46-194888316-dscf2875.jpg
Interview

Physiker Andre Geim: "Habe den Nobelpreis aus der Mülltonne gefischt"

Der russischstämmige Physiker Andre Geim erzählt, wie er aus einem weggeworfenen Klebestreifen seine größte Entdeckung machte, warum er einen Frosch schweben ließ - und wie seine halbe Familie einst im Gulag landete.

Drucken

Schriftgröße

Ein Lagerfeuer in der jordanischen Wüste, müde Wanderer, ein Gesellschaftsspiel namens "Call my Bluff": Als der aus Russland stammende Physiker Andre Geim an der Reihe ist, erzählt er Pointen aus seinem Leben, und der Rest der Truppe muss raten, ob er blufft: "Ich bin in mediterranem Klima aufgewachsen", sagt er. "Ich war ein Lieutenant der Roten Armee." "Ich habe mehrere Fünftausender bestiegen." "Ich habe den ig-Nobelpreis gewonnen." "Als Student habe ich Interkontinentalraketen untersucht." Und: "Ich kenne Michail Gorbatschow persönlich." Jedes Mal vermuten die britischen Wandergefährten einen Bluff, nur die Bekanntschaft mit Gorbatschow trauen sie dem gebürtigen Russen zu. Tatsächlich ist es genau umgekehrt: Jeder seiner Sätze stimmt, den legendären Staatschef kennt Geim allerdings nur aus dem Fernsehen. Durch dieses Spiel sei ihm Anfang der Nullerjahre gedämmert, dass sein Leben nicht so trivial verlaufen sei, wie er immer gedacht habe, sagt Geim. Heute könnte er noch mehr spektakuläre Sätze in die Lagerfeuerrunde werfen: "Ich habe 2010 den Nobelpreis gewonnen." "Ich wurde von der Queen zum Ritter geschlagen." Oder: "Ich kann aus Handyschrott Gold machen."

46-194889426-dscf2866.jpg
46-194889424-dscf2859.jpg
Sie haben Ihre größte Entdeckung, für die Sie den Nobelpreis bekommen haben, während eines sogenannten Freitagabend-Experiments gemacht. Also in entspannter Atmosphäre, bei einem Bier mit Ihrem Kollegen Konstantin Novoselov. Wie ist das abgelaufen?
Geim
Ich wusste, dass Grafit in dünnen Schichten ein sehr interessantes Material sein könnte. Deshalb habe ich einem Studenten gesagt, er soll es mit Polieren des Materials versuchen. Er scheiterte über Monate hinweg. Dann kam der legendäre Abend 2004. Grafit lag herum, und Klebeband. Beides gehört seit Jahrzehnten zur Grundausstattung eines jeden Materialwissenschaftslabors. Man klebt das Tape auf den Grafit, zieht es ab und hat dadurch eine besonders glatte Oberfläche, auf der man im Mikroskop die Atome sehen kann. Anstatt das Klebeband wie üblich in den Mistkübel zu werfen, legten wir es unter das Mikroskop. Das war unser Heureka-Moment: Wir sahen durchsichtige Partikel. Wir wussten, hier eine einzelne Lage Kohlenstoff vor uns liegen zu haben-Graphen.
Seither erzählen Sie einen Witz.
Geim
Genau. Zehntausende meiner Kolleginnen und Kollegen haben mit jedem benützten Klebestreifen einen Nobelpreis in die Mülltonne geworfen.
Das ist jetzt fast 20 Jahre her. Damals sprachen viele von einem Wundermaterial, weil es nur ein Atom dünn, extrem stark, transparent und dicht ist. Gibt es Graphen schon in unserem Alltag?
Geim
Durchaus. Graphen machen zum Beispiel Batterien leistungsfähiger und Farben widerstandsfähiger gegen Rost. In einem Smartphone von Huawei sorgen transparente Schichten von Graphen dafür, dass der Bildschirm kühler bleibt als etwa beim iPhone.
Ihre letzte Entdeckung hat wieder für Aufsehen gesorgt. Sie haben mithilfe von Graphen aus alten Handys und Laptops Gold zurückgewonnen. Wie geht das?
Geim
Durch einen elektrochemischen Prozess, der das in Elektronik verbaute Gold herauslöst. Unsere Ergebnisse können diesen Wirtschaftszweig nachhaltiger machen. Graphen macht aus Müll buchstäblich Gold.
Die von manchen prognostizierte Graphen-Revolution steht aber noch aus. Wird sie je kommen?
Geim
Nach der Steinzeit, der Bronzezeit, der Eisenzeit leben wir aktuell in der Zeit von Silikon und Plastik. Sie wird gerade abgelöst von der Zeit der 2D-Materialien, darunter Graphen. Ich denke, die Revolution hat bereits begonnen.

SCHWEBENDER FROSCH

Alles ist magnetisch, auch Amphibien. Für das Experiment bekam Geim den Ig-Nobelpreis, mit dem der Amerikaner Marc Abrahams Arbeiten auszeichnet, die zuerst zum Lachen, dann aber zum Nachdenken anregen.
 

__

Andre Geim wurde 1958 in Sotschi am Schwarzen Meer geboren, wo er bei seiner deutschstämmigen Großmutter eine behütete Kindheit verbrachte. Über die Vergangenheit wurde in der Akademiker-Familie wenig gesprochen-auch um zu verhindern, dass das Kind in der Schule etwas ausplauderte. Erst als Geim um die 30 war, erfuhr er von der traumatischen Geschichte seiner engsten Verwandten. Seinen Großvater Nikolai Bayer, einen Kartografie-Professor in Charkiw, steckten die Sowjets 1946 für sieben Jahre in den Gulag, weil er sich nach dem Ersten Weltkrieg für eine autonome Ukraine eingesetzt hatte. Geims Vater wurde während des Zweiten Weltkrieges ins sibirische Straflager geschickt-weil er als Wolga-Deutscher automatisch als politischer Gegner galt.

__

Ihr Vater, Ihr Großvater und viele andere Verwandte mussten viele Jahre im Gulag verbringen. Sie leben seit 1990 in Westeuropa. Wie sehen Sie Ihre alte Heimat?
Geim
Ich bin entsetzt über die Mentalität der Menschen, egal ob im Westen oder in Russland, sich in Blöcke oder Nationalitäten einzuteilen. Das erinnert mich an Fußballfans, die ausrasten und zum Mob mutieren, wenn ihre Vereine gegeneinander spielen.
Was denken Sie über den Ukraine-Krieg, über Wladimir Putin?
Geim
Es gäbe keinen Krieg, wenn Putin nach seiner zweiten oder dritten Amtszeit abgetreten wäre. Er wäre als großer Präsident in die Geschichte eingegangen. Aber er ist ein schwacher Mann, der entschieden hat, an der Macht zu bleiben. Macht korrumpiert. Aber auch der Westen und die NATO haben ihren Anteil. Sie erinnern mich an Hooligans, die einen kleinen Mann anstiften, einem großen in die Eier zu treten. Sie versprechen dem Kleinen, dass er dafür bei ihnen mitmachen darf. Alles, was Präsident Selenskyj hätte sagen müssen, war, in naher Zukunft nicht der NATO beitreten zu wollen. Wenn man einen unangenehmen, aggressiven Nachbar hat, muss man sich entsprechend verhalten.
Haben Sie noch Verwandte oder Freunde in der Ukraine?
Geim
Ja, Verwandte von mir leben immer noch in Charkiw, im Osten der Ukraine. Sie sind russischsprachig und waren bis vor fünf Jahren prorussisch eingestellt. Dann bekam ich plötzlich einen Brief auf Ukrainisch. Mein Verwandter schrieb: "Du wirst dich wundern, warum ich auf Ukrainisch schreibe. Aber ich kann nach dem, was Putin auf der Krim getan hat, nicht mehr Russisch sprechen." Die Situation dort war schon vor Kriegsbeginn schwierig, jetzt ist es der Horror.
Glauben Sie, dass es besser wird, wenn es Putin nicht mehr gibt?
Geim
Putin ist teuflisch. Aber seien Sie nicht naiv: Würde er nächste Woche an Krebs sterben, würde sich nichts ändern. Jemand aus seinem Umfeld würde übernehmen und sein System weiterführen.
Sie glauben nicht, dass Oppositionspolitiker wie Alexei Nawalny übernehmen könnten?
Geim
Ich respektiere Alexei Nawalny für seinen Mut. Er ist eine Art moderner Jesus Christus. Aber wir müssen es realistisch sehen: Nur wenige Prozent der Menschen in Russland würden ihn wählen.
Sie selbst waren Lieutenant in der Roten Armee. Wie war das damals?
Geim
Ich musste, wie alle Studenten, ein zweimonatiges Bootcamp beim Militär absolvieren. Danach war ich ein Micky-Maus-Lieutenant, wie ich das nenne. Auch in der russischen Armee ging es weniger um die Fähigkeit zu kämpfen als darum, mit wem man Wodka trank und in der Sauna saß. Wie um alles in der Welt konnte Putin glauben, den Ukraine-Krieg in einer Woche zu gewinnen?
Die Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftern wurde größtenteils gestoppt. Arbeiten Sie noch mit Kollegen in Russland zusammen?
Geim
Ich habe vom Ukraine-Krieg profitiert, wie viele andere Universitäten und IT-Unternehmen im Westen. Ich habe heute drei gut ausgebildete russische Doktorats-Studenten, die sonst nie zu mir an die Uni Manchester gekommen wären.
Wie geht es Konstantin Novoselov, der mit Ihnen den Nobelpreis bekommen hat?
Geim
Er wurde wie ich von der Queen zum Ritter geschlagen, lebt und forscht in Großbritannien-aber er besitzt noch einen russischen Pass. Deshalb wurden nun seine Konten eingefroren. Natürlich brauchen wir Sanktionen, aber das ist absurd.
Sie haben mittlerweile einen britischen Pass. Warum haben Sie Russland 1990 verlassen?
Geim
Ich war neugierig auf den Westen. Anfangs wollte ich nur ein halbes Jahr in Großbritannien forschen. In diesen sechs Monaten an der Uni Nottingham war ich so produktiv wie noch nie. Ich realisierte, dass ich nicht an die schlecht ausgerüstete Uni in Moskau zurückkehren konnte-ich hätte damit mein Leben verschwendet.
Sie wären um ein Haar gar kein Physiker geworden. Zwei Mal ließ man Sie beim Uni-Aufnahmetest durchrasseln, obwohl Sie sehr gut waren. Hatten die Sowjets Angst, dass Sie ein Spion werden könnten?
Geim
Nein, sie wollten keine Ressourcen an mich verschwenden. Ich hatte einen deutschen Namen und jüdische Wurzeln, also befürchtete man, ich würde nach dem Studium ins Ausland gehen. Ich wurde als Angehöriger einer ethnischen Minderheit nicht als volles Mitglied der Sowjetunion gesehen.

BERÜHMTES WERKZEUG

Andre Geim übergab Grafit, Kleberoller und den ersten Graphentransistor an das Nobel-Museum.

Wie haben Sie es dennoch an die Uni geschafft?
Geim
Ich probierte es ein drittes Mal, diesmal an der besten Uni Moskaus. Dort ging es auf einmal ganz leicht, ich wurde sofort angenommen. In meiner Autobiografie für das Nobelpreiskomitee habe ich Jahre später geschrieben, dass es an dieser Uni wohl keine Diskriminierung gegeben habe. Als einer meiner damaligen Studienkollegen das las, sagte er: "Du bist so naiv." Während ich, wie die meisten anderen Studenten auch, in den Ferien zum Erntedienst auf die Kolchosen abkommandiert worden war, musste er in einer der "besonderen Jurys" sitzen. Sie waren dazu da, Studienanwärter hart zu grillen und auf jeden Fall abzulehnen, egal wie gut sie waren.
Wie sind Sie dann beim dritten Mal durchgekommen?
Geim
Jemand hatte meinen Pass in eine der Jurys gesteckt, die fair beurteilten. Es war reines Glück.

_

Es war wohl ein bierseliger Abend, als Andre Geim auf die Idee kam, einen Frosch schweben zu lassen. Er hatte festgestellt, dass auch Physiker-Kolleginnen und Kollegen wenig über das Phänomen namens Diamagnetismus wussten. Dieses besagt, dass jeder Stoff magnetisch ist, nicht nur Metalle. Der Grund sind die Atome, aus denen jedes Material im Universum besteht-auch ein Frosch. Jeder einzelne Atomkern im Körper des Froschs wird von Elektronen umkreist, die sich, wenn man sie einem Magneten aussetzt, entgegengesetzt zu diesem ausrichten. Der Magnet in Geims Labor war demnach stark genug, um den Frosch schweben zu lassen. "Er schien es zu genießen und kehrte dann unversehrt in sein Terrarium zurück", berichtete Geim damals. Im Jahr 2000 erhielt er für dieses Experiment den Ig-Nobelpreis-eine Auszeichnung an der Uni Harvard, die "erst zum Lachen, dann zum Denken anregen soll". Bis heute ist Andre Geim der einzige Wissenschafter weltweit, der sowohl einen Ig-Nobelpreis als auch einen Nobelpreis sein Eigen nennt.

_

46-194889257-dscf2699.jpg

DISKUSSION ÜBER PHYSIK, NAIVITÄT UND KRIEG

Franziska Dzugan und Andre Geim in der Akademie der Wissenschaften in Wien.

Jemand, der von Ihrem Frosch-Experiment gelesen hatte, bot Ihnen eine Million Pfund. Was sollten Sie dafür tun?
Geim
Ein religiöser Führer wollte, dass ich ihn schweben lasse. In einem Brief formulierte er Fragen wie: Wird es wehtun? Muss ich nackt sein? Wird der Magnet laut sein? Ich habe ihm nie geantwortet.
Wäre es überhaupt möglich, einen Menschen schweben zu lassen?
Geim
Die NASA stellte einem US-Forscherteam dieselbe Frage. Das Ergebnis: Theoretisch wäre es möglich, man würde aber einen Hunderte Millionen Dollar teuren Magneten und ein eigenes Kraftwerk dafür benötigen.
Sie haben neben Ihrer eigenen noch zwei ig-Nobelpreisurkunden daheim. Eine trägt den Namen von Großbritanniens Ex-Premier Boris Johnson, eine den von Wladimir Putin. Wie das?
Geim
2020 wurden die beiden und andere Staatsoberhäupter ausgezeichnet, weil sie die Coronavirus-Pandemie dafür genutzt haben, der Welt vor allem eines zu zeigen: dass Politiker einen unmittelbareren Einfluss auf Leben und Tod haben können als Wissenschafterinnen und Ärzte. Abgeholt haben sie ihren Preis allesamt nicht. Das Komitee schickte mir die Urkunden, um sie Johnson oder Putin zu überreichen, sollte ich sie jemals treffen.
Sie sind seit 2010 Nobelpreisträger. Hat die Auszeichnung Ihr Leben verändert?
Geim
Sie hat mein Leben bereichert, ich habe Menschen getroffen, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Aber ich verbringe aber immer noch 80 Prozent meiner Zeit in meinem Labor an der Uni Manchester-und die Auseinandersetzungen mit meinen Kolleginnen und Kollegen sind härter geworden.
Warum das?
Geim
Alle wollen beweisen, dass sie es besser wissen als der Nobelpreisträger.

Sir Andre Geim, 64

wuchs im russischen Sotschi auf und studierte am Moskauer Institut für Physik und Technologie, bevor er ab 1990 in den Niederlanden und Großbritannien eine steile Karriere hinlegte. 2010 bekam er für die Entdeckung der einlagigen Kohlenstoffschicht namens Graphen den Nobelpreis für Physik, kurze Zeit später schlug ihn Queen Elisabeth II. zum Ritter. Zwei von Geims Arbeiten gehören laut dem Fachblatt "Nature" zu den 100 meistzitierten Forschungsarbeiten der Menschheitsgeschichte. Vergangene Woche hielt Andre Geim einen Vortrag an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien. Thema: "Die verschlungenen Wege zur Entdeckung von Graphen".
 

Franziska   Dzugan

Franziska Dzugan

schreibt für das Wissenschaftsressort und ist Moderatorin von tauwetter, dem profil-Podcast zur Klimakrise.