Kinder werden von kurdischen Truppen aus einem IS-Gebiet evakuiert (2019). Zu ihrem Schutz durften die Rückkehrer-Kinder, um die es in der aktuellen Geschichte geht, weder besucht noch fotografiert werden.
Aufgewachsen beim IS: "Ich habe genau gesehen, wie man ihn geschlachtet hat"

Kinder des IS: "Ich habe genau gesehen, wie man ihn geschlachtet hat"

Acht Kinder aus Österreich lebten 15 Monate in Raqqa, der Hauptstadt des IS. Vor drei Jahren kehrten sie zurück. Was wurde aus ihnen?

Drucken

Schriftgröße

Das Haus am Waldrand, in dem der Geist des IS wehte, ist längst verkauft. Hier, in Wettmannstätten, südlich von Graz, lebte bis vor fünf Jahren Enes S. mit seiner Frau, seinen zwei Töchtern und drei Söhnen, völlig abgeschieden vom Rest der Gemeinde, räumlich wie ideologisch.

Der Kriegsflüchtling aus Bosnien führte in der Kleingemeinde das Leben eines strenggläubigen Muslims. Beruflich versuchte er sich als selbstständiger Spengler und Tischler. Seine Frau, Michaela S., war zum Islam konvertiert und unter den Schleier geschlüpft. Der Kindergartenpädagogin verweigerte S. den Handschlag. Seine Tochter fiel auf, weil sie gegenüber Mitschülern den zehnten Geburtstag gar so leidenschaftlich herbeisehnte - jenen Tag, ab dem sie Kopftuch tragen werde. "Sonst unauffällig und nicht aggressiv" sei S. gewesen, fasst Bürgermeister Peter Neger seine Erinnerungen zusammen. Selbst Schüsse hätten im 200 Meter entfernten Nachbarhaus keinen Verdacht geweckt. Denn S. war passionierter Jäger, nahm an Jagdgesellschaften teil und übte sich im Zielschießen. Mit wem sie es die ganze Zeit über zu tun hatten, wurde den Ortsbewohnern erst bewusst, als die Cobra kam. Das war im Frühling 2015. Beamte des Einsatzkommandos durchkämmten das Grundstück, stellten das Haus auf den Kopf und suchten mit Spezialgeräten nach Sprengstoff. Der Kleintierbestand, den die Familie S. hielt, war weg, das Auto verkauft, die Familie über alle Berge. Enes S. hatte sich entschieden, seine Familie dorthin zu schleusen, wo er kein Außenseiter, sondern Teil einer neuen islamischen Gesellschaft sein konnte. Von Wettmannstätten ging es ins syrische Raqqa, die Hauptstadt des sogenannten "Islamischen Staates" (IS). Und Michaela S. spielte mit.

Heute ist der 39-jährige S. wieder in Österreich und tief gefallen. Er sitzt, 20 Kilometer von Wettmannstätten entfernt, in Graz im Gefängnis, zusammen mit Michaela S., Hasan O. und Katka O., einem zweiten Paar mit drei Kindern. Im April 2016 waren die vier Österreicher bosnischer Herkunft mit ihren insgesamt acht Kindern in einer Geheimaktion aus der Türkei nach Österreich zurückgekehrt.

Vor drei Wochen forderte US-Präsident Donald Trump Europa auf, eigene Staatsbürger aus den Gefangenenlagern der befreiten IS-Gebiete zurückzuholen. Seither grübeln die EU-Staaten über den richtigen Umgang mit "ihren" Dschihadisten. Die Stoßrichtung Österreichs ist seit vergangener Woche klar: Jegliche konsularische Rückkehrhilfe, die Familie S. und O. noch genossen, ist gestrichen. Weder Männer, Frauen noch Mütter sollen ins Land zurückkommen dürfen - nur Kinder. Und was dann? In dieser Frage sammelt Österreich seit drei Jahren Erfahrungswerte wie kaum ein anderes Land.

Das überstieg alle vorherigen Krisenfälle

"Es war ein sonniger Tag im Frühling 2016, als der Anruf kam", erinnert sich der 51-jährige Helmut Sixt. Er leitet in Graz die Sozialarbeit im Amt für Jugend und Familie. Die Polizei informierte ihn lapidar, dass acht Kinder von IS-Rückkehrern Betreuung nötig hätten. "Das überstieg alle vorherigen Krisenfälle", sagt Sixt. Das gesamte sechsköpfige Team des Bereitschaftsdienstes wurde aktiv, schob Sonderschichten, klärte rechtliche Fragen, suchte Krisenpflegeeltern und bereitete den Empfang vor.

Als sie die vier Burschen und vier Mädchen im Alter von vier bis 13 Jahren schließlich in der Grazer Polizeistube abholten, deuteten weder Kleidung noch Verhalten auf die Flucht aus einem Terrorzentrum hin. Denn die Kinder waren nach der Abreise aus Raqqa drei Monate in einem türkischen Kinderheim untergebracht worden, während die Eltern in türkischer Haft saßen. Anders als bei Krisen-Kindern aus Graz und Umgebung fehlte die Vorgeschichte. Die Eltern der acht schieden als Recherchepartner aus, denn alle vier wurden von Wien-Schwechat direkt ins Grazer Gefängnis überstellt. "So konnten wir nicht einmal in Erfahrung bringen, welche Gewohnheiten die Kinder haben, was sie gerne essen, ob sie ein Lieblingskuscheltier haben - noch hatten wir Informationen über ihre psychische Befindlichkeit." Die Erlebnisse in Raqqa hingen ab sofort wie ein dunkles Fragezeichen über den spielerischen Kontakten. Was half: Alle Kinder sprachen perfekt Deutsch, selbst die Vierjährige.

Der generelle Notfallplan unterschied sich nicht von anderen Fällen: den Kindern so viel Stabilität und Normalität wie möglich zu bieten. Das hieß: Die Geschwister sollten unbedingt zusammenbleiben. Doch welche Krisenpflegefamilie würde drei oder gar fünf Kinder aufnehmen? Und welche nicht vor dem Wort IS zurückschrecken? "Das war eine Riesenherausforderung. Es war von Anfang an entscheidend, die Ängste, die der Begriff auslöst, ernst zu nehmen", sagt Sixt. Die Übung gelang - wenn auch zunächst mit Rückschlägen: Eine Pflegefamilie sprang zwei Stunden vor der Übernahme ab. Die Geheimaktion war in einem Medium reißerisch aufbereitet worden. Dennoch hielt der Plan, bis Herbst fixe Pflegeeltern und einen Schulplatz für die acht Kinder zu finden. Die drei Kinder von Hasan und Katka O. kamen bei Pflegeeltern unter, die keine weiteren Pflegekinder hatten. Die fünf Kinder von Enes und Michaela S. lebten fortan bei der Schwester der Mutter.

Einer echten Normalität war in den ersten Monaten ein Riegel vorgeschoben, denn die Kinder sollten im Prozess gegen die Eltern aussagen - als Hauptbelastungszeugen. Als die Schulferien begannen, standen die Kinder Beamten des Verfassungsschutzes Rede und Antwort, in kindergerechter Atmosphäre mit einem vertrauten Sozialarbeiter am Tisch.

Nach Abschluss der Einvernahmen durften die Kinder die Eltern besuchen. Im Familienzimmer der Justizanstalt. "Die Kinder haben das Recht, inhaftierte Eltern zu sehen. Die Trennung von den Eltern allein ist noch keine Lösung", sagt Sixt. Entscheidend sei, eine Retraumatisierung auszuschließen. Tatsächlich beschränkten die Sozialarbeiter, die bei den Besuchen anwesend waren, die Kontakte zu einem der Elternpaare. Den anderen Kindern taten die Elternbesuche merklich gut.

Da hab ich dann genau gesehen, wie man ihn geschlachtet hat

Wie kuriert man eine Kinderseele nach 15 Monaten IS? "Mit Normalität und Stabilität. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass die Kinder ständig beim Psychologen sind", sagt Sixt: "Wir ziehen Psychologen im Anlassfall und zu bestimmten Fragestellungen hinzu." Es bringe auch nichts, sich Raqqa wie die Hölle auf Erden vorzustellen. "2015 erlebte das IS-Kalifat seine Hochblüte. So schräg das klingt: Die Kinder haben auch Positives erlebt. Die Bomben schlugen ja noch weit entfernt ein." Das unterscheidet ihr Schicksal von den heutigen Dschihadisten-Kindern, die bis zum letzten Schuss im Kriegsgebiet verharren.

Am 3. Juni 2017 berichteten die Kinder schließlich von ihren Erlebnissen in Raqqa – im Prozess gegen die Eltern am Grazer Straflandesgericht. Die angeklagten Väter waren glatt rasiert, die Mütter saßen ohne Schleier mit offenem Haar auf der Anklagebank, umringt von zwölf maskierten Polizisten. Die Kinder waren nicht im Saal. Ihre Aussagen wurden per Video zugespielt. Der damals siebenjährige Sohn von Enes S. erzählte: "Ich bin von der Moschee heimgegangen. Da hat man einen Kurden eingefangen. Und da hab ich dann genau gesehen, wie man ihn geschlachtet hat." Der Kleine erinnerte sich an den Aufruf per Lautsprecher, wer den Kurden töten wolle, an den Freiwilligen mit dem Messer, das Flehen des Opfers ("Noch eine Minute!"), das Absäbeln des Kopfes, der auf den Rücken des Toten gelegt wurde - und an den Müllhaufen, auf dem solche Körper landeten. Sein Vater habe daheim ein "Sniper-Gewehr" gebunkert und "die Neuen" zu Scharfschützen ausgebildet, sagte er weiter aus.

Ein Sechsjähriger stellte gegenüber einer Betreuerin die IS-Propagandavideos nach, die zu Hause oder auf öffentlichen Leinwänden in Dauerschleife liefen. Mit einem Kamm säbelte er am Hals eines Teddybären herum. Die Eltern gaben zu, ihre Kinder solchen Bildern ausgesetzt zu haben. Beim Abspielen eines typischen IS-Gräuelvideos verließ ein Verteidiger den Saal. Ein weiterer Bub erzählte von seiner Pistole und Handgranate, die ihm sein Vater für den "Notfall" zugesteckt habe. Die Mädchen von sieben bis elf durften das Haus nur voll verschleiert, mit Sehschlitz und Handschuhen verlassen. "Wie heiß war es?", fragte der Richter. "40 Grad", sagte eine Mutter und redete sich auf die Scharia-Polizei aus.

Es ist schwer, Dschihad-Rückkehrern konkrete Straftaten bis hin zum Mord nachzuweisen. Deshalb zögern EU-Länder, IS-Terroristen zurückzunehmen und ihnen den Prozess zu machen. Das konkrete Bild, das die acht Kinder von ihrem Leben in Raqqa zeichneten, handelte den Eltern Haftstrafen zwischen acht und zehn Jahren ein. Neben der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung wurde ihnen das Quälen und Vernachlässigen von Kindern angelastet. Enes O. fasste mit neun Jahren und neun Monaten die höchste Strafe aus, wegen der Ausbildung für terroristische Zwecke als Zusatzdelikt. Kaum einer der 125 Dschihadisten, die seit 2014 in Österreich verurteilt wurden, hatte ein härtere Strafe zu gewärtigen.

Sobald die Urteile rechtskräftig sind, werden die Männer und Frauen in verschiedene Haftanstalten gebracht. Ihre Eltern können die Kinder nur noch getrennt sehen. Die einen werden erst zehn oder elf sein, die anderen volljährig, wenn Mama und Papa freikommen. Die Chancen stehen gut, dass die Eltern es dann mit stabilen, gut integrierten Kindern zu tun haben. "Man muss sagen, alle acht entwickeln sich sehr gut", sagt Sixt. Fast alle würden die für ihr Alter entsprechende Schulstufe besuchen. Religion sei kein besonderes Thema. Ein Mädchen tanzte bereits ein Jahr nach der Rückkehr HipHop, was ihr im alten Leben streng verboten gewesen wäre.

Diese Kinder sind Opfer, keine Täter.

In den Kindergärten und Schulen lief es nicht nur rund. Zwar waren die Kinder angehalten worden, die Vorgeschichte ihrer Eltern nicht preiszugeben. Eingeweiht waren Direktoren, Betreuer und Klassenlehrer. Durch Tratschereien in einem Kindergarten hatten andere Eltern dennoch mitbekommen, mit wem es ihre Kinder täglich zu tun hatten. Die aufkommende Panik konnte Mithilfe eines psychologischen Dienstes aber rasch eingefangen werden. "Wir haben den Eltern erklärt:,Es geht um Kinder, die unsere Unterstützung benötigen. Diese Kinder sind Opfer, keine Täter.' Und das wirkte", erinnert sich Sixt.

"Wir haben keine Erfahrungswerte, was mit diesen Kindern passiert", versuchte der Staatsanwalt beim Prozess vor zwei Jahren die Tragweite des Vergehens der Dschihad-Eltern zu umreißen. Das stimmt heute nicht mehr ganz. Für die acht Kinder scheint zumindest die erste Etappe der Rückkehr bewältigt.

2016 erfuhr Clemens Neuhold aus Verfassungschutzkreisen erstmals von der geplanten Rückkehr der Familien. Die Rekonstruktion ihrer Geschichte fußt auf Gesprächen mit dem leitenden Sozialarbeiter, dem Bürgermeister von Wettmannstätten, Recherchen bei der Justiz, Polizei sowie auf den medienöffentlichen Prozessen.

Lesen Sie auch:

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.