Nehammer gab Änderungen bekannt
profil-Morgenpost

Zahlenmagie und Datenleck

Von den Dilemmata der ÖVP und einer Schweizer Großbank in der Bredouille – sowie ein kleiner numerologischer Exkurs.

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Man könnte meinen, der rare Zauber des heutigen Datums sei bislang kaum jemandem ins Auge gesprungen, die meisten von uns haben auch andere Dinge zu tun, als nur über die numerologischen Launen des jeweiligen Kalenderjahres zu sinnieren. Aber in manchen Bereichen, in jenem der Eheschließungen beispielsweise, sind Daten nicht ganz ohne Belang: Ein zahlenmagisch sanft erhöhter Hochzeitstag ist eine hübsche, smalltalk-taugliche Nebenwirkung, die übrigens dazu führt, dass man sich diesen auch ohne lästige Eselsbrücken in den Langzeitspeicher prägen kann. So sollen heute, am 22. Tag des zweiten Monats des Jahres 2022, in gleichsam sechsfacher Zweisamkeit also, weltweit deutlich mehr Trauungen durchgeführt werden, als an den meisten anderen Tagen dieses Jahres. (Wie viele Paare vor knapp drei Wochen, am 2. 2. 2022, ihren Lebensabschnittsbund geschlossen haben, entzieht sich meiner Kenntnis.) Die allerhöchste Schule der Eheplanung würde ein heute spätabendlich noch geöffnetes Standesamt (oder Kirchenschiff) sowie eine derart exakte Organisation voraussetzen, dass man einander um präzise 22:22 Uhr das Ja entgegenhauchen könnte.

Nun ist profil bekanntlich eine der letzten Bastionen der unumschränkten Rationalität, eine stählerne Festung der Faktenrecherche, zu der die Fans zahlenmystischer Esoterik ebenso wenig Zutritt haben wie, sagen wir: die Apostel der Homöopathie. Tatsächlich verbinden wir keinerlei Heilsbotschaft mit diesem Tag, nicht einmal ein besonders gesteigertes Glücksgefühl: Ein Datum ist kein Fatum. Dieses sehr spezielle Datum ist nur eben eine Spezies, die ähnlich selten auftritt wie der Weißwangenklammeraffe im Amazonas-Gebiet. Am Ende ist es eine Frage der Anmut; die exklusive Zusammenkunft der Zweien sieht gedruckt, gestanzt und gekritzelt schlicht schön aus, wenigstens vergleichsweise.

In jedem Sinne unschön dagegen sind die Skandale, die das Investigativ-Team des profil in monatelanger Zusammenarbeit mit einem internationalen Ermittlungs-Konsortium unter dem Stichwort „Suisse Secrets“ bloßgelegt und zusammengetragen hat: Wie geleakte Kontodaten der Schweizer Großbank Credit Suisse belegen, unterhielt die elitäre Finanzhochburg über Jahre hinweg beste Geschäftsbeziehungen zu Tyrannen, Drogen- und Menschenhändlern, ohne je groß nachzufragen, wozu die verschobenen Summen dienen sollten. Es geht um dreistellige Euro-Milliardenbeträge, um Geldwäsche, Korruption und Mord, um Verbrechen, die in höchste Regierungs- und Kirchenkreise führen. Ungeheuerliche Geschichten tun sich hinter dem Datenleck auf: Die Spitze des Eisbergs dieses nicht nur wirtschaftskriminellen Realdramas können Sie hier nachlesen.

Die Matrix der Volkspartei

Aber nicht nur harte Fakten, auch kreative Sonderformen der Berichterstattung werden in profil geschätzt, der Genreübergriff genießt bei uns hohe Reputation. Kinoaffinen Innenpolitikjournalismus etwa werden Sie anderswo nicht ohne größeren Aufwand finden, viel Glück bei der Suche. In Episode drei der zweiten Staffel von Gernot Bauers sehr zu Recht beliebter Serie „Bauer sucht Politik“ werden Ideologie, Virologie, Science-Fiction und Fußball pointiert ineinander gedacht. Bauer, der in anderen Zusammenhängen schon als treuer Anhänger des (zwischen „Justice League“ und „Wie überleben wir Weihnachten“ zwar qualitativ wechselhaften) Schaffens des US-Schauspielers, Regisseurs und Produzenten Ben Affleck hervorgetreten ist, bringt in seiner jüngsten Analyse der ÖVP-Dilemmata eine überraschende filmfiktionale Parallelfigur für Kanzler Karl Nehammer ins Spiel: den Revolutionsführer Neo, den Keanu Reeves in der „Matrix“-Reihe darstellt. Wie Bauer dies argumentiert, sei hier verschwiegen, unter Filmfreunden wird Spoilern drakonisch geahndet.

Ein letzter Zuruf an alle, die fest entschlossen sind, einander ausgerechnet heute zu ehelichen: gut, dass Sie nicht auf spannendere Datumskonstellationen gewartet haben. Denn zahlentechnisch noch homogener wird es erst wieder in exakt 200 Jahren. Dann kriegen wir auch die lästige Null in der Jahreszahl weg und werden uns über ein Datum freuen können, das aus der Wiederholung einer einzigen Ziffer besteht. Ob Sie und ich den Februar 2222 allerdings noch persönlich erleben werden, ist selbst angesichts einer sich rasant entwickelnden Medizin ein wenig fraglich.

Einen erquicklichen Start in den Dienstag wünscht Ihnen die profil-Redaktion!

Stefan Grissemann

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.