EU-Kindergarantie

Planlos gegen Kinderarmut

Österreich bleibt seit eineinhalb Jahren den Plan zur „EU-Kindergarantie“ säumig. Dabei wäre eine klare Strategie bitter nötig.

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Eine warme Mahlzeit, ein sicheres Dach über dem Kopf oder schlicht Zeit für sich selbst. Es sind die grundlegendsten Dinge, die armen Menschen fehlen. Und wer Armut in der Kindheit erlebt, trägt die Folgen teils ein Leben lang mit sich mit. Bis 2030 sollen die EU-Staaten Kindern daher, so die Vorgabe der EU-Kommission, „kostenlosen und wirksamen Zugang“ zu Betreuung, Bildung, gesunden Mahlzeiten, Gesundheitsversorgung und Wohnraum garantieren. Österreich hätte seinen Plan zur Umsetzung der „EU-Kindergarantie“ bis März 2022 präsentieren müssen. Daraus wurde bisher aber nichts. Nur Lettland und Rumänien lassen sich mit ihrem Aktionsplan gegen Kinderarmut derart viel Zeit wie die heimische Regierung.

Zurücklehnen kann sich Österreich nicht. 353.000 heimische Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren waren laut Eurostat 2022 armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Das ist mehr als jedes fünfte Kind. Im EU-Schnitt ist zwar fast jedes vierte Kind von Armut bedroht, ein Vorreiter ist Österreich aber keineswegs (siehe Grafik). Ohnehin sei jedes Kind, das in Armut lebt, eines zu viel, sagt die Vorsitzende der Bundesjugendvertretung, Rihab Toumi: „Es kann nicht sein, dass es in einem so reichen Land Kinder gibt, die nicht wissen, ob sie eine warme Mahlzeit bekommen.“

Das Ziel müsse lauten, Kinderarmut in Österreich gänzlich abzuschaffen, findet Toumi. Anders als andere EU-Staaten ist Österreich dabei noch nicht auf dem richtigen Weg: Seit Jahren stagniert die Zahl armutsgefährdeter Kinder statt zu sinken. Und bei fast drei von vier armutsgefährdeten Familien hat sich die finanzielle Lage durch die Covid-Krise zusätzlich verschlechtert, wie eine Befragung der SPÖ-nahen Volkshilfe zeigt. Hinzu kommt die Teuerung, die die Preise in die Höhe treibt.

Die Regierung versucht, gegenzusteuern: Familienleistungen werden an die Inflation angepasst, seit Mitte Juni 500 Millionen Euro für den Kampf gegen Armut zur Verfügung und aus dem letzten Drittel der Kalten Progression wird unter anderem der Kindermehrbetrag erhöht. Bezieherinnen und Bezieher von Sozialleistungen erhalten außerdem 60 Euro pro Kind und Monat zusätzlich – allerdings nur bis Ende 2024. „Die Einzelmaßnahmen sind nicht nachhaltig“, kritisiert SPÖ-Familiensprecherin Petra Wimmer: „Es fehlt der rote Faden.“

Entwurf in der Schublade

Einen solchen sollte der Nationale Aktionsplan vorgeben. „Die Idee ist, Armut und soziale Ausgrenzung durch flankierende Maßnahmen deutlich zu reduzieren“, erklärt Klaus Vavrik. Der Kinderarzt wurde im September 2021 von der Regierung als Koordinator des Aktionsplanes eingesetzt. Inhaltliche Entscheidungen kann Vavrik nicht treffen, diese liegen bei der Politik. Der Koordinator soll nur beratend zur Seite stehen und die Umsetzung der Kindergarantie bewerben. Ohne Plan der Regierung keine leichte Aufgabe. Wie der finale Aktionsplan aussehen wird, wissen auch Opposition, die Bundesjugendvertretung oder NGOs wie Caritas, Volkshilfe oder Unicef nicht. Sie alle kennen keinen aktuellen Entwurf des Papiers, das für Transparenz und Vergleichbarkeit im Kampf gegen Kinderarmut sorgen sollte.

Im Dezember 2021 veranstaltete UNICEF Österreich auf Auftrag des Sozialministeriums einen Stakeholder-Dialog mit 230 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Für jeden einzelnen Bereich der Kinderarmut arbeiteten die Expertinnen und Experten dabei konkrete Empfehlungen aus – von besserer Ausbildung für Elementarpädagoginnen und -pädagogen über einen „One-Stop-Shop“ für alle relevanten Sozialleistungen bis zu leistbaren, gesunden Mahlzeiten im Kindergarten. Die 88-seitige Zusammenfassung würden eine gute Grundlage für einen Aktionsplan ergeben, meint Corinna Geißler, Leiterin des Bereichs Kinderrechte bei UNICEF Österreich: „Nun muss man aufpassen, dass angesichts neuer Herausforderungen, wie Ukrainekrieg und Teuerungen, die damaligen Vorschläge noch ausreichen.“

Ursprünglich dürfte das Sozialministerium rasch gearbeitet haben: Durch einen Aufruf an alle relevanten Organisationen wurden laut Ministerium mehr als 600 bestehende und geplante Maßnahmen gesammelt, mit denen Österreich gegen Kinderarmut kämpft. Ein erster Entwurf des gesammelten Aktionsplans soll noch im Februar 2022 fertiggestellt worden sein, pünktlich zur Abgabefrist im März. Doch das Papier des federführenden grünen Sozialministeriums dürfte dem türkisen Koalitionspartner nicht genehm gewesen sein – und mit Bildungs- und Familienministerium wären jedenfalls auch die Budgets zweier ÖVP-Ressorts vom Plan betroffen gewesen.

Andere Länder kümmern sich augenscheinlich engagierter um die Umsetzung der Kindergarantie.

Klaus Vavrik

ist Österreichs Koordinator der Kindergarantie

„Aufgrund der umfassenden Themenschwerpunkte“ des Aktionsplans gegen Kinderarmut sei ein „umfassender Abstimmungsprozess“ notwendig, heißt es auf Anfrage aus dem Sozialministerium. Corona, Krieg und Teuerung würden diesen zusätzlich verlängern, man sei aber „um eine schnellstmögliche Fertigstellung bemüht“. Laut Antworten auf parlamentarischen Anfragen aus dem Sozialministerium befand sich das Papier allerdings bereits vor einem halben Jahr „in der finalen politischen Abstimmung“.

Engagement in Europa

Die Zeit drängt: 2024 sollten die nationalen Pläne erstmals angepasst werden, ab 2025 evaluiert die EU-Kommission die Umsetzung. Konsequenzen bei Verfehlungen gibt es keine, theoretisch könnte Österreich die EU-Kindergarantie schlicht weiter ignorieren. Auch mit Blick auf die Neuwahlen in einem Jahr fordert die Vorsitzende der Bundesjugendvertretung, Rihab Toumi, aber eine rasche Veröffentlichung des Aktionsplanes: „Das muss jetzt im Herbst angegangen werden. Alles andere ist beschämend.“ Der mangelnde Aktionsplan sei „jedenfalls peinlich“, sagt Vavrik, der bei Treffen mit anderen Koordinatorinnen und Koordinatoren wenig aus Österreich berichten kann: „Andere Länder kümmern sich augenscheinlich engagierter um die Umsetzung der Kindergarantie.“

Als Kinderarzt beobachtet Vavrik hierzulande vor allem bei Kindern mit Beeinträchtigungen oder Entwicklungsstörungen eine mangelhafte medizinische Versorgung: Der freie Zugang zum Gesundheitssystem bedeute noch nicht, dass es auch einen benötigten Platz für diverse Behandlungen gebe. Leistbare Angebote für Sprach-, Physio-, Ergo- oder Psychotherapie sind mitunter Mangelware, die Wartezeiten lange. Doch werden Entwicklungsfenster in den ersten Lebensjahren verpasst, entstehen bleibende Schäden. Kinder wachsen mit vermeidbaren Sprachstörungen auf, verfestigen autistisches Verhalten oder müssen aufgrund unbehandelter Bewegungsstörungen operiert werden. Andere EU-Staaten setzen in ihren Aktionsplänen daher häufig auf Früherkennungsmaßnahmen, wie eine Analyse der Bundesjugendvertretung zeigt.

Kinderbetreuung gegen Armut

Auch der Ausbau von leistbarem Wohnraum steht häufig auf den Maßnahmen-Listen der anderen Länder. Armutsgefährdete Kinder und Jugendliche leben öfter in kleinen, feuchten und überbelegten Wohnungen. Nicht immer haben sie einen eigenen Schreibtisch, geschweige denn ein eigenes Zimmer.

In Österreich lebt laut Eurostat mehr als jedes vierte Kind in überbelegten Wohnungen – mehr als im EU-Schnitt. In Haushalten mit geringem Einkommen leben hierzulande gar 55 Prozent der Kinder in zu kleinen Wohnungen, im europäischen Durchschnitt sind es nur zwei von fünf Kindern.

Armut hat viele Gründe. Gerade am Land mangelt es in Österreich etwa weiterhin an leistbarer und hochwertiger Kinderbetreuung. Das belaste die Eltern wiederum finanziell, erinnert Vavrik: „Die Armutsspirale wird angestoßen, wenn Kinder nicht in den Kindergarten gehen können und ein Elternteil – oft auch noch alleinerziehend – zuhause bleiben muss.“

Ab 2030 sollen alle Kinder ab dem ersten Lebensjahr garantiert einen Betreuungsplatz erhalten, verspricht nun die Regierung. Vavrik hofft, dass dabei nicht auf die Kinder mit Beeinträchtigungen vergessen wird. Auch in der Bildung sollte Österreich verstärkt in die Jüngsten investieren, findet der Kindergarantie-Koordinator. Hierzulande wird mehr Geld für die höhere Bildung in die Hand genommen als im OECD-Schnitt, bei jüngeren Kindern lässt sich aber eine größere Wirkung erzielen. „Wir wissen, dass Investitionen in die Kindheit auch volkswirtschaftlich das Vielfache zurückgeben“, sagt Vavrik: „Wir sparen uns damit in der Zukunft viel Geld.“

Doch dafür braucht es erst einmal einen Plan.

Max Miller

Max Miller

ist seit Mai 2023 Innenpolitik-Redakteur bei profil. Hat ein Faible für visuelle Kommunikation, schaut aufs große Ganze und kritzelt gerne. Zuvor war er bei der "Kleinen Zeitung".