Anschluss 1938: Die Polizei war ein entscheidendes Instrument zur Durchsetzung des Holocaust.

Polizei im Nationalsozialismus: "Als Herrenmenschen auftreten"

Tabubruch: Aktenbestände des Innenministeriums ermöglichen die systematische Erforschung der österreichischen Polizei im Nationalsozialismus.

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Wer glaubt, wir wüssten schon genug über Judenverfolgung, Deportationen, Auschwitz und Kriegsgräuel, irrt. Die Rolle österreichischer Polizisten in der NS-Mordmaschinerie ist weitgehend unbekannt. Ein Forschungsprojekt des Innenministeriums unter Leitung des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung in Zusammenarbeit mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) und dem Mauthausen Memorial geht diese Aufarbeitung nun ernsthaft an. Berge von internen Akten, die seit damals in Kellern der Landespolizeidirektionen verstauben oder auch verschwanden – Personalakten, Kriegstagebücher, Dienstpläne, Postenchroniken –, werden innerhalb der nächsten zwei Jahre erfasst und gelesen. Mehrere Dutzend Beamte im Polizeidienst haben sich freiwillig dafür gemeldet, einige Pensionisten sitzen jeden zweiten Tag im Archiv.

Es stellen sich hier nicht nur historische, sondern für die Demokratie existenzielle Fragen, sagt der Leiter des Projekts im Innenministerium Gerald Hesztera (siehe profil-history-Podcast). "Wir wissen, dass österreichische Polizisten an Kriegsverbrechen beteiligt waren, aber wir wissen nicht, wie weit. Sie hätten sich Mordbefehlen verweigern können. Warum haben das so wenige getan?"

Wir wissen, dass österreichische Polizisten an Kriegsverbrechen beteiligt waren, aber wir wissen nicht, wie weit. Sie hätten sich Mordbefehlen verweigern können. Warum haben das so wenige getan?"

Gerald Hesztera, Innenministerium

In Deutschland wurde mit der institutionellen Aufarbeitung der Polizei im NS-Staat früher begonnen. Als Anfang der 1990er-Jahre Christopher Browning seine Studie "Ganz normale Männer" veröffentlichte, war das ein Schock. Der US-Historiker hatte ein Hamburger Polizeireservebataillon untersucht und festgestellt: Es waren keine hochideologisierten Hitleranhänger, sondern Familienväter aus der Mitte der Gesellschaft, Streifenpolizisten und Dorfgendarmen, die in Polen und Weißrussland Massaker an der jüdischen Bevölkerung verübten, wehrlose Männer, Frauen, Kinder und Greise zusammentrieben und in Gruben schossen. Gehorsam und Gruppendruck waren stärker als das Gewissen. Von mehr als 500 Männern hatten sich nur 15 den schlimmsten Befehlen verweigert.

Wie war das in der "Ostmark"? Wer meldete sich zur Bewachung von Deportationszügen nach Auschwitz? Wer tat in Polizeibataillonen im Osten Dienst? War die Polizei schon 1938 von illegalen Nationalsozialisten unterwandert? Hesztera treiben solche Fragen seit Langem um.

Im Rahmen seines Geschichtsstudiums untersuchte er, wie die österreichische Polizei, die in der Zwischenkriegszeit sozialdemokratisch geprägt war (bei Wiener Personalvertretungswahlen waren es 80 Prozent), immer stärker von autoritären Stimmungen erfasst, durch den Austrofaschismus der Demokratie entwöhnt und am Ende von der Regierung im Stich gelassen wurde.

Der Polizeidienst bedeutete für ehrgeizige Arbeiter und Bauern einen Aufstieg aus ärmsten Verhältnissen. Hesztera spricht von einer traumatisierten Generation, die durch die Gewalt des Ersten Weltkrieges, Zusammenbruch und Verfall ihrer Werte gegangen war und keinen sicheren Boden fand.

Den Brand des Justizpalastes 1927 hält er für einen Wendepunkt für das republikanische Selbstverständnis der Polizei. Ein Mord an zwei Sozialdemokraten war geschehen, und als bekannt wurde, dass die Mörder freigesprochen worden waren, brachen Unruhen aus. Die sozialdemokratische Anhängerschaft strömte zum Parlament, der Justizpalast wurde in Brand gesteckt, die Polizei bekam den Befehl, den Aufstand blutig niederzuschlagen.

Es folgte: die Abschaffung des Parlaments, ein Nazi-Putsch im Kanzleramt, an dem führende Polizisten beteiligt waren; die Tage des Bürgerkrieges im Februar 1934, das Verbot der Sozialdemokratie und blutige Terrorakte illegaler Nationalsozialisten, die vom deutschen Reichskanzler Adolf Hitler in Berlin gesteuert waren. Ein demokratischer Kompass existierte nicht mehr.

Als die Exekutive im Jänner 1938 einen Nationalsozialisten als Innenminister vorgesetzt bekam, waren die illegalen Nazis in ihren Reihen (Hesztera schätzt ihre Stärke auf zehn bis 20 Prozent) auf der Siegerstraße. Vor allem die Jüngeren im Apparat sahen eine Karrierechance und wechselten die Seite. Der letzte Offizierslehrgang des alten Regimes war bereits vollständig nazifiziert.

In der Nacht des 12. März 1938 nahmen die Dinge ihren Lauf. Die österreichische Regierung war vor Hitlers Drohungen eingeknickt und zurückgetreten. Jubelnde Massen, "Heil Hitler!" grölend, bevölkerten die Straßen; in Wachstuben wurden Hakenkreuzbinden ausgegeben; regierungstreue Polizeikommandanten wurden von Rollkommandos aufgesucht, misshandelt, verhaftet oder wie in Linz mit besonderer Brutalität erschlagen und erwürgt.

In den darauffolgenden Wochen wurde ein Drittel der oberen Ränge entlassen und durch ehrgeizige Aspiranten ersetzt. Die österreichische Gestapo-Leitstelle in Wien, mit einem Personalstand von 900 Mitarbeitern die größte im Deutschen Reich, bestand zu 80 Prozent aus Österreichern.

Polizisten meldeten sich zur Begleitung von Deportationszügen nach Theresienstadt, Auschwitz oder Maly Trostinez. Sie bewachten, schwer bewaffnet, die "Einwaggonierung" von Juden und Jüdinnen am Wiener Aspang-Bahnhof. Solche Einsätze brachten Auslandszulagen und Spesen und gefühlsmäßige Abstumpfung. Ein Wiener Polizist aus dem Kommissariat Reichsbrücke beschwerte sich nach einem Transport über die schlechte Verpflegung: Seine Wurst sei labbrig und grau gewesen.

Mit Kriegsbeginn 1939 wurden ganze Polizeibataillone zusammengestellt und ostwärts geschickt. Die "Sicherung des Hinterlandes" war ihre Aufgabe. In Zusammenarbeit mit Wehrmacht und SS-Einsatzgruppen. Die Entmenschlichung schritt rasch voran. Wenige Ordnungshüter verweigerten sich den befohlenen Mordaktionen. Ein Polizist aus Wien, der als glühender Hitler-Anhänger nach Polen kam und sah, was Wehrmacht, SS und seine Kollegen dort taten, rettete heimlich Hunderte jüdische Kinder aus dem Krakauer Getto, wurde verraten und 1944 erschossen. Er ist einer von fünf Polizisten in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, die als Gerechte unter den Völkern geehrt werden.

Etwa 100 Polizeibataillone waren im Osten eingesetzt. Für die Bewachung von Gettos, Deportationen, das Zusammentreiben von Menschen, Erschießungen, Tötung in Gaswagen. Die Polizei war ein entscheidendes Instrument im Holocaust. Man schätzt, dass Polizeibataillone im Osten am Tod von einer Million Menschen beteiligt waren.

Mit einem von ihnen, einem Bataillon, das in Kagran in Wien ausgebildet worden war, hat sich Gruppeninspektor Walter Janca von der Sicherheitsakademie des Innenministeriums eingehend beschäftigt. Janca ist in der Ausbildung der Exekutive für den Unterrichtsgegenstand Menschenrechte zuständig. Er sorgt dafür, dass alle angehenden Polizistinnen und Polizisten eine NS-Gedenkstätte besuchen. Das Kagraner Polizeibataillon 322 ist für ihn ein bewährtes Fallbeispiel, den Schülern das Grauen näherzubringen und begreiflich zu machen, wie die schrittweise Entmenschlichung angeblicher Feinde funktioniert.

Im Zuge deutscher Gerichtsverfahren gegen SS-Generäle in den 1960er-Jahren war auch dieses Polizeibataillon in Verdacht geraten, an Massenerschießungen beteiligt gewesen zu sein. Verhaftungen wurden vorgenommen, Zeugen gesucht. Doch alle, derer die Justiz habhaft werden konnte, befanden sich im Polizeidienst. Einfache Polizisten scheuten sich, gegen ihre Vorgesetzten aus den Kriegsjahren, die wieder obere Ränge bekleideten, belastende Dinge auszusagen. Am Ende schützte einer den anderen – auf jeder Stufe der Hierarchie. Man machte Befehlsnotstand geltend. Und was für die Kommandanten galt, galt erst recht für die Mannschaft. Es gab nur Freisprüche.

Ein paar Jahre später tauchte ein Kriegstagebuch des Polizeibataillons 322 auf, in dem vom 10. Juni 1941 bis zum 26. Mai 1942 ordentlich jeder Tag und die Anzahl der erschossenen jüdischen Männer, Frauen und Kinder, auch Säuglinge darunter, neben Wetterbericht und anderen Vorkommnissen vermerkt war. Das Tagebuch, endlich ein Sachbeweis. Das Verfahren wurde neu aufgerollt, auch in Österreich kam es zu Anklagen.

Die 550 mehrheitlich österreichischen Polizisten des Bataillons waren am 6. Juni 1941 vom deutschen Polizei- und SS-General Karl Retzlaff mit eindeutigen Worten verabschiedet worden: "Jeder habe den slawischen Völkern gegenüber als Herrenmensch aufzutreten und zu zeigen, dass er Deutscher sei."

Schon nach den ersten Erschießungen war das Bataillon offenbar von der Sache überzeugt und handelte eigenmächtig, was belobigt wurde. Tagebucheintrag vom 18. August 1941: "Derbes und sicheres Zupacken, in kürzester Zeit ganze Arbeit. "Die Polizisten aus dem Großraum Wien waren so erfolgreich, dass ein Lehrbataillon daraus hervorging, mit Empfehlungen, wie man die Erschießungen effektiver machen könnte, etwa Geländegegebenheiten wie Vertiefungen als Gruben nützen.

Eine gewisse Belastung äußerte sich in der erhöhten Zahl an Krankmeldungen nach besonders heftigen Erschießungstagen. In Mogilew in Weißrussland etwa wurden an einem Tag 2000 Menschen erschossen, auch Kleinkinder und Säuglinge.

Der Chef des Bataillons war ein deutscher SS-Mann. Der Bataillonsarzt, ebenfalls SSler, ein Österreicher, der nach 1945 wieder als praktischer Arzt in Niederösterreich tätig war.

Im DÖW stieß Janca auch auf ein handschriftliches Tagebuch der 3. Kompanie dieses Bataillons mit eingeklebten Fotos, sorgfältig gezeichneten bunten Zierleisten und Überschriften, eine Art Erlebnistagebuch. Man erfährt von lustigen Abenden mit viel Alkohol als Belohnung besonders schwerer Tage, "gemütlichem Beisammensein mit zwei Fässern Bier" und Ansprachen der Vorgesetzten, wie wichtig die Juden-Aktionen seien.

Das Verfahren gegen einige Bataillonsangehörige in Wiener Neustadt 1971/72 endete mit Freisprüchen. Man hatte zwar Namen, Orte und Zeitpunkt, doch konnte nicht exakt geklärt werden, wer wann wo geschossen hatte. Alle schützten sich gegenseitig. Nur einer hatte die Mordtaten verweigert, wie sich im Gerichtssaal herausstellte. Er war deswegen als Weichei gehänselt worden. Einen anderen Nachteil hatte er nicht zu ertragen.

Sehr viele Polizeibeamte wurden nach 1945 in den Dienst gestellt, ohne dass ihre Aktivitäten in den Ostgebieten jemals überprüft worden wären"

Gerald Hesztera, Innenministerium

Insgesamt hatte das Bataillon nach Aufzeichnungen mehr als 10.000 Menschen erschossen, und man kann davon ausgehen, dass nach 1945 so gut wie alle wieder im österreichischen Polizeidienst tätig waren.

In den Nachkriegsjahren wurde gegen 216 österreichische Polizisten ermittelt. Drei von ihnen wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, jedoch nach wenigen Jahren in die Freiheit entlassen.

"Sehr viele Polizeibeamte wurden nach 1945 in den Dienst gestellt, ohne dass ihre Aktivitäten in den Ostgebieten jemals überprüft worden wären", sagt Hesztera. Auch darüber wird das Forschungsprojekt Klarheit bringen.

Der profil-history-Podcast sucht die Spuren des Vergangenen im heutigen Geschehen. Er erscheint jeden zweiten Sonntag.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling