Österreich

Osttirol: Wie die Gemeinde Matrei pleite ging

ÖVP-Altbürgermeister Andreas Köll fühlt sich für das Debakel nicht verantwortlich. Nun springt das Land ein. Alles wieder gut?

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„Opfe, wo werd denn“, so wiegeln die Bewohner im Osttiroler Matrei ab, wenn sie finden, die Lage sei „halb so wild“. Für Regina Köll bringt kaum etwas die Leidensfähigkeit ihrer Landsleute so trefflich zum Ausdruck wie dieser Spruch. Die Gastwirtin war für die „Matreier Liste“ im Gemeinderat in der Opposition und hatte sich hier bemüht, Langzeit-ÖVP-Bürgermeister Andreas Köll – die beiden sind nicht verwandt – in die Parade zu fahren. Man schimpfte sie eine „Nestbeschmutzerin“, und was das in einem Nest, das nur 4600 Bewohner zählt, bedeutet, fällt nicht mehr in die Kategorie „halb so wild“. Diese Rolle erfordert eine ziemlich dicke Haut.

Inzwischen wohnt Regina Köll im Nachbarort. Und Andreas Köll ist abgetreten. In Matrei regiert seit dem Vorjahr Raimund Steiner, ein Landwirt, der die politische Bühne lieber seinem Bruder und Gründer der „Matreier Liste“ überlassen hätte. Doch der Bruder verunglückte bei einem Autounfall, und als Andreas Köll nach mehr als 30 Jahren 2022 nicht mehr kandidierte, sprang Steiner ein – und errang mehr als zwei Drittel der Stimmen.

Schuldenstand: 36 Millionen Euro

Die „Matreier Liste“ hält nun zwölf Sitze, die einstige Bürgermeisterpartei ÖVP kommt auf fünf. Viel Zeit blieb Raimund Steiner nicht, diesen Erfolg auszukosten. „Nach drei Tagen hat der Finanzverwalter offengelegt, dass kein Geld mehr da ist“, erzählt er. In der Gemeindekasse klaffte eine Lücke von fünf Millionen Euro. Inzwischen hält man bei elf Millionen. Dazu kommen weitere 12,7 Millionen Euro an Haftungen (eigentlich ausgelagerte Darlehen) und 14,2 Millionen Euro an offenen Krediten. Aktueller Schuldenstand: 36 Millionen Euro. Laufend trudeln weitere offene Rechnungen ein.

114 Gläubiger – vom Schneeräumer über den örtlichen Elektriker bis zu überregionalen Unternehmen – bangen um ihre Außenstände. Eine Tiroler Baufirma, die im Ort eine vom Hochwasser beschädigte Brücke instandsetzte, zog vor Gericht, um offene Rechnungen einzutreiben. Ein Ausgleich stand im Raum. Das Gros der Gläubiger sollte auf 20 Prozent verzichten.

Das träfe auch Regina Köll, die im Skigebiet ein Gasthaus betreibt. Die öffentliche Straße, die dorthin führt, hält eine Interessentschaft in Schuss, in der Köll eines von 70 Mitgliedern ist. Die Gemeinde ist gesetzlich verpflichtet, die Hälfte der Wegerhaltung und Baulast zu tragen, geriet mit ihren Zahlungen jedoch immer mehr in Verzug. Angefallene Kosten, etwa für Reparaturen, überwies das Land an die Gemeinde – und diese behielt das Geld oft einfach ein. Regina Köll: „Ein Kredit musste aufgenommen werden, die Zinsen tragen wir Mitglieder. Über die Jahre ist uns die Gemeinde 130.000 Euro schuldig geblieben.“

"Wir sind gegen Betonwände gesprungen"

Ein Fünftel in den Wind zu schreiben, kommt für die Interessentschaft – wie auch für andere Gläubiger – nicht infrage. Nun springt das Land Tirol ein. Ein Konkurs soll abgewendet und die Gemeinde auf einen soliden Pfad zurückgeführt werden, möglichst ohne viel Gewese darum zu machen, wie sie überhaupt so weit davon abkommen konnte. Das wiederum ärgert Vertreter der „Matreier Liste“, die oft versucht haben, die Aufsichtsbehörden bis hinauf zum Landeshauptmann auf die finanzielle Schieflage Matreis aufmerksam zu machen. Man verfasste ein Dutzend Beschwerden.

Altbürgermeister Köll mischte im Krankenhaus- und im Tourismusverband mit, umgab sich mit Mächtigen wie dem Helikopter-Unternehmer Roy Knaus oder dem Seilbahn-Magnaten Heinz Schultz, in dessen Matreier Goldried Bergbahnen GmbH er Co-Geschäftsführer ist. Als Obmann des Tiroler Arbeiter- und Angestelltenbunds (AAB) hatte er mitgeholfen, Günther Platter als Landeshauptmann zu inthronisieren. In Matrei brüstete er sich mit seinen Verbindungen. Selbst als er dem Land Sozialabgaben schuldig blieb (angeblich über drei Millionen Euro), passierte Andreas Köll nichts. Irgendwann ging der Opposition die Luft aus, sagt Bernd Hradecky, der fast 20 Jahre für die „Matreier Liste“ im Gemeinderat saß: „Wir sind gegen Betonwände gesprungen.“

Liste Fritz: "Auch ein ÖVP-Fiasko"

Ortskaiser Köll, der 1989 seinem Vater als ÖVP-Bürgermeister nachfolgte und 33 Jahre lang regierte, ließ ein Freibad bauen, übertrug es einer Gesellschaft, an der er selbst beteiligt war; für die Betriebskosten aber kam weiter die Gemeinde auf. Als eine Sanierung anstand, kaufte die Gemeinde das Freibad zurück. Andreas Köll ließ ein Gebäude errichten, bis die Behörde die Reißleine zog. „Nun steht auf dem Areal ein drei Millionen Euro teurer Rohbau, und Lieferanten und Handwerker warten auf ihr Geld“, sagt Klaus Steiner, ehemaliger Finanzverwalter, Mitglied der Matreier Liste (und nicht verwandt mit dem amtierenden Bürgermeister Raimund Steiner).

Dass Altbürgermeister Köll „wie ein Zocker ein Loch zu- und ein anderes aufmachen konnte“, war für Markus Sint von der Liste Fritz, die in Tirol in Opposition ist, nur möglich, weil ihn die ÖVP-Spitze gewähren habe lassen: „Das ist nicht nur ein Köll-Fiasko, sondern auch ein ÖVP-Fiasko.“ Auch FPÖ-Landesparteichef Markus Abwerzger erkennt eine „politische Verantwortung“ und hofft auf den Landesrechnungshof: „Es wäre interessant, was er zur Kommunikation zwischen dem Land und der Gemeinde Matrei herausfindet. Immerhin schaut die ÖVP da schon sehr lange zu.“

Köll: "Eine der bestgeprüften Gemeinden Tirols"

Offiziell sitzt Matrei auf einem Vermögen von über 90 Millionen Euro, doch sind schöne Waldstücke, Holzbestände und Gründe in Gunstlagen längst veräußert. Auch dazu gab es eine – vergebliche – Aufsichtsbeschwerde. Dass Köll sich jemals verantworten wird müssen, bezweifeln selbst seine Widersacher. Es gilt als offenes Geheimnis, dass er heikle Papiere nicht selbst unterzeichnete, sondern seine Stellvertreterin unterschreiben ließ. Andreas Köll gibt sich unbesorgt. Auf profil-Anfrage lässt er wissen, Matrei sei „eine der bestgeprüften Gemeinden Tirols“. Und: Er, Köll, habe 2021 eine saubere Jahresrechnung mit Überschüssen übergeben. Die aktuellen Liquiditätsprobleme seien nachher entstanden.

Allerdings beanstandete die Bezirkshauptmannschaft Lienz schon 2015, dass durch eine „nicht den Vorschriften entsprechende Verbuchung von einmaligen Einnahmen als laufende Einnahmen bzw. laufende Ausgaben als einmalige Ausgaben“ die Lage der Gemeinde systematisch besser dargestellt wurde, als sie war. Nun, acht Jahre später, will ÖVP-Landeshauptmann Anton Mattle reinen Tisch machen. Die Tiroler Landesregierung hält gegenüber profil fest, Matrei habe „sich einen eisernen Sparkurs auferlegt“. Die Aufsichtsbehörden hätten seit 2010 viel geprüft und auf notwendige Schritte hingewiesen, jedoch habe die Gemeinde diese „nur bedingt“ umgesetzt. 2015 habe man zudem die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, das Verfahren sei im Jahr darauf eingestellt worden.

„Ich wurde als Nestbeschmutzerin beschimpft.“

Gastwirtin und Ex-Gemeinderätin Köll
 

Abschiedsfest gestrichen

Raimund Steiner, der regierende Bürgermeister von der „Matreier Liste“, will nun alte Gräben zuschütten. Dringender als „Schuldige“ brauche er „Geld“, sagt er. Das Land stellt bis 2025 jährlich 2,2 Millionen Euro in Aussicht, in Summe 6,6 Millionen. Noch heuer sollen 1,3 Millionen Euro Lohnsteuer in die Gemeindekasse fließen. Für einen erheblichen Teil des warmen Geldregens sorgt der Wärmepumpenhersteller iDM, dessen Geschäfte vom Klimawandel beflügelt werden. Das iDM-Werk in Matrei baut kräftig aus. Bis Ende des Jahres soll die Belegschaft von 700 Beschäftigte auf 900 anwachsen. Schafft Matrei es dank günstiger Darlehen, nicht in der Zinsenfalle stecken zu bleiben, könnte sich der Spruch „Opfe, wo werd denn“ – auf längere Sicht – bewahrheiten: „Alles halb so wild.“

Andreas Köll nützte seine letzte Gemeinderatssitzung übrigens, um sich eine Ehrenbürgerschaft und ein Abschiedsfest um 30.000 Euro zu genehmigen. Es kam anders. Der neue Gemeinderat strich die kostspielige Feier wieder. Und ein Termin für die Verleihung der Ehrenbürgerschaft an den Altbürgermeister steht noch aus.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges