Titelgeschichte

"Ich bin unendlich froh, noch am Leben zu sein"

Silvi M. wollte Suizid begehen. Sie erzählt ihre Geschichte, um andere zu ermutigen, rechtzeitig Hilfe zu holen.

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Neben dem bodenlosen Abgrund lauerte das Riesenglück. Und am Ende behielt es die Oberhand. Silvi M. ist bereit, über beides zu reden: den Abgrund, der sie mehrmals zu verschlingen drohte, und das Riesenglück, am Leben zu sein. Es wird kein leichtes Gespräch. Die 66-Jährige geht am Stock. Später wird sie erzählen, warum ihr die Hüfte zu schaffen macht. Sie holt Kaffee aus der Küche. Noch ist es warm genug, um draußen zu sitzen. Es wird sich als wohltuend erweisen, Luft, Wiesen und Vögel um sich zu haben, wenn es um den Tod geht. Nicht mehr weiterzuwissen. Um Suizid.

Selbstmord sagt man nicht. Das Wort stempelt Verzweifelte zu Schuldigen.

Auch Freitod trifft es nicht. Worin liegt die eigene Entscheidung, wenn der Tod als vermeintlich letzter Ausweg vor Augen steht?

Magen entleeren. Wasser trinken. Auf und ab gehen.

Wir beginnen mit dem Riesenglück. Damit, dass Silvi M. in einem der Momente, als der Abgrund näher war als alles andere, sich bei einer Telefon-Helpline "verplapperte",die Frau am anderen Ende der Leitung M.s Therapeutin ausfindig machte, diese sich ins Auto setzte und mit ihr alles machte, was zu machen war, um am Leben zu bleiben: Magen entleeren. Wasser trinken. Auf und ab gehen.

Die Geschichte, die sich in dieser Nacht existenziell zuspitzte, beginnt mit einer Kindheit in einer "hochgestochenen" Familie, die sich "alles leisten" konnte und von außen betrachtet "überaus glücklich" war. Drei Töchter, umsorgt von einer"hingebungsvollen Mutter". Silvi M. macht eine Pause und holt für den nächsten Satz tief Luft: "Die Wahrheit ist: Es hat sehr viel Misshandlung, Entwertung, Manipulation, Missbrauch gegeben, auch sexuellen."

Sie wird die Person, die ihr all das angetan hat, ein einziges Mal "Mutter" nennen, sonst stets nur "die Erzeugerin", manchmal auch "meine Erzeugerin".

Die Geschichte hinter der Geschichte

Nach dem Suizid der oberösterreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr begann die Autorin zu recherchieren. Im Gespräch mit einem Psychiater entstand das Vorhaben, vom Anlass abgerückt, eine Person zu Wort kommen zu lassen, die versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Es war nicht leicht, jemanden zu finden, der offen darüber spricht. Suizid ist immer noch mit einem Stigma behaftet. Silvi M. erklärte sich bereit, an die Öffentlichkeit zu gehen, auch um andere Betroffene zu ermutigen, das Schweigen zu brechen und Hilfe zu holen.

Nur noch gewollt, "dass es aufhört".

Schon in der Volksschule seien die ersten Suizidgedanken aufgetaucht. M. sagt, sie habe als Kind gelernt, sich innerlich auszuklinken, wenn die Mutter minutenlang mit dem Kochlöffel auf sie eindrosch, habe sich gefühllos für ihre Beschimpfungen, Nachstellungen und Übergriffe gemacht. Irgendwann habe sie begonnen, sich selbst wehzutun. Sie habe mit dem Kopf so lange gegen die Wand geschlagen, bis der Schmerz alles andere überlagerte, magerte bis auf die Knochen ab, entwickelte Magengeschwüre. Manchmal habe sie nur noch gewollt, "dass es aufhört",und insgeheim gedacht, "wie schön es wäre, wenn es mich nicht gäbe".

Es sollte lange dauern, bis M. die richtigen Worte für das fand, was im Nebel der frühen Kindheit, "irgendwann im Vorschulalter" begonnen hatte. Mit 14 verbrachte sie im Rahmen eines Schüleraustausches ein Jahr in Frankreich. Dort habe sie festgestellt, "dass andere Kinder ein eigenes Zimmer haben und andere Eltern anklopfen, bevor sie hereinkommen".Als sie zurückkam, hörte der körperliche Missbrauch schlagartig auf, die psychische Gewalt ging unvermindert weiter.

Mit 22 Jahren lernte M. ihre erste große Liebe kennen. Es hätte "wunderbar funktionieren können", hätte ihre Mutter nicht all ihre Energie darin gelegt, dem Paar hinterherzuspionieren und die Beziehung schlecht zu machen.

Der Mann suchte das Weite. "Siehst du, ich habe dir immer gsagt, dass er nichts taugt",triumphierte die Mutter. Damals versuchte Silvi M. erstmals, sich das Leben zu nehmen. Als sie in ihrer kleinen Wohnung die Augen wieder aufschlug, habe sie sich bis ins Mark geniert, "selbst dazu nicht fähig zu sein".Sie atmete weiter. Niemand erfuhr von ihrem Suizidversuch.

"Bitte, zwei Minuten Pause, damit ich da emotional wieder herauskomme", sagt M. "Wollen Sie noch einen Kaffee?"Das Gespräch verlagert sich in die Küche. An der Wand hängen Fotos ihrer Tochter. "Jetzt kann ich weitererzählen."

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Die jungen Erwachsenenjahre verbringt M. damit, Jus und Französisch zu studieren. Sie arbeitet bei der Stadt Wien, kellnert bei einem Heurigen, legt Geld auf die Seite und versucht herauszufinden, wer sie ist. Sie kauft ein Haus mit Garten, gründet ein Unternehmen, das Opern-und Kulturreisen veranstaltet, sie heiratet und bekommt eine Tochter. Nie fühlt es sich "genug" an. Von 1989 an bezahlt sie aus eigener Tasche eine Psychotherapie. Sie habe zugenommen, sei "bissig und arrogant" gewesen. Sie lege sich einen Schutzwall zu, damit ihr niemand zu nahekommt, erklärte die Therapeutin.

"Da ist kein Boden mehr."

Jahrelang quält sich M. mit der Frage, was mit ihr nicht stimmt, bis es ihr wie Schuppen von den Augen fällt, dass "die Troubles mit meiner Erzeugerin Missbrauch waren". Kurz darauf werden durch profil die Missbrauchsvorwürfe gegen Ex-Kardinal Hans Hermann Groër öffentlich. "Das kenne ich", habe sie gedacht und sich geschworen, ihr Kind vor ähnlichen Übergriffen zu bewahren. Es sollte früh lernen, Nein zu sagen. Mit 40 bricht M. den Kontakt zu ihrer Mutter ab. Etwa um diese Zeit habe sie erfahren, dass es ihre mittlere Schwester ebenso schlimm erwischt hatte wie sie. Von der jüngsten, sie ist mittlerweile ebenfalls über 60, wisse sie es bis heute nicht. Immer wieder hadert sie mit den Grenzen zwischen sich und den anderen. Sie entwickelt eine Depression und-"das Wort stört mich, aber so heißt es nun mal"-eine "emotional instabile Persönlichkeitsstörung des Borderline-Typs", die sich dadurch auszeichnet, dass viele Belastungen, zu denen sich eine größere gesellt, ihr den Boden wegziehen können: "Dann bin ich nicht mehr imstande, mir zu sagen: Na, ja, sehr schlimm gelaufen, aber ich stehe noch mit beiden Beinen da, denn da ist kein Boden mehr." Als ihre erste Ehe zerbrach, kaufte sie ihrem Ex-Mann eine Wohnung, verständigte sich mit ihm, wie sie sich künftig um ihre gemeinsame Tochter kümmern würden, tanzte durch ihre leeren Zimmer und freute sich, wieder frei zu sein, um wenig später "so was von abzustürzen".

Sie übersiedelt nach St. Egyden. Der Name leitet sich von Ägide her und bedeutet Schutz. M. hofft, hier zur Ruhe zu kommen. Sie findet ein schönes Jugendstilhaus mit einem Bach nebenan, an dem sie stundenlang sitzt, rauchend, ins Wasser schauend. Existenzängste plagen sie, nachdem sie nicht nur ihr Haus in Wien, sondern auch ihren Betrieb verkauft hat. Am Land gibt es wenig Möglichkeiten, etwas Neues aufzubauen.

Sie dreht ihr Handy auf und wachelt um Hilfe.

Eines Abends hüllt sich die geschiedene Mutter in einen dunkelgrauen Mantel, spaziert die unbeleuchtete Überlandstraße entlang, wo man 100 Stundenkilometer fahren darf, viele aber noch schneller fahren, und springt vor ein Auto. Sie landet im hohen, nassen Gras im Graben. Ihre Hüfte schmerzt. Sie dreht ihr Handy auf und wachelt um Hilfe. Sie sieht Autos ausweichen, am Steuer sitzen auch "ein paar honorige Leute von hier". Niemand bleibt stehen.

Es tut mir wirklich, wirklich, wirklich unendlich leid für meine Tochter. Sie hätte sich etwas anderes verdient, als sich um eine psychisch bedürftige Mutter zu kümmern.

Auch darüber verlor M. nie ein Wort. Sie lebt weiter. Immer wieder baut sich Druck auf, "sehr viel Druck".Es gibt Probleme mit dem Jugendamt. Rückblickend sagt M., es tue ihr "wirklich, wirklich, wirklich unendlich leid" für ihr Mädchen, "das sich etwas anderes verdient hätte, als sich um einen kranken, psychisch bedürftigen Elternteil zu kümmern".Sie bittet eine Freundin aus der Nebenortschaft, ihre damals 15-Jährige aufzunehmen, und lässt sich in ein Spital einweisen, das eben eine psychotherapeutische Station aufbaut. Dort habe man sie "medikamentös gut eingestellt" und mehrfach nach Suizidgedanken gefragt, sagt sie. Ende Oktober ist sie wieder zu Hause.

Einatmen. Ausatmen. Blätter zählen. Gedanken bändigen.


Ein paar Wochen vergehen. Plötzlich ist der "Suiziddruck" wieder da, "anders und stärker, als ich es gekannt habe". M. sagt, sie habe sich damals an ein länger zurückliegendes Gespräch mit einer Ärztin aus dem Bezirk erinnert. Die Neurologin hatte ihr zu verstehen gegeben, dass Kinder von Elternteilen, die sich das Leben nehmen, nie aufhören, an der Wunde zu leiden, dass die Liebe von Vater oder Mutter zu ihnen nicht roß genug war, um zu bleiben. Einen "besseren Grund zu leben" konnte sie nicht finden. So habe sie sich in jenem Herbst-am Küchentisch sitzend, zum Fenster auf den Baum im Garten hinausschauend-von einer Stunde zur nächsten gebracht. Einatmen. Ausatmen. Blätter zählen. Gedanken bändigen: "Nein! Ich habe mich entschieden! Ich tue es nicht!" Je enger es wird, desto kleiner werden ihre Schritte. Eine halbe Stunde noch. Eine Viertelstunde.

Bei der Entlassung aus dem Spital war sie in guter Verfassung gewesen. Woher kam diese wochenlang dauernde suizidale Wucht? "Jede Woche hat sieben Tage. Jeder Tag hat 24 Stunden. Das war der Marathon meines Lebens",sagt M. Sie steht auf, um ein Taschentuch zu suchen. Dann sagt sie: "Irgendwann bin ich aufgewacht, habe zum Fenster hinausgeschaut, und es war-nichts." Als hätte jemand mit den Fingern geschnippt. Vorbei! Die Ärztin, der sie hinterher von diesem Tief berichtete, das so unvermittelt anfing und ebenso endete, hielt es für eine Nebenwirkung des "medikamentösen Einschleichens".Warum sie nicht gleich Hilfe geholt habe, wollte sie wissen. "Ich war verstummt",antwortete M. Nach einigen Jahren setzte sie das Medikament vorsichtig ab. Es ging ihr lange gut. Knapp vor der Pandemie erlitt M. einen Herzanfall, "dann kamen Corona und andere blöde Sachen".Inzwischen konnte sie die Zeichen eines Rückfalls rechtzeitig lesen. Der Arzt, dem sie von ihrer Anspannung berichtete, verschrieb ihr "etwas Leichtes"-,"und das passt jetzt".

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"Diesen Schmerz kriegen Hinterbliebene nicht mehr aus dem Herzen."

Seit mehr als zehn Jahren hat M. einen Partner in Wien, der "die Augenhöhe sucht", "unglaublich feinfühlig" sei und selbst an einer schweren Last trage. Seine Tochter war mit 18 Jahren auf tragische Weise ums Leben gekommen. Mehr soll davon nicht die Rede sein. Er habe lange darum gerungen, mit dem Verlust leben zu können. Fallweise hole der Schmerz ihn ein, "dann stehe ich ohnmächtig daneben, wenn er leidet wie ein Tier",sagt M. Sie würde gerne "jedem, der daran denkt, sich das Leben zu nehmen, klarmachen, was für einen radikalen Schmerz er seinen Hinterbliebenen zufüge. Den kriegen sie nicht mehr aus dem Herzen. Vielleicht ein Leben lang." Pause. "So ist es."

Ähnliches erzählte M., wenn sie im Rahmen der EU-weiten "Alliance against Depression" mit Psychiatern und Sozialarbeitern durch die Region tourte. "Das Reden gelernt" hat sie auf der psychosomatischen Station in Eggenburg, wo man nicht nur auf ihre Krankheit, sondern auch auf die seelischen Ursachen geschaut habe. Später praktizierte sie es in Selbsthilfegruppen. In einer Runde aufmerksamer Zuhörer laut zu denken-und die Stille auszuschöpfen, die sich danach ausbreitet-,fördere mitunter "auch für sie selbst überraschende Gedanken und Erinnerungen zutage". M. gewöhnte sich an, sie zu notieren, "damit ich nicht vergesse, was ich aus mir herausbekommen habe".Noch hilfreicher sei es, anderen zuzuhören: "Da ist man nicht ganz so nahe bei sich, sondern reflektiert wie im Spiegel: Wie wäre das bei mir?"

Oberstes Gebot: Vertraulichkeit

Ihre erste Selbsthilfegruppe fand M. beim Landesverband für Psychotherapie in St. Pölten. Am Land, wo Menschen hinter den Gardinen lauern und jemandes psychische Probleme Stoff für Dorftratsch liefern, finden Treffen meist im privaten, geschützten Rahmen statt. Vertraulichkeit gilt als oberstes Gebot. Alles, was hier erörtert wird, landet in einer imaginären großen Schüssel, auf die am Ende des Treffens ein Deckel kommt. Geöffnet wird sie erst beim nächsten Termin. Außerdem gilt: Über Abwesende wird nicht gesprochen. Jeder teilt M. Erfahrungen. Nachfragen ist erlaubt, ungebetene Ratschläge sind tabu. Hilfe zur Selbsthilfe bestehe vor allem darin, einander das Ohr zu leihen, so M., sie ersetze nicht die Arbeit an sich selbst: "Eine Selbsthilfegruppe ist kein Dienstleistungsunternehmen, das einen wieder gesund macht. Man muss es selbst wollen."

Ich habe bei der Bewältigung von Krisen viel über mich gelernt, nun will ich anderen helfen.

M. sagt, sie habe bei der Bewältigung ihrer Lebenskrisen so viel über sich selbst erfahren, dass sie nun anderen helfen wolle. Sie absolvierte eine Ausbildung für Krisenintervention beim Roten Kreuz und rückte seither zahllose Male aus, um Menschen nach Todesfällen, oft durch Suizid, beizustehen. "Ist es okay, Sie zu berühren? Darf ich Ihnen den Rücken stärken?", fragt sie. Und manchmal: "Denken Sie daran, etwas gegen sich zu unternehmen?"Sie hake nach, wenn die Antwort ausbleibt: "Hallo? Schauen Sie mir einmal in die Augen!"Und nicht selten entscheidet sie: "Ich bleibe da. Mir ist das wichtig."

"Hallo? Wie schaust du drein? Kann ich dir helfen?"

Je stärker der Sog der "suizidalen Einengung" wird, umso mehr erstarren Betroffene, ziehen sie sich zurück, übersehen eine ausgestreckte Hand, überhören ein: "Hallo? Wie schaust du drein? Kann ich dir helfen?"Wie wichtig dieses Dranbleiben ist, erfuhr M. am eigenen Leib. Als ihr zweiter Mann sie verließ, wich eine Nachbarin ihr kaum noch von der Seite. Stundenlang hörte sich die Frau "die immer gleichen Sachen" an, obwohl sie selbst zwei schulpflichtige Kinder, einen Haushalt und eine Arbeit hatte, zu der sie weit pendeln musste. "Sie hat mich gerettet",sagt M. Und: "Ich bin heute unendlich froh, noch am Leben zu sein."

Hilfe bei Krisen

Österreichische Telefonseelsorge (0-24 Uhr, kostenlos unter 142), online unter: telefonseelsorge.at

Psychiatrische Soforthilfe (0-24 Uhr, 01/31 330), online unter: psd-wien.at

Kindernotruf (0-24 Uhr, 0800 567 567) Rat auf Draht (0-24 Uhr, 147), online unter: rataufdraht.at

Kriseninterventionszentrum  (Montag bis Freitag 10-17 Uhr, 01 406 95 95), anonyme E-Mail-Beratung (kriseninterventionszentrum.at)

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges