ÖVP-Parteichef Reinhold Mitterlehner

ÖVP-Krise: Warum Parteichef Mitterlehner nicht kampflos aufgeben will

Ein desavouierter Präsidentschaftskandidat, ein bloßgestellter Parteiobmann: Die ÖVP definiert die Obergrenze für politischen Masochismus neu. Warum Reinhold Mitterlehner dennoch nicht abtreten wird – vorerst zumindest

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Ist es Trotz, Fatalismus oder schon Wirklichkeitsverweigerung? Mittwochabend vergangener Woche steht Andreas Khol auf einer Bühne im Wiener Volksgarten. Die Junge ÖVP hat ihrem Präsidentschaftskandidaten ein Clubbing ausgerichtet. 800 Nachwuchsschwarze – mit Außenminister Sebastian Kurz an der Spitze – sind erschienen. Khol hat seine Celebrity-Schwiegertochter, RTL-Moderatorin Nazan Eckes, mitgebracht. Botschaften für junge Anhänger in Wien müssen knackiger sein als für Senioren in Zwettl. Und schon gar nicht wollen junge Menschen ein Opfer sehen. Also schmettert Khol: „Ich bin ein Profiteur. Vorgestern in Grafenegg waren 400 Personen angemeldet, gekommen sind 800. Gestern in Ried im Innkreis waren es 1200 statt wie erwartet 600. Und heute stehe ich vor 15.000 Freunden von der Jungen Volkspartei.“ Das Publikum liebt die Übertreibung. Zuvor hatte schon Parteichef Reinhold Mitterlehner die junge Truppe eingeschworen: „Andreas ist ein Kämpfer, der in schwierigen Zeiten immer besser wird. Viele geben uns keine Chancen, aber genau diese werden wir wahrnehmen.“

Heldensagen funktionieren nur bei jenen, die sie auch glauben wollen. In der Volkspartei waren es vergangene Woche nicht allzu viele.

Wieder einmal lieferte die ÖVP den Beweis, dass der Selbstbeschädigungstrieb ebenso sehr Bestandteil ihrer DNA ist wie Bürger-, Unternehmer- und Christentum. Mit dem Schock-Abzug von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner beschädigte Erwin Pröll den Präsidentschaftskandidaten der ÖVP (der er selbst nicht sein wollte) unmittelbar und schwächte Reinhold Mitterlehner auf Dauer. Innerhalb von fünf Jahren hat die ÖVP nach Josef Pröll und Michael Spindelegger bereits ihren dritten Bundesparteiobmann verschlissen. Doch Reinhold Mitterlehner – dies ist die Überraschung – scheint mit seinem allzu vertrauten Schicksal noch nicht abgeschlossen zu haben.

Abgang der Innenministerin

Es muss eine surreale Situation gewesen sein. Im Raab-Saal des Springer Schlössl, der Parteiakademie in Wien-Meidling, hatten sich Sonntagabend vergangener Woche die Vorstandsmitglieder der ÖVP versammelt. Vor dem Gebäude warteten die Berichterstatter auf die Bestätigung der Job-Rotation, die bereits durch einen Bericht der „Tiroler Tageszeitung“ bekannt geworden war. Johanna Mikl-Leitner übernimmt von Wolfgang Sobotka und wird Landeshauptmann-Stellvertreterin in St. Pölten, Sobotka wird Innenminister.

Abgang der Innenministerin mitten in der Flüchtlingskrise, zwei Wochen vor der Bundespräsidentenwahl – genug Stoff für eine abendfüllende Diskussion im ÖVP-Parteivorstand. Tatsächlich war die Sitzung bereits nach einer halben Stunde wieder vorbei. Mitterlehner hatte die Anwesenden begrüßt, die Lage referiert („Ich wollte, dass sie bleibt. Sie wollte nicht.“), dankte Mikl-Leitner und übergab an den niederösterreichischen Landeshauptmann. Erwin Pröll legte seine Sicht der Dinge dar. Danach: Stille. Keiner der anwesenden Chefs der Landesparteien und ÖVP-Teilorganisationen wagte ein Wort der Kritik. Tags zuvor hatte so mancher noch über die Rücksichtslosigkeit des niederösterreichischen Kollegen gezürnt.

Doch der Schaden war nun einmal angerichtet, Klagen darüber hätten alles noch verschlimmert. Und da seine Kollegen im Parteivorstand schwiegen, beschwerte sich auch Reinhold Mitterlehner nicht. Nach außen simulierten die ÖVP-Spitzen Gelassenheit und bestritten jede Auswirkung der Regierungsumbildung auf die Präsidentenwahl. Nur der steirische Landesrat Christopher Drexler kritisierte öffentlich, die ÖVP degeneriere zur „niederösterreichischen Landespartei“.

Tatsächlich funktionierte auch Mitterlehners Krisenmanagement nicht einwandfrei. Schon im März hatte Pröll seinen Bundesparteiobmann über die geplante Rückrufaktion informiert. Dieser bat um ein paar Tage Bedenkzeit, danach verebbte die Kommunikation offenbar.

Noch größere Rochade angedacht

Mitterlehners Wunsch, die Präsidentenwahl abzuwarten, wurde ignoriert. Auch vom Bauernbund und von der Tiroler Landespartei kassierte er eine Abfuhr: Um die Frauenquote seines Teams zu halten, wollte der ÖVP-Chef Landwirtschaftsminister Andrä Rupprechter durch die EU-Abgeordnete Elisabeth Köstinger ersetzen. In einem ORF-Interview gestand Mitterlehner – ohne Namen zu nennen – sogar offen ein, vor einigen Wochen eine noch größere Rochade angedacht zu haben. Dieser wären wohl Familienministerin Sophie Karmasin und eventuell auch Hans Jörg Schelling zum Opfer gefallen. Zwar hatte Mitterlehner den Finanzminister selbst in sein Team geholt, doch das Verhältnis gilt nicht mehr als das beste. Schelling verhandelte die Pensionsreform mit der SPÖ scharf und kompromisslos, Mitterlehner weichte sie wieder auf.

Eine Regierungsumbildung ist geeignet, in einem komplizierten Machtgefüge wie der ÖVP schwere Verwerfungen auszulösen. Noch schädlicher kann es für den Parteiobmann sein, wenn das Manöver scheitert. Im August 2012 plante Michael Spindelegger die Ablöse von Finanzministerin Maria Fekter und Klubobmann Karlheinz Kopf. Das Vorhaben misslang, und Spindelegger hatte fortan zwei Gegner mehr.

Parteiinterne Beobachter glauben, Mitterlehners Frustrationstoleranz sei noch nicht erschöpft. Zwar gilt der ÖVP-Obmann als launischer Charakter, dem durchaus zuzutrauen wäre, seinen Job über Nacht hinzuwerfen. Doch gerade nach den jüngsten Turbulenzen wolle Mitterlehner nun partout weiter machen. Begründung: Eine Niederlage bei der Präsidentenwahl wäre nicht dem Obmann allein anzulasten. Überdies liegt die ÖVP in den Umfragen derzeit in etwa bei ihrem Wahlergebnis von 2013 (24 Prozent). Als Spindelegger im August 2014 ging, grundelte die Partei unter 20 Prozent.

Zu Beginn des Präsidentschaftswahlkampfs – als sich das schlechte Abschneiden von Khol noch nicht abzeichnete – räsonierte Mitterlehner darüber, im Falle einer deutlichen Niederlage seines Kandidaten unter Druck zu geraten. Dass er zum Rücktritt gezwungen wird, ist derzeit allerdings kaum vorstellbar. Einen Obmann aus dem Amt zu kippen, gelingt nur in einer konzertierten Aktion großer Bundesländer und mächtiger Teilorganisationen. Die Oberösterreicher stehen loyal zu Mitterlehner. Die Steirer sind an ihrer Bundespartei derzeit nicht interessiert. Doch-nicht-Präsidentschaftskandidat Erwin Pröll könnte nach einer Khol-Schlappe selbst unter Druck geraten. Die Bünde verhalten sich loyal (Bauern), sind mit sich selbst beschäftigt (Wirtschaft) oder derzeit inaktiv (Arbeitnehmer).

Im eigenen Interesse muss die gesamte Partei sogar hoffen, dass Mitterlehner im Falle eines Desasters bei der Wahl den Bettel nicht von sich aus hinschmeißt. Weil: Was dann? Selbst Wunderwuzzi Sebastian Kurz könnte als Parteiobmann und Vizekanzler kaum glänzen und würde die Ämter wohl auch nur widerwillig übernehmen. Ein halbstündiges Gespräch mit John Kerry hat mehr Sex-Appeal als eine wöchentliche Ministerratssitzung mit Werner Faymann. Parteiintern wird kolportiert, Mitterlehner habe überlegt, dem Außenminister im Zuge der abgeblasenen Regierungsumbildung ein anderes Ressort zu übertragen, um seinen Superstar mehr in die Pflicht zu nehmen.

Übergangsobmann als unwahrscheinliches Szenario

Falls Mitterlehner doch geht, wäre manchem Planspiel zufolge ein Übergangsobmann möglich – ein freilich unwahrscheinliches Szenario. Ein bestellter Platzhalter für Sebastian Kurz würde von der Partei noch weniger ernst genommen als ein gewählter Bundesparteiobmann. Schon nach dem Abgang von Michael Spindelegger hatten einzelne ÖVP-Spitzen, darunter Erwin Pröll, angedacht, den Zweiten Nationalratspräsidenten Karlheinz Kopf zum interimistischen Parteiobmann zu machen. Der Plan wurde von Mitterlehner, Wirtschaftsbund-Chef Christoph Leitl und Landeshauptmann Josef Pühringer durchkreuzt. Pröll war darob derart beleidigt, dass er nicht zur entscheidenden Vorstandssitzung der ÖVP anreiste, sondern an seinem Urlausdomizil in Grado blieb. Manche in der ÖVP glauben, in der damaligen Kränkung liege ein Grund für Prölls fehlende Rücksichtnahme auf die Bundespartei und deren Obmann.

Reinhold Mitterlehner gilt als situativer Pragmatiker, der Dinge hinnimmt, die er nicht ändern kann, wie zum Beispiel einen von Erwin Pröll verordneten Regierungswechsel. Als Marketing-Experte weiß Mitterlehner, dass er nach einer misslungenen Präsidentenwahl dringend ein Erfolgserlebnis braucht und ein Zeichen setzen muss, idealerweise gemeinsam mit dem Koalitionspartner. Mit erhöhter Reformrhetorik und Aktivität des Vizekanzlers ist daher in den kommenden Wochen zu rechnen.

Doch selbst wenn sich die Regierung nach einer Abstrafung durch die Wähler am 24. April wieder konsolidiert, dürfte Mitterlehner eines klar sein: Er wird als einer jener Bundesparteiobmänner der ÖVP in die Geschichte eingehen, die keine Wahl als Kanzlerkandidat schlagen durften. Bei Neuwahlen oder spätestens 2018 muss Sebastian Kurz ran. Der kleine Trost: Dem letzten ÖVP-Superstar vor Kurz, Josef Pröll, blieb eine Spitzenkandidatur ebenfalls versagt. Er gab am 13. April 2011 auf. Mittwochnachmittag vergangener Woche, am fünften Jahrestag seines Rücktritts, nahm Pröll, heute Generaldirektor des Raiffeisen-Mischkonzerns Leipnik-Lundenburger, an einer Verkostung niederösterreichischer Weine in Wien teil. Als der Gastgeber in seiner Begrüßungsrede auf das spezielle Datum hinwies, jauchzte Pröll deutlich vernehmbar aus hinteren Reihen: „Tag der Freiheit!“

Reinhold Mitterlehner will die Chance, die ihm keiner gibt, weiter wahrnehmen – vorerst.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.