Interview

Psychiater zu Suizid: „Besser, man fragt einmal mehr nach“

Thomas Kapitany leitet das Kriseninterventionszentrum in Wien. Hier finden auch suizidgefährdete Menschen Hilfe. Über Lebenskrisen und ihre Bewältigung.

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Welche Rolle spielt Suizid in Ihrer Arbeit?
Kapitany
Zu uns kommen Menschen, die – etwa durch einen Todesfall, den Verlust des Jobs, eine Trennung oder eine familiäre Krise – stark aus dem Gleichgewicht geraten und in dieser akuten Überforderung Suizid als Ausweg empfinden.
Wie helfen Sie Betroffenen da heraus?
Kapitany
Wir sind eine wichtige Institution, weil wir sehr rasch helfen. Wer werktags anruft, bekommt sofort eine telefonische Beratung oder psychotherapeutische Intervention. Manchmal steht ein Anrufer vor einem Suizid, und es geht darum, ihn davon abzubringen. Auch ein persönliches Gespräch mit Psychotherapeuten, Ärzten, Psychologen oder Sozialarbeiterinnen ist meist noch am selben Tag, spätestens innerhalb von zwei Werktagen möglich.
Ist Suizidalität nicht meist Ausdruck einer Depression oder von anderen psychischen Erkrankungen?
Kapitany
In 90 Prozent der Fälle steckt eine erhebliche psychische Beeinträchtigung oder Erkrankung dahinter, oftmals eine Depression. Im Kriseninterventionszentrum aber sind in der Regel starke äußere Belastungen Auslöser für Angst, Schlaflosigkeit, Grübeln. Natürlich kann sich in einer Krise eine Depression entwickeln. Wenn das mit Suizidgedanken zusammenspielt, ist die Gefahr noch größer.

Das Thema nicht anzusprechen, kann dazu führen, dass Menschen sich weiter zurückziehen.

Thomas Kapitany

Was kann jeder von uns machen, wenn Angehörige oder Freunde in Lebenskrisen geraten?
Kapitany
Wenn man sich Sorgen macht, sollte man das ansprechen. „Ich weiß, du hast eine schwere Zeit. Darum möchte ich dich fragen, wie du zurechtkommst.“ Wenn Menschen extrem belastet sind, machen sie oft indirekte Mitteilungen. Zum Beispiel: „Mich freut es überhaupt nicht mehr. Wenn das so weitergeht, hat es keinen Sinn.“ Besser man fragt einmal mehr nach, als man übersieht, dass jemand sich das Leben nehmen will.
Soll man auch das ansprechen? Oder sollte man eher versuchen, diese Person aufzuheitern?
Kapitany
Man kann ruhig fragen: Hast du vielleicht Suizidgedanken? Dann wird die Person hoffentlich ehrlich sagen: „Na ja, gestern, wie es so schlimm war, habe ich kurz darüber nachgedacht. Oder in der Früh sehe ich mich nicht raus, dann will ich gar nicht mehr leben.“ Es ist ein Mythos, zu glauben, dass jemand durch diese Frage auf schlechte Ideen kommt. Im Gegenteil. Erst dadurch eröffnen wir die Chance auf Hilfe. Das Thema nicht anzusprechen, kann dazu führen, dass Menschen sich weiter zurückziehen und sich vielleicht noch bestärkt darin fühlen, dass es besser ist, wenn sie überhaupt verschwinden.
Dass bellende Hunde nicht beißen, stimmt bei suizidgefährdeten Menschen offenbar nicht.
Kapitany
Viele Menschen, die sich das Leben nehmen, haben zuvor Mitteilungen gemacht. Ein hoher Prozentsatz, laut Studien etwa 70 Prozent, suchte zwei Monate vor einem Suizid noch den Hausarzt auf. Deshalb bieten wir in Wien seit mehr als zehn Jahren eigene Schulungen an, um Hausärzte zu sensibilisieren und zu befähigen, erste Behandlungsschritte in die Wege leiten.
Wie entwickelt sich eine Suizidabsicht?
Kapitany
In der Regel kommt nicht jemand plötzlich auf den Gedanken, sich das Leben nehmen zu wollen. Es gibt zunächst eine Phase der grundsätzlichen Überlegung. Ihr folgt eine Phase der Zerrissenheit zwischen Todeswunsch und Lebenswillen, in der Menschen sehr leiden, aber auch für Hilfe zugänglich sind. Anders als in der Phase der suizidalen Einengung auf negative Gefühle und Überzeugungen, in der Betroffene felsenfest überzeugt sind, dass Suizid der Ausweg ist. Was man dazu wissen muss: So gut wie alle, die einen entschlossenen Suizidversuch hinter sich und die ganze Krise überstanden haben, sind glücklich, überlebt zu haben.

Hilfe bei Krisen

Österreichische Telefonseelsorge (0-24 Uhr, kostenlos unter 142), online unter: telefonseelsorge.at

Psychiatrische Soforthilfe (0-24 Uhr, 01/31 330), online unter: psd-wien.at

Kindernotruf (0-24 Uhr, 0800 567 567) Rat auf Draht (0-24 Uhr, 147), online unter: rataufdraht.at

Kriseninterventionszentrum  (Montag bis Freitag 10-17 Uhr, 01 406 95 95), anonyme E-Mail-Beratung (kriseninterventionszentrum.at)

 

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges