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Mord an Exil-Tschetschenen: Brisante Anklage

In der Causa des 2020 getöteten Regime-Kritikers „Anzor“ gibt es eine erste Mordanklage: gegen den Leibwächter des Opfers.

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Es ist ein Kriminalfall von internationaler Brisanz: Im Juli 2020 wurde der tschetschenische YouTube-Blogger Martin B. alias „Anzor“ bei einer aufgelassenen Firmenhalle am Wiener Stadtrand erschossen. B. hatte vor seinem Tod eine Reihe von Videos veröffentlicht, in denen er den tschetschenischen Machthaber Ramsan Kadyrow heftig kritisierte und beschimpfte. In der tschetschenischen Diaspora Europas sorgte die Tat für große Aufregung, der Verdacht eines Auftragsmordes aus Grosny drängte sich auf. Auch das österreichische Innenministerium ortete politische Hintergründe, das niederösterreichische Landesamt für Verfassungsschutz ermittelte.

Über ein halbes Jahr später gibt es in der Causa nun eine erste, fertige Anklageschrift, die profil exklusiv vorliegt. Überraschend: Die Anklage richtet sich nicht gegen den vermeintlichen Mörder des Bloggers - sondern gegen dessen „Leibwächter.“  Zur Erinnerung: Zwei Männer - beide gebürtige Tschetschenen – waren damals unmittelbar nach der Tat festgenommen worden: Sar Ali-A., der mutmaßliche Todesschütze, wurde nach einem Fluchtversuch im Raum Linz verhaftet; Ahmed A., besagter „Bodyguard“ des ermordeten Bloggers, nahmen Beamte noch am Gerasdorfer Tatort fest. Weil der Leibwächter versucht hätte, auf den vom Tatort flüchtenden Sar Ali-A. zu schießen, wird er nun selbst wegen versuchten Mordes angeklagt.

Zu dem Treffen an der Wiener Peripherie war es laut Anklage wegen eines geplanten „Waffengeschäftes“ gekommen: Blogger Martin B. hätte von Sar Ali-A. eine Pistole der Marke Glock erwerben wollen, angeblich in Abtausch gegen einen alten BMW.

Martin B. galt bereits als höchst gefährdete Person: Wegen seiner YouTube-Videos gegen das tschetschenische Regime erhielt er laufend Morddrohungen, lehnte Personenschutz durch die österreichischen Behörden aber ab. Dafür heuerte er Ahmed A., laut Anklage ein „guten Freund“, als Leibwächter an. Blogger und Bodyguard – beide bei ihren Treffen stets bewaffnet – waren sich des Risikos offenbar bestens bewusst: „A. warnte Martin B. noch vor diesem Treffen und versuchte es ihm auszureden, insbesondere da er sich informiert hatte und Sar-Ali A. ein Anhänger des Präsidenten Ramsan Kadyrow ist, jedoch ohne Erfolg“, heißt es in der Anklageschrift. Vor dem geplanten Waffendeal sei der Leibwächter sogar mehrmals - zuletzt zwei Tage davor – zu Vorbereitungen an den Tatort gefahren und habe seine Waffe vom Typ Tokarev getestet, „indem er auf dem Gelände in Gerasdorf bei Wien Schussübungen auf eine alte Autobatterie durchführte.“

Am Abend des 4. Juli ging dann offenbar alles gehörig schief: „Der Beschuldigte versteckte sich auf dem Firmengelände etwas abseits in einer Halle hinter einem Fahrzeug, wo er von den anderen beiden Personen nicht gesehen werden konnte. All dies in Absprache mit Martin B.“, so die Annahme der Staatsanwaltschaft Korneuburg. Der Blogger und der vermeintliche Waffenverkäufer hätten sich gemeinsam in ein weiteres Fahrzeug gesetzt; dann fielen plötzlich Schüsse. Mit gezogener Waffe sei der Leibwächter dann aus der Deckung gekommen, Martin B. lag bereits erschossen an der Beifahrerseite seines Wagens.

Ahmed A. hätte mehrmals versucht, auf den mutmaßlichen Schützen Sar Ali-A. zu feuern – doch die Waffe versagte. „Entweder durch ein unsachgemäßes Vorgehen des Beschuldigten oder durch ein selten auftretendes Problem dazu, dass sich die erste Patrone im Lauf verkeilte“, begründet es die Staatsanwaltschaft. Ein Sachverständiger habe laut Anklage sogar festgestellt, dass nur die erste Patrone -  aufgrund von Alter und Feuchtigkeit - defekt gewesen wäre: „jede weitere Patrone im Magazin des Beschuldigten hätte einwandfrei funktioniert.“ Weil der Leibwächter es „ernstlich für möglich gehalten“ habe, den mutmaßlichen Mörder des Freundes zu erschießen, ist er nun ebenfalls des versuchten Mordes beschuldigt.

Im Fall der Tötung von Martin B. wird Sar Ali-A., der seit vielen Jahren mit seiner Familie als Flüchtling in Oberösterreich lebte, weiterhin gesondert verfolgt. Die Ermittlungen sind hier noch nicht abgeschlossen. Der Verdacht liegt jedoch nahe, dass Ali-A. im Auftrag des tschetschenischen Regimes handelte. Der getötete B. hieß einst eigentlich Mamichan Umarow. Er war ein enger Freund des 2009 in Wien erschossenen Exil-Tschetschenen Umar Israilow – und seit damals Informant des Wiener LVT. Auch der nun angeklagte Leibwächter war dem Verfassungsschutz bekannt. Das LVT wusste von dem geplanten Geschäft in Gerasdorf sogar vorab Bescheid. Ahmed A. habe „zuvor seine Kontaktperson beim Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung Wien über das Treffen informiert“, heißt es in der profil vorliegenden Anklageschrift.

Gegenüber den Ermittlern zeigte sich der nun angeklagte Leibwächter bis zuletzt nicht geständig. Er habe vielmehr auf den Autoreifen des flüchtenden Täterfahrzeuges schießen wollen. Nach dem Vorfall verständigte der 37-Jährige die Polizei, wurde nach widersprüchlichen Aussagen jedoch festgenommen. Neben versuchten Mordes wird Ahmed A. mehrerer anderer Delikte angeklagt: darunter illegaler Waffenbesitz, Verstoß nach dem Verbotsgesetz (auf seinem Rechner waren Bilder mit NS-Bezug gefunden worden) sowie „fortgesetzte Gewaltausübung“ gegen seine frühere Ehefrau und gemeinsame Kinder. Ahmed A.s Anwalt Martin Mahrer erklärt gegenüber profil, erst vor wenigen Tagen dessen Verteidigung übernommen zu haben. Mangels Akteneinsicht könne er zum Fall derzeit noch keine Stellungnahme abgeben. Ein Termin für die geplante Hauptverhandlung steht noch aus.