Österreich in zehn Lebenswelten: Die Milieus, die das Land prägen

Einmal pro Jahrzehnt wird das Land neu vermessen. Zehn Lebenswelten – sogenannte Sinus Milieus – sollen es erklären. Nun ist es wieder soweit. Fazit: Das Zentrum bricht. Die Bevölkerung strebt auseinander.

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Geht es um den Zustand der Gesellschaft, schauen Sozialforscher gerne auf die Mitte. Aus ihr soll der solide Zusammenhalt entspringen, das Vertrauen in Institutionen und Demokratie. Doch seit einigen Jahren zeigen sich ausgerechnet hier die stärksten Bruchlinien. Auch den Milieubeobachtern von Integral sprangen sie ins Auge. Das Wiener Marktforschungsunternehmen lotet seit 2001 die sogenannten Sinus-Milieus aus, zehn Lebenswelten, die Österreich ausmachen. 

Das nach seinem Erfinder, dem deutschen Sinus-Institut, benannte Modell fasst Menschen zusammen, die ähnlich denken, wohnen, konsumieren und wählen. Je weiter oben ein Milieu in der Grafik liegt, desto wohlhabender und gebildeter ist es, je weiter links, desto mehr zählt für seine Vertreter das Althergebrachte und Überlieferte. Alle Dekaden wird die soziologische Landkarte überarbeitet. Alte Werte verblassen, neue Generationen tauchen auf, die zu anderen Zeiten geprägt wurden als ihre Eltern und Großeltern. Das hat Auswirkungen auf Lebensstil, Konsumverhalten und Einstellungen zu fast allem: Politik, Gesellschaft, Familie und Nachbarn.

Nun war es wieder einmal Zeit für eine Neuvermessung. Das alte Sinus-Modell stammt aus 2011, in das aktualisierte, in das profil und „Kurier“ vorab Einblick erhielten, fließen gravierende gesellschaftliche Verschiebungen ein, so Martin Mayr und Bertram Barth, Co-Geschäftsführer von Integral. Klimawandel und Nachhaltigkeit rückten in der Hierarchie der „wirklich wichtigen“ Probleme nach oben. 2015 hatte das Thema für gerade einmal fünf Prozent Priorität, 2021 vervierfachte sich der Wert auf 22 Prozent, während das Thema Migration sukzessive nach hinten rutschte. Viele der treibenden Kräfte – von Digitalisierung bis Regionalisierung – wirkten vor der Corona-Krise. Die Pandemie erwies sich jedoch als Turbo. So wurde etwa zwischen 2011 und 2019 ein kritisches Konsumbewusstsein allmählich auch in der Breite wirksam. 2021 aber sprang der Anteil jener, die meinen, „man sollte weniger konsumieren“, plötzlich auf 65 Prozent.

Und die Mitte? In der Pandemie wurde ausgerechnet sie zum Nährboden für ein tiefgreifendes Misstrauen gegen das Establishment. In keinem anderen Milieu sitzt die Angst, „von oben angelogen und manipuliert zu werden“, so tief wie in der sogenannten „bürgerlichen Mitte“ (Mayr). Auf die Frage, welcher Partei man zutraue, Probleme zu lösen, antworteten 17 Prozent:   „keiner einzigen“. Ein Jahr später sind es bereits 37 Prozent. Drei Viertel meinen, dass sich die Politik „für Leute wie mich immer weniger interessiert“.  79 Prozent empfinden die „soziale Kälte“ als bedrohlich.

Die alte bürgerliche Mitte ist reminiszent gestimmt, fühlt sich gesellschaftlich an den Rand gedrängt, sehnt sich nach der vermeintlich guten alten Ordnung, in der jeder sein Reihenhäuschen, sein Auto und einen respektablen Platz in der Gesellschaft hatte. Und nach Eliten, die sich „wieder um das Volk kümmern“. Im aktualisierten Sinus-Modell heißt das zur Aufmarschzone für Systemkritiker und Rechtspopulisten gewordene Milieu deshalb „Nostalgisch-Bürgerliche“. Der Rest der alten Mitte ist statusorientiert, richtet sich nach oben aus und geht im Milieu der „Postmateriellen“ auf. 

Die Spaltung erzeugte ein Vakuum, in dem ein Milieu nachrückt, das bisher unter dem Label „Adaptiv-Pragmatische“ lief und nun „Adaptiv-Pragmatische Mitte“ heißt. Die alte bürgerliche Mitte fasste Pläne, hielt sich eisern daran, befolgte Anordnungen, passte sich an und verstand Fleiß als höchste Tugend, während die neue bürgerliche Mitte flexibel agiert, nach persönlichem Nutzen taktiert und Fleiß vor allem dann an den Tag legt, wenn dabei genug für sie herausspringt.  Was die neue von der alten Mitte scheidet, ist „weniger das Alter als das gesellschaftliche Ideal“, so die Milieu-Forscher. Das gilt letztlich für das ganze Sinus-Gebäude: Die markante Linie ist nicht Alt versus Jung, sondern ob sich der Blick in die Vergangenheit oder in die Zukunft richtet.

Auch die Eliten verändern sich im Banne von Krisen: Konservative und Etablierte, wie die traditionellen und modernen Oberschichtmilieus bisher hießen, verschmolzen zu einem konservativ-etablierten Milieu, das alte Werte, Religion und Familie hochhält und sich als taktangebend versteht. Nach dem Motto: Wenn sich alle an uns halten, kommen wir gemeinsam gut durch die schwierigen Zeiten. 

Sie werden herausgefordert durch das – vergleichsweise junge – Oberschichtmilieu „Digitale Individualisten“, das zu den „Kosmopolitischen Individualisten“ mutierte. Der Grund: Digitalisierung ist kein Alleinstellungsmerkmal mehr. Was sie auszeichnet, ist eine hohe digitale und geografische Wendigkeit, die Lust, Grenzen auszuloten, und ein ausgeprägter Zug zur Selbstoptimierung und ästhetischen Stilisierung. Die Integral-Geschäftsführer betrachten dieses derzeit in höhere berufliche Positionen strebende Milieu  – gemeinsam mit den auf der Landkarte neu aufgetauchten „Progressiven Realisten“ –  als prägend für die Zukunft.
Die erwähnten „Progressiven Realisten“ finden sich etwa in der Fridays-For-Future-Bewegung wieder. Party und Protest, so lautet ihre Devise. Sie werfen sich für Klimaschutz und Diversität auf die Schiene, erwarten sich, dass alle anderen mitziehen, sind durchaus bereit, ihren eigenen Konsum und ihre Mobilität zu hinterfragen. Nur langweilig darf das Leben nicht sein. Mit den „Progressiven Realisten“ werde seit langer Zeit erstmals wieder ein junges Milieu sichtbar, das „seine Meinung kundtut, Veränderungen erwartet und sich stark in den politischen Prozess einbringt“, so Mayr. 

Vergleichsweise wenig bewegte sich in der vergangenen Dekade in den Unterschichtmilieus der „Traditionellen“, der „Konsumorientierten Basis“ und der „Hedonisten“. Auch die in der Mitte der Gesellschaft weiter oben angesiedelten „Postmateriellen“, das Milieu der weltoffenen Kritiker von Gesellschaft und Zeitgeist, sogen zwar einen Teil der alten bürgerlichen Mitte auf, blieben aber ihren Werten – allen voran Verantwortung und Nachhaltigkeit – weitgehend treu. So wie auch die „Performer“, die versessen auf Effizienz und Erfolg sind und von einem angesichts des Klimawandels ungebrochenen Fortschrittsoptimismus angetrieben werden. Verzicht kommt für sie nicht infrage, Probleme halten sie mit technologischer Innovation für bewältigbar. 

Die oberen Milieus sind durchgängig optimistischer als der Rest der Bevölkerung, der inzwischen ziemlich düster auf das Kommende blickt. Anlässlich des aufgefrischten Sinus-Modells befragte Integral Ende September 1000 Personen online (repräsentativ für die Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren). Fazit: Nicht einmal die Hälfte (45 Prozent) deklarierte sich als optimistisch. Die Zuversicht sank damit auf einen absoluten Tiefpunkt. Seit Mitte der 1990er-Jahre pendelten die Werte zwischen 60 und 70 Prozent. Weder Finanzkrise, Flüchtlingsströme noch die Pandemie konnten dem viel anhaben. „Nun schlägt sich die objektive Krise erstmals deutlich in den subjektiven Perspektiven nieder“, sagt Barth.

Am besorgtesten sind übrigens nicht jene mit dem geringsten finanziellen Spielraum. Es ist einmal mehr die Mitte. Sie hat noch mehr zu verlieren.

Grafik: Elena Crisan

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges