht, 1979 marschiert die Sowjetunion ein. Mohammad absolviert seine letzten Schuljahre in Kabul und bekommt 1982 die Chance, mit einem Stipendium in der Ex-DDR zu studieren. Er schreibt sich an der altehrwürdigen Universität Greifswald für Medizin ein. Seine afghanischen Freunde lassen sich danach zu Fachärzten ausbilden. Er geht als Einziger zurück, um als Arzt "in den schwierigen Gebieten" nützlich zu sein, wie er sagt.

Zurück in Afghanistan

Die Armee zieht den Arzt ein und beordert ihn zum Dienst in einem Militärspital. 1992 reißen islamische Guerillas (Mudschaheddin) die Macht an sich. Es kommt zu Kämpfen zwischen verfeindeten Milizen, zu Plünderungen von Waffen, Autos, Geld. Die Lage in Kabul sei unerträglich geworden, erzählt Mohammad. Er flüchtet mit seiner Familie Richtung Osten, wo sein Vater sechs Hektar Land und ein von den Russen zerstörtes Haus besitzt, das sie notdürftig herrichten. Hier eröffnet er eine Ordination. Bald lässt der von den Mudschaheddin eingesetzte Bürgermeister nach ihm rufen: Der Doktor solle beim Aufbau eines Gesundheitswesens helfen.

Mohammad startet - mithilfe einer holländischen NGO - ein Spital in Nangarhar. Eines Tages steht ein österreichischer Ingenieur vor seiner Tür, der Entminungsprojekte, Schulen und bald auch das neue Krankenhaus fördert. Betten und Apparate werden angeschafft, Ärzte angeheuert, Mohammad stellt die erste Frau ein. Das Spital zählt vier Abteilungen - Kinder, Innere, Chirurgie und Frauenheilkunde - und 25 Mitarbeiter. Der Gönner übernimmt die Gehälter und laufenden Kosten.

Die Ärzte versorgen Minenopfer, Schuss- und Stichwunden, stillen Blutungen und schicken die Schwerverletzten in bessere Krankenhäuser. Oft fordern Bewaffnete die Herausgabe von Patienten. "Im Spital sind alle gleich", habe er sich jedem entgegengestellt. 1998 gelangen die Taliban an die Macht. Sie sammeln die Waffen ein und verfolgen Kriminelle und Opiumbauern mit drakonischer Härte. Menschen werden verprügelt, Hände abgehackt. Die Bevölkerung wagt sich wieder auf die Straße. "Selbst in der Nacht war man sicher", sagt Mohammad: "Aber die Schulen für die Mädchen wurden geschlossen und die Leute verarmten. Viele hungerten."

Um die Jahrtausendwende stirbt der österreichische Ingenieur. Monatelang kann Mohammad weder das Personal noch Treibstoff für die Generatoren bezahlen. Die Ärzte arbeiten dennoch weiter, auch die Verbindungen zu Österreich bleiben intakt. US-Kampfflieger bombardieren das Gebiet. Osama Bin Ladens letztes Versteck liegt 40 Kilometer entfernt. Ein ORF-Team schlägt sich auf gefährlichen Routen zu Mohammads Spital durch. Das Interview mit dem Deutsch sprechenden Afghanen wird 2001 in "Thema" ausgestrahlt. Danach fließen die Mittel wieder; die Caritas übernimmt das Spendenprogramm. 2005 meldet sich der Reporter erneut, um nachzuhaken, was aus den Spenden geworden ist. Das Spital hat inzwischen 54 Betten, 62 Mitarbeiter, einen OP-Saal, einen Kreißsaal, eine Küche und eine Wäscherei. Mohammad managt in der Provinz acht Einrichtungen und zeichnet für internationale Programme verantwortlich.

Von Afghanistan nach Deutschland

Die Lage wird aber immer schlimmer. Ärzte werden gefoltert und erst gegen horrendes Lösegeld freigelassen. Ein Orthopäde weigert sich, auf die Forderungen der Verbrecher einzugehen, sie töten ihn mit einer Bombe. Immer wieder reist Mohammad nach Europa, um Geld aufzutreiben. 2018 fliegt er nach Deutschland, um seine Klinik zu präsentieren. Er erhält ein Schengen-Visum, das für zwei Jahre gilt. Bisher war er noch von jedem Aufenthalt zurückgekehrt. Doch nun ist von der Hoffnung, dass es in seinem Land je besser würde, nichts mehr übrig. Wer mit Ausländern arbeitet, gilt den Taliban als Verräter. "Noch gefährlicher sind die Kriminellen. Wenn man die Kinder in die Schule schickt, hat man Angst, dass sie entführt werden", sagt er.

Von Deutschland nach Österreich Studienkollegen erzählen, dass im Osten Deutschlands Ärzte gesucht werden. Mohammad aber will lieber nach Österreich, das Land, dem er verbunden ist. Er hat Verwandte hier, die ihm bei seinem Neustart helfen. Seine in Wien lebende Nichte sagt im profil-Gespräch, sie sei davon ausgegangen, dass man einen "Mediziner mit deutschem Uni-Abschluss, perfekten Sprachkenntnissen und enormer Erfahrung" hier "mit Handkuss" nehmen würde. Das Spital in Mistelbach würde den Arzt gerne einstellen und sucht im Herbst 2019 um eine "Rot-Weiß-Rot-Karte" für Mohammad an. Monatelang scheint sich alles im Kreis zu drehen: Die Ärztekammer braucht eine Jobzusage, dafür benötigt der Arzt einen Aufenthaltstitel, für den wiederum eine angemessene Bleibe erforderlich ist, die ohne Lohnzettel nicht zu bekommen ist. Ein Zimmer um 150 Euro genügt der Behörde nicht. Mohammad mietet ein Haus in Mistelbach um 600 Euro, das noch monatelang leerstehen wird. Alle drei Monate muss er mit seinem Visum C aus dem Schengenraum ausreisen. Schließlich gibt das AMS grünes Licht. Am 24. Jänner 2020 schreibt das Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, dass seine Rot-Weiß-Rot-Karte bereitliege. Neun Monate sind inzwischen verstrichen. Endlich arbeiten, denkt Mohammad.

Von Österreich nach Afghanistan

Dabei nimmt seine absurde Odyssee an diesem Punkt bloß eine Wendung. Der zuständige Referent lässt sein Visum C nicht gelten und besteht auf einem Visum D. Anwalt Schmaus wendet ein, sein Mandant halte sich "legal im Land auf", ein Visum D sei daher nicht nötig. Das Innenministerium bestätigt die Rechtsansicht des Referenten. Die Ampel bleibt auf Rot. Schmaus hält das Vorgehen für "sachlich nicht gerechtfertigt", was in der Juristensprache so viel wie "schikanös" bedeutet. Mohammad fürchtet nichts mehr als einen langen Rechtsstreit und will eher Strapazen auf sich nehmen, nach Afghanistan fliegen, von dort nach Pakistan reisen, um in Islamabad bei der österreichischen Vertretung ein Visum D zu beantragen, nach Österreich zurückfliegen, in St. Pölten den Reisepass vorlegen, seine Rot-Weiß-Rot-Karte in Empfang nehmen - und danach seinen Dienst im Spital antreten.

Von Afghanistan nach Pakistan - und zurück Im Jänner 2020 steigt er in den Flieger nach Kabul. Seine Unterlagen hat er nach Islamabad geschickt. Alles scheint auf Schiene. Zwischen Mohammads Dorf und Islamabad liegen 450 Kilometer. Die Reise ist wegen der Spannungen zwischen Afghanistan und Pakistan gefährlich. Auch dafür braucht er ein Visum. Vor der Botschaft stehen Menschentrauben, die mit Wasserwerfern auseinandergetrieben werden. Mohammad muss Schmiergeld zahlen und viele Schwierigkeiten überwinden, bis er in Islamabad seinen Antrag einbringen kann. "In zwei Wochen erhalten Sie Antwort", habe man ihm am Konsulat beschieden, so Mohammad.

Er fährt nach Afghanistan zurück. Und dann passiert - nichts. Der Arzt schickt ein Mail. Keine Antwort. In China ist eine Corona-Epidemie ausgebrochen. "Ich habe die Botschaft sogar gewarnt, dass es bald zu Problemen in der ganzen Welt kommen könnte", sagt er. Woche um Woche verstreicht. Dann kommt der Lockdown. Auch die Kanzlei in Wien arbeitet mit Hochdruck daran, für ihren Mandanten in Islamabad einen Termin für die Abholung des Visums zu arrangieren. Mohammad sitzt in Afghanistan fest. Die Flüge nach Europa sind gestrichen. "Nila, ist es aussichtslos?", habe er seine Nichte in Wien immer wieder gefragt. "Wir laufen bis zum Schluss und werden es schaffen", habe sie jedes Mal geantwortet. Am 21. August 2020 nimmt die Botschaft in Islamabad den Parteienverkehr wieder auf.

Von Afghanistan nach Österreich

Erst im Jänner 2021 kommt er zurück. Ein Jahr ist seit seinem Abflug verstrichen. Die Rot-Weiß-Rot-Karte scheint nur noch eine Formsache zu sein. Doch selbst auf den letzten Metern lauert eine Überraschung. Der Referent in St. Pölten bedauert, die Karte sei nur noch kurz gültig. "Der Onkel da, die Karte quasi abgelaufen, ich habe gedacht, ich bin im falschen Film", erzählt die Nichte. Wieder eilen Nachrichten hin und her. Mohammad wird erneut vorgeladen. Man brauche zwei neue Fotos und Fingerabdrücke, zwei Wochen später sei eine neue Karte in der Post. Der Brief mit dem Stück Plastik kommt nicht, stattdessen wird sein Anwalt aufgefordert, einen Termin für die Abholung zu vereinbaren. Zehn Tage lang versucht die Nichte, den Referenten zu erreichen. Inzwischen liegen bei allen Beteiligten die Nerven blank. Am 13. Jänner 2021, als Mohammad die Karte schließlich in Händen hält und ihm die Verwandten vor Freude um den Hals fallen, bemerkt die junge Frau trocken: "Zeig mir die Karte!" Ihr Vertrauen in Behörden sei mittlerweile zerstört.

Mistelbach, am Ziel

Anfang Februar schlüpft Mohammad in seinen weißen Kittel und meldet sich im Spital in Mistelbach zum Dienst. Als er vor zwei Jahren hier erstmals anklopfte, seien sechs Arztstellen unbesetzt gewesen, sagt er. Die Ärztekammer wertete seinen Studienabschluss als EU-konform, die wechselvollen 28 Jahre als Arzt, Spitalsgründer und Gesundheitsmanager in Afghanistan rechnete man ihm nicht an. Es hätten Unterlagen gefehlt, "wie viele Konserven angehängt und wie viele Sonografien gemacht wurden", sagt Mohammad. Er startet deshalb als Turnusarzt. Die meisten in dieser Position sind um die 30, wie sein ältester Sohn. Es stört ihn nicht, "ich muss mich hier ja erst eingewöhnen", sagt er. Vielleicht muss er sich auch von den Erlebnissen der vergangenen zwei Jahre erholen, die kaum zu glauben sind - wären da nicht die dicken Ordner in der Kanzlei seines Anwalts.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges