Monika Steiner (links) und Nicola Werdenigg (rechts)

Nicola Werdenigg: "Der Mensch ist Material"

Ex-Skirennläuferin Nicola Werdenigg und Theaterregisseurin Monika Steiner über Helden im Sport und in der Kunst, Macht und Missbrauch, Besetzungscouch und Doping.

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INTERVIEW: EDITH MEINHART

profil: Frau Werdenigg, was hinderte Sie so lange, über sexuelle Gewalt im Sport und Ihre eigenen Erfahrungen zu reden? Werdenigg: In den ersten Jahren waren es die Scham und die Angst, stigmatisiert zu werden und die Sportkarriere aufgeben zu müssen. In den 1970er-Jahren haben vergewaltigte Frauen vor Gericht selten recht bekommen.

profil: Der Gedanke, zur Polizei zu gehen, kam Ihnen nicht? Werdenigg: Das war schlicht undenkbar! Ich sprach mit einer befreundeten Sportlerin, die auch nicht weiter wusste. Später habe ich meinem Mann erzählt, was mir passiert war - er hat mich in den Arm genommen. Aber dann waren kleine Kinder da, und es war erst recht undenkbar, meine Geschichte öffentlich zu machen.

profil: Vor einigen Monaten wagten Sie den Schritt doch. Welcher Preis ist höher - jener für Schweigen oder jener für Reden? Werdenigg: Der für das Schweigen ist ungleich höher. Ich habe gerade mit einem mutmaßlichen Missbrauchsopfer gesprochen. Die Frau hatte jahrzehntelang körperliche Beschwerden, die wie weggeblasen sind, seit sie über ihre Erlebnisse redet. Eine Studie der Universität Wien belegt, dass Traumata 50,60 Jahre nachwirken können.

Geredet wird eher hinter vorgehaltener Hand. Das Perfide ist, dass es meist die Täter sind, die ihre Version der Geschichten in Umlauf bringen. (Monika Steiner)

profil: Mit Nicola Werdenigg erreichte die #MeToo-Bewegung den heimischen Skisport. Geht es im Sport und in der Kunst ähnlich zu, Frau Steiner? Steiner: Es stehen hier wie dort Menschen an der Spitze, seien es Trainer, Regisseure oder Dirigenten, die für eine Weile große Macht über eine mehr oder weniger geschlossene Gruppe ausüben. Und in beiden Branchen geht es stark um Körperlichkeit und Grenzerfahrungen. Werdenigg: Sowohl Künstler als auch Sportler beginnen früh mit ihrem Ausbildungsweg. In der Regel beschließt nicht das Kind mit drei Jahren, Skifahrer oder Musiker zu werden, sondern es folgt den Wünschen der Eltern. Vielleicht bleibt das Kind später dabei, um niemanden zu enttäuschen. Im Sport geht es wie in der Kunst viel um Anerkennung. Steiner: Ich war früher Eiskunstläuferin. Das Problem ist: Man will um jeden Preis funktionieren. Und man hält wirklich viel aus. Dann hat man ein fertiges Studium und kommt wie ich mit 21 an ein Theater, wo sexuelle Belästigung gang und gäbe war. Ich lachte dem Intendanten ins Gesicht. Ich wusste, zu Hause sitzt meine Familie, die mich nicht hängen lassen wird. Ich musste nicht bleiben. Und dieses Verhalten hat funktioniert, immer!

profil: Wie offen redet man unter Kollegen, ob sich die Besetzungscouch am Ende auszahlt? Steiner: Geredet wird eher hinter vorgehaltener Hand. Das Perfide ist, dass es meist die Täter sind, die ihre Version der Geschichten in Umlauf bringen. Manche Intendanten pflegen ihr Mätressentum ja auch ganz unverhohlen. Die Opfer hingegen schweigen. Wer den Weg über die Besetzungscoach geht, ist nicht unbedingt eine schlechte Künstlerin. Manchmal geht es nur darum, überhaupt eine Chance zu bekommen. Aber die Besetzungscouch kommt auch ins Spiel, wenn jemand nicht gut genug ist. Wie aber soll man das beweisen? Man wird beschämt, beschädigt und künstlerisch gehemmt, weil man nie sicher sein kann, was die eigene Leistung ist. Das ist ein Verbrechen an talentierten Menschen - man muss es in dieser Brutalität sagen.

profil: Die Opernsängerin Christa Ludwig sagt, die Besetzungscouch existiere seit den Anfängen des Theaters. Gibt es Künstler, die den Preis lächelnd wegstecken? Steiner: Die Besetzungscouch betrifft Männer und Frauen. Es stimmt, sie ist alt, aber sie war nie gut. Es ist an der Zeit, dass wir sie abschaffen. Bei einem Künstler, der durchlässig, sensibel und verletzlich ist, damit er gut in seinem Beruf sein kann, bleibt das nicht ohne Wirkung. Manchmal suchen Sängerinnen oder Schauspieler, die unsicher sind, eine Nähe zum Dirigenten oder Regisseur, bis hin zu einer Beziehung, um die Probenzeit durchzustehen. Man begibt sich in die Hand dieses mächtigen Menschen, um Schutz zu bekommen. Wenn das von der anderen Seite missbraucht wird, kann es zu starken Verwerfungen kommen. Das ist schwer in das normale Leben zu überführen, weil der Probenprozess ganz oft auch eine Grenzerfahrung ist.

profil: Künstlerinnen erzählen, dass sie Übergriffe abwehren konnten, danach gemobbt wurden und niemand aus dem Kollegenkreis geholfen habe. Halten sich Besetzungscouch und Machtmissbrauch deshalb so hartnäckig? Werdenigg: Solidarität ist selten. Dabei wissen wir aus Studien, dass jeder dritte Leistungssportler im Laufe seiner Karriere einen sexuellen Übergriff erlebt, jede neunte Sportlerin erfährt schwere sexualisierte Gewalt, 60 Prozent sind bei diesen Übergriffen unter 18. Kunst und Sport sind einander darin sehr ähnlich - ich würde als dritte Gruppe das Militär dazunehmen. Über allen liegen patriarchale Strukturen, die es schwierig machen, vor Gericht zu gehen, weil man als Opfer stigmatisiert wird. In Österreich sind wir hier noch besonders rückständig.

Es gibt immer ein Überangebot an Künstlern, Sportlern und Soldaten. Der Einzelne ist nicht wichtig, sieht man von wenigen Stars ab. (Nicola Werdenigg)

profil: Woran machen Sie das fest? Werdenigg: Wir haben in der Nachkriegszeit in der Kunst und im Sport Idealbilder aufgebaut. Da mussten Helden für das nationale Selbstwertgefühl entworfen werden. Österreich hat diese faschistoiden Strukturen nie aufgearbeitet, die einige Sparten stärker als andere, in Wahrheit aber das ganze Land betreffen.

profil: Frau Steiner, gibt es Parallelen zwischen dem hierarchischen Militär und der lockeren Welt der darstellenden Künste? Steiner: Das ist ein geschöntes Bild. Es geht durchaus sehr hierarchisch zu, auch wenn das Gefälle zwischen Theaterleitung, Regisseuren und Dirigenten einerseits und Solisten andererseits spielerischer aussieht. Sänger etwa müssen unfassbar diszipliniert sein, machen eine langwierige Ausbildung, und wenn sie an die Front kommen, um im militärischen Bild zu bleiben, bekommen sie in der Regel Einjahresverträge. Jeder, der auftritt, singt quasi um sein Leben. Werdenigg: Es gibt immer ein Überangebot an Künstlern, Sportlern und Soldaten. Der Einzelne ist nicht wichtig, sieht man von wenigen Stars ab. Der Mensch ist Material.

profil: Musik ist das teuerste Studium. Sollte der Staat darauf schauen, dass Absolventen nicht gleich verheizt werden? Steiner: Wir haben ein Kunstförderungsgesetz, das nicht weit genug geht. Wir brauchen einen Verhaltenskodex für Theaterleiter. Das führt mich zu den Tiroler Festspielen Erl. Das AMS sagt, ein weißrussisches Orchester zu engagieren, falle unter künstlerische Freiheit. Es gibt aber genug heimische Musiker und Sänger, die nicht genommen werden, weil sie mehr kosten. Förderstellen - in diesem Fall das Land Tirol und der Bund - sollten darauf achten, dass Steuergelder verantwortungsvoller eingesetzt werden.

profil: Der Tiroler Markus Wilhelm sammelte auf seinem Blog massive Vorwürfe gegen den Intendanten Gustav Kuhn; allerdings will niemand mit seinem Namen dazu stehen. Frau Steiner, Sie begründeten "Voice it!" mit, eine Plattform gegen Machtmissbrauch in Kunst und Kultur. Was wissen Sie über die Zustände in Erl? Steiner: Die Vorwürfe sind im erwähnten Blog dokumentiert, weiters bei der Gewerkschaft Younion und bei uns. Wir kennen von vielen, die sie erheben, die Namen, aber die Leute scheuen sich, aus der Anonymität herauszutreten, weil sie befürchten , erneut zum Opfer zu werden. Aber es gibt auch Zeugen. Je mehr sich melden, desto besser sind Betroffene geschützt. Ich kann an die Kollegen nur appellieren, solidarisch zu sein.

Ich habe gewusst, dass es auch andere gibt. Aber ich war nicht sicher, ob mir jemand beispringen würde. (NIcola Werdenigg)

profil: Mit Namen treten bisher - mit wenigen Ausnahmen - vor allem Künstler auf, die für den Intendanten Partei ergreifen. Wie sind Ihre Erfahrungen mit Zeugen und Kollegen, Frau Werdenigg? Steiner: Man kann leicht nachprüfen, dass diese Kollegen von den Tiroler Festspielen Erl sehr abhängig sind. Ich verurteile das gar nicht, viele bangen und kämpfen um ihren Job. Werdenigg: Wenn Kindern etwas passiert ist, etwa im Fall der Skihauptschule in Neustift, ist die Bereitschaft hoch, bei der Polizei auszusagen. Wir haben einen Fall aus Schladming, bei dem aktive Sportler betroffen sind - da ist die Bereitschaft geringer. Man muss das psychologisch verstehen: Wir waren alle schon Täter, Opfer oder Zeugen, jeder ist in einer solchen Situation betroffen, sei es von schlechtem Gewissen, von der Angst, erwischt zu werden, oder von Scham. Steiner: Am Beispiel Erl: Vielleicht haben Menschen lange mitgemacht und denken nun: Es war falsch, ich habe mir selbst geschadet, vielleicht mitgeholfen, andere zu mobben und zu demütigen. Den Satz "Ich schäme mich" liest man im Blog öfter. Jeder hat eine Chance, sich zu melden, auch oder gerade, weil er mitgelacht hat, als Musiker attackiert oder Sängerinnen beschimpft wurden, was laut Zeugenaussagen öfter passiert ist.

profil: Wir würden nicht über Machtmissbrauch im Sport reden, hätten Sie, Frau Werdenigg, nicht erzählt, dass Sie mit 16 vergewaltigt wurden. Hatten Sie Angst, die Einzige zu sein, die Schlimmes erlebt hat? Werdenigg: Ich habe gewusst, dass es auch andere gibt. Aber ich war nicht sicher, ob mir jemand beispringen würde. Bevor ich hinausgegangen bin, habe ich mich einer Person versichert, die gesagt hat: "Ja, ich weiß, dass dir das passiert ist. Mir ist auch etwas passiert. Ich stärke deinen Rücken." Diese Erfahrung bewog mich, ein Forum aufzusetzen, wo sich anonyme machtmissbrauchte Sportler austauschen können.

profil: Als Ihre Vorwürfe publik wurden, wollte der Skiverband sofort die Namen mutmaßlicher Täter. Warum? Werdenigg: Da geht es um patriarchale Strukturen: Der Familienvater hört, dass etwas nicht so toll war, und will das intern regeln. Deshalb nenne ich nur der Polizei und der Staatsanwaltschaft gegenüber Namen. Wir wissen aus der Kirche: Werden diese Menschen nicht angezeigt, gehen sie zur nächsten Institution und machen weiter. Steiner: Ich behaupte, dass man über die Täter Bescheid weiß, zumindest in der Kulturbranche kursieren jahrelang intern Gerüchte. Als wir 2013 die Künstlerinitiative art but fair gegründet haben, gab es sofort die ersten Beschwerden.

profil: Muss man sich damit abfinden, dass manche Künstler für ihre Karriere fast alles tun? Steiner: Man kann da nicht mit der Moralkeule kommen, es ist das System, das die Leute vor die Wahl stellt. Das gehört geändert. Werdenigg: Man kann das mit dem Doping vergleichen. Für eine Untersuchung in den USA wurden Spitzensportler gefragt: Würden Sie dopen, wenn Sie damit jetzt eine Goldmedaillie holen, dafür aber in fünf Jahren tot sind? Etwa die Hälfte würde das Mittel nehmen. Der Wunsch nach Ruhm ist so groß, dass einige Sportler enorme Risiken eingehen. Und dann gibt es Ausdauersportarten, wo man nicht mitzumachen braucht, wenn man nicht dopt.

profil: Wie ändert man dieses System? Werdenigg: Es muss von der Gesellschaft, dem Staat, Regeln geben. Im internationalen Skiverband diskutiert man, dass man nicht mehr 50 Jahre, sondern nur mehr zwei oder drei Legislaturperioden Präsident sein darf. Außerdem ringen wir darum, Fördermittel an einen Kodex zu binden. Wenn Subventionen bei Regelverstößen ausbleiben, haben wir ein prima Instrument gegen die Willkür in der Hand. Reden hilft auch, wie Studien zeigen: Sobald über sexualisierte Gewalt nur gesprochen wird, geht sie schon signifikant zurück.

profil: Ex-Damentrainer Karl Kahr zieht vor Gericht, andere könnten nachziehen: Was wird aus der #MeToo-Bewegung, wenn Betroffene am Ende als Lügnerinnen dastehen? Werdenigg: Derzeit läuft ein medienrechtliches Verfahren gegen die "Süddeutsche Zeitung". Leute, die hier anonymisiert Vorwürfe erhoben haben, müssen als Zeuginnen aussagen. Zweitens gibt es eine Klage gegen eine Athletin, die in einer Whats-App-Kommunikation Karl Kahr einiger Übergriffe beschuldigt. Ich bin nicht unfroh , dass die Causa vor Gericht geht. Jemand, der die Wahrheit sagt, stellt sich dort ganz anders hin als jemand, der lügt. Wir sind mehrere, die hier auftreten und die Wahrheit sagen. Und dann werden wir sehen, was herauskommt.

Zur Person

Im November des Vorjahres machte Nicola Werdenigg, 59, im "Standard" ihre Vergewaltigung öffentlich. Unter ihrem Mädchennamen Nicola Spieß war sie in den 1970er-Jahren Weltcup-Rennen gefahren, bei den Olympischen Spielen 1976 holte sie Platz vier in der Abfahrt. Mit Werdeniggs Outing erreichte die #MeToo-Bewegung den heimischen Skisport. Zahlreiche Verdachtsfälle wurden publik; der vor Jahrzehnten ad acta gelegte Skandal um eine vertuschte mutmaßliche Vergewaltigung durch Skilegende Toni Sailer poppte erneut auf. Vor zwei Monaten stellte Werdenigg ihre Plattform #Wetogether gegen sexualisierte Gewalt im Sport vor; vergangene Woche veröffentlichte sie die Streitschrift "Ski Macht Spiele" (Leykam Verlag). Monika Steiner, 54, war elf Jahre lang szenische Leiterin der Volksoper und arbeitet nun als freie Regisseurin. Sie ist im Vorstand der Künstler-Initiative "art but fair", die sich für faire Gagen und Arbeitsbedingungen einsetzt, und begründete in diesem Rahmen eine neue Plattform mit, die unter dem Hashtag #voiceit auftritt. Ziel ist es, Fehlentwicklungen in der darstellenden Kunst aufzuzeigen, Opfer von Übergriffen zu unterstützen und einen Verhaltenskodex für Theaterleiter auf den Weg zu bringen.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges