Lehrlinge bei der Ausbildung in der voestalpine

Österreich schiebt Lehrlinge ab - trotz Facharbeiter-Mangel

In Europa herrscht ein heftiges Gerangel um Arbeitskräfte. Österreich dagegen schiebt Lehrlinge ab, ohne zu wissen, woher künftig die Facharbeiter kommen sollen.

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Reizwörter haben die Eigenschaft, das kühle, strategische Denken auszuschalten. Bei Asyl und Lehre klappt das auf Knopfdruck. Wer wie der Migrationsforscher Bernhard Perchinig dabei über die Grenzen schaut, zählt schon zu einer Minderheit. Die Puzzleteile für das größere Bild trägt er auf Tagungen in aller Welt zusammen, wo oft erstaunlich offen geredet wird. Sie fügen sich in ein Szenario, in dem nicht nur straffällige Flüchtlinge und Abschiebungen vorkommen, sondern auch das quer durch Europa herrschende Gerangel um Arbeitskräfte.

Jahrzehntelang rekrutierte Westeuropa Fachkräfte aus Ländern hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang. "Nun, da die Wirtschaft in Osteuropa prosperiert, gehen auch hier die Arbeitskräfte aus", sagt Perchinig. Das Tableau des Migrationsforschers gerät zum Wimmelbild: Man sieht Busse voll mit Arbeitern aus Ungarn und Polen, die zu Fabriken in Deutschland fahren, um dort für vier Tage Schicht zu arbeiten, während in ihren Herkunftsländern händeringend nach Fachkräften gesucht wird.

Der Kampf um die besten Köpfe wogt über nationale Grenzen hinweg. Woher kommen die Arbeiter für Autowerke in Ungarn oder die Bauwirtschaft in Polen? Woher bezieht die deutsche Industrie den Nachwuchs? Wo finden mittelständische Gewerbebetriebe in Oberösterreich ihre Lehrlinge? Die Fragen sind auf geheimnisvolle Weise verwoben: Wenn in Deutschland, wo derzeit 1,2 Millionen Stellen unbesetzt sind, die Regierung ein Gesetz absegnet, das Arbeitskräften aus Nicht-EU-Ländern erlaubt, ohne Jobzusage ins Land zu kommen, schrillen in Polen die Alarmglocken: Der Unternehmerverband ZPP, der 50.000 Firmen vertritt, befürchtet einen Exodus. 500.000 Ukrainer, die noch in Polen arbeiten, könnten nach Deutschland weiterziehen.

Kein Pardon für Lehrlinge

Und Österreich? Die 2011 eingeführte Rot-Weiß-Rot-Karte funktionierte nie richtig und soll nun generalüberholt werden, um jene Top-Leute anzulocken, die Studien zufolge Österreich entweder gar nicht auf dem Radar haben oder für ein recht grantiges Einwanderungsland halten. Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Gleichzeitig schiebt die türkis-blaue Regierung unter ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz abgewiesene Asylwerber nach Kräften ab, derzeit vor allem nach Afghanistan. Bis vergangenen September durften Asylwerber in Mangelberufen eine Lehre anfangen. Die Regelung wurde gestrichen, weil man zwischen Asyl und Zuwanderung scharf unterscheiden müsse, so die Begründung der ÖVP/FPÖ-Regierung. Ein Bleiberecht kommt bis dato nicht infrage. Für die aktuell rund 1000 Asylwerber mit Ausbildungsvertrag gibt es kein Pardon: Selbst vorbildlich integrierte Lehrlinge sollen abgeschoben werden.

Wie sinnvoll ist es, sie aus dem Land zu werfen, wenn gleichzeitig die Frage ungeklärt ist, woher künftig die Facharbeiter kommen? Migrationsforscher Perchinig hält diese Rein-raus-Politik für "wirtschafts- und gesellschaftspolitisch unklug". Ähnlich äußert sich Voestalpine-General Wolfgang Eder im profil-Interview: Österreich solle sich an Deutschland ein Beispiel nehmen. Dort bekommen Asylwerber drei Jahre Zeit für eine Lehre und können danach noch zwei Jahre lang arbeiten.

Migrationsforscher Bernhard Perchinig

Es ist kein Zufall, dass sich Widerstand gegen den rigorosen Asylkurs der Regierung zuerst im industriell geprägten Oberösterreich formierte. Hier fehlen bis 2030 rund 130.000 Facharbeiter. Außerdem zählt das Bundesland fast 400 Asylwerber mit Lehrvertrag, mehr als doppelt so viele wie Salzburg oder Tirol (jeweils rund 150). Gleichzeitig sind allein in Oberösterreich 1400 Lehrstellen offen. Die Arbeitslosigkeit ging im Vorjahr österreichweit um 8,2 Prozent (312.107 Personen) zurück. Dafür stieg die Zahl der offenen, sofort verfügbaren Lehrstellen (5470, plus 17,8 Prozent gegenüber 2017).

Drohender Wohlstandsverlust

Der emeritierte Linzer Wirtschaftsprofessor Friedrich Schneider untersuchte in einer groß angelegten Studie den durch Fachkräftemangel drohenden Wohlstandsverlust. Er sagt: "Könnten in Österreich heuer 100.000 offene Stellen besetzt werden, würde das BIP um 15 Milliarden Euro steigen." Der Grüne Landesrat Rudolf Anschober zieht mit seiner Initiative "Ausbildung statt Abschiebung" wie ein Wanderprediger durch die Bezirke. Über 1000 Unternehmen schlossen sich an, 67.000 unterschrieben eine Petition, darunter schwarze Parteigranden wie Ex-ÖVP-Chef Wilhelm Molterer, der ehemalige EU-Kommissar Franz Fischler, der EU-Spitzenkandidat Othmar Karas und Alt-Landeslandhauptmann Erwin Pröll.

Barbara Eckereder ist ÖVP-Gemeinderätin, Kammerfunktionärin und Chefin einer Tischlerei in Neukirchen bei Braunau. Als auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle 2015 -buchstäblich vor ihrem Fenster -die Menschenmassen Richtung Deutschland zogen, rief sie in der Wirtschaftskammer an, um zu fragen: "Wie nützen wir dieses Potenzial?" Schulterzucken und höfliche Mails, mehr sei nicht zurückgekommen, sagt Eckereder. Vor zwei Wochen lud die von Ex-Flüchtlingskoordinator Christian Konrad mitbegründete Allianz Menschen.Würde.Österreich ins Wiener Akzent-Theater. Eckereder saß auf der Bühne und erzählte, dass sich seit vielen Jahren weder gute noch schlechte Kandidaten bewerben, sondern gar keine. Der erste Afghane, der bei ihr anklopfte, bekam eine Lehrstelle. Ihre elf Mitarbeiter überschlugen sich nicht gerade vor Begeisterung . Mittlerweile gehört der Bursche, der noch auf seinen rechtskräftigen Bescheid wartet, fix dazu. "Über die Arbeit geht im Innviertel fast alles", sagt Eckereder.

Heimische Betriebe lernten damit zu leben, dass es ohne Ausländer nicht geht. In Ungarn sind sie nach wie vor nicht willkommen. Auch dort herrscht inzwischen drückender Personalmangel. Ein Zehntel der erwerbsfähigen Bevölkerung arbeitet als Kellner, Buschauffeure, Reinigungskräfte , Erntehelfer, IT-Entwickler oder Industriearbeiter im Ausland und lässt sich auch durch steigende Löhne nicht zurücklocken. Autobauer wie Audi, Mercedes oder Opel schauen sich in Rumänien um. Allerdings: Hier suchen auch Österreich und andere Länder nach Arbeitern und fehlenden Pflegekräften. Der ungarische Premierminister Viktor Orbán brachte -von der Wirtschaft unter Druck geraten -ein Gesetz auf den Weg, das die erlaubten Überstunden auf 400 im Jahr hochfährt. Zuvor waren 250 das Maximum gewesen. Gewerkschaften und Opposition zogen gegen das "Sklavengesetz" auf die Straße. Es verschaffte Orbán Zeit. Möglicherweise werden aber selbst Länder wie Ungarn in ferner Zukunft auf Arbeitskräfte-Pools etwa in Marokko zurückgreifen. Das nordafrikanische Land kämpft mit einem Überschuss an Arbeitskräften, seit viele von den libyschen Ölfeldern zurückkamen, und denkt laut Perchinig darüber nach, Fachkräfte für Europa auszubilden.

Pendlerland Polen

Polen zog sich mit Ukrainern aus der Affäre. Nach dem EU-Beitritt 2004 büßte das Land zehn Prozent seiner Arbeitskräfte ein. Rund zwei Millionen großteils junge Menschen brachen nach Westeuropa auf, die Hälfte davon nach Großbritannien. Als die Wirtschaft prosperierte, versuchte die Regierung, Ex-Pats mit Kampagnen heimzuholen. Der Erfolg war bescheiden. Schließlich öffnete Polen den Jobmarkt mit zeitlich befristeten Aufenthaltstiteln. Vor allem Ukrainer reißen sich darum; die polnische Nationalbank schätzt, dass inzwischen 1,2 Millionen im Land sind. Und selbst das hat in Perchinigs Wanderungsszenarien noch irgendwie mit Österreich zu tun: "Polen ist im Moment in Europa das größte Saisonnier- und Pendlerland in Europa. Hätte es die Grenzen nicht aufgemacht, müssten wir uns mit ukranischen Flüchtlingen beschäftigen."

Erzählt man dem Malermeister Michael Großbötzl aus Ried im Innkreis, dass Polen seine Fachkräfte zurückholen will, sagt er, wie froh er sei, dass "meine zwei Polen" diesem Ruf nicht folgten. "Wir haben in der Region Rumänen und Polen, die viel können. Es wäre für das Bau-Nebengewerbe dramatisch, wenn sie zurückgehen." Großbötzls Unternehmen beschäftigt 24 Mitarbeiter. Unter seinen fünf Lehrlingen befinden sich zwei Afghanen, die nach wochenlanger Zitterpartie einen Aufenthaltstitel erhielten. Die von der Regierung kurzfristig anberaumte Job-Börse für Asylberechtigte findet Anklang. Für Flüchtlinge, die lieber arbeitslos in Wien bleiben, als für eine Lehre zu übersiedeln, bringt Großbötzl kein Verständnis auf.

"Wer in ein Land kommt, muss hier etwas beitragen. In Wien machen es sich zu viele in der Mindestsicherung bequem", sagt Günter Benninger, Geschäftsführer von Promotech, einem Unternehmen, das Kunststoff-Metallverbindungen für führende Zulieferer der Automobilbranche fertigt. Der Betrieb in Schalchen bei Braunau begann vor 20 Jahren mit einem Dutzend Mitarbeiter und zählt heute deren 300. Er könnte weiter wachsen, so Benninger: "Wir haben in Grund investiert, damit wir erweitern können, aber wir brauchen Mitarbeiter." 20 Stellen sind unbesetzt. Promotech bildet 30 Lehrlinge aus, zwei davon sind Afghanen, die sich laut Benninger "einen Haxn ausreißen". Es wäre alles bestens, hätten die beiden nicht einen negativen Bescheid. Nun droht die Abschiebung -und Benninger ist davor, den Hut draufzuhauen: "Ich kann in Pension gehen. Was ist mit meinem Sohn? Ich habe ihm gesagt, er soll sich das drei Mal überlegen, ob er den Betrieb übernimmt."

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Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges