Schuldenfaktor Wohnen: Tausenden Menschen drohte 2023 der Rauswurf
Noch nie waren Wohn- und Lebensmittelkosten so hohe Schuldentreiber wie jetzt.
„Das ist alarmierend“, sagt Clemens Mitterlehner. Er ist Geschäftsführer der Dachorganisation der staatlich anerkannten Schuldenberatung (ASB Schuldenberatungen GmbH). Bei einer Pressekonferenz am Montag zieht er Bilanz über die Schuldenberatungen im vergangenen Jahr. Die Lage, so Mitterlehner, sei „außergewöhnlich“.
Im Jahr 2023 haben 60.539 Menschen Unterstützung bei einer der 69 Beratungsstellen gesucht – das sind acht Prozent mehr als im Jahr davor. Im Gespräch mit profil zeigt sich Mitterlehner besorgt, dass Kosten von Energie, Mieten und Lebensmittel heuer gar zu noch mehr Verschuldungen führen könnten. Mehr als 7200 Menschen (12 Prozent der Erstberatenen) gaben Wohnungs- oder Lebenserhaltungskosten als Grund für ihre Verschuldung an. Dahinter stecken laut Mitterlehner die Teuerungen aufgrund von multiplen Krisen – angefangen mit der Corona-Pandemie.
Zwar gibt es in Österreich noch keine Daten darüber, wie viele Menschen verschuldet sind, einen Richtwert stellt jedoch die Zahl der Schuldenberatungen dar. 21.645 Menschen hatten sich 2023 zum ersten Mal an eine Hilfsstelle gewandt. Das sind 17 Prozent mehr Erstkontakte als 2022.
Wieder mehr Delogierungen
Wer seine Wohnung über längere Zeit hinweg nicht mehr bezahlen kann, dem droht die Räumung. 2023 wurden 10.307 Räumungsexekutionsanträge gestellt, davon wurden 4402 Räumungen durchgeführt. In den Zahlen, die das Justizministerium erhoben hat, sind jedoch sowohl gewerbliche als auch private Mietobjekte erfasst. Eine Differenzierung ist laut Ministerium nicht möglich.
Im Vergleich zu 2019 wurden im Vorjahr weniger Exekutionsanträge gestellt – und somit auch weniger Räumungen durchgeführt. Dennoch: Räumungsklagen und Delogierungen steigen wieder deutlich an – das Niveau vor Corona wurde aber noch nicht erreicht. Das liegt daran, dass Menschen während der Pandemie nicht aufgrund von Mietrückständen aus den Wohnungen geworfen werden konnten.
Mittlerweile wurde diese Regelung wieder aufgehoben. Clemens Mitterlehner ist überzeugt: Der mit 224 Millionen Euro dotierte Wohnschirm des Sozialministeriums fängt viele Fälle ab, ansonsten wären die Zahlen deutlich höher.
Mehr als die Hälfte der Räumungsanträge wurden gerichtlich abgelehnt. Viele Vermieter klagen schnell „pro forma“, weiß etwa die Mietervereinigung. Zahlreiche Fälle seien vor Gericht zu klären. Bei Mietzinsrückständen könnten auch Fehlbuchungen dahinter stecken – oder die Betroffenen begleichen ihre Schulden doch noch rechtzeitig vor einer Delogierung. Wer also die gefürchtete Klage erhält: „Den Brief aufmachen und Rechtsberatung in Anspruch nehmen“, rät ein Sprecher.
Forderungen gegen Schuldenspirale
„Wir wissen aus verschiedenen Krisen – sei es Hochwasser, COVID oder die Wirtschaftskrise – dass sie mit bis zu zwei Jahren Verzögerung in der Schuldenberatung aufschlagen“, sagt der ASB-Geschäftsführer im profil-Gespräch. Das liegt daran, dass Betroffene im Regelfall zuerst versuchen, das Problem selbst zu lösen: Sie bitten Verwandte um Hilfe oder überziehen das eigene Konto. „Aber irgendwann sind diese Möglichkeiten ausgeschöpft – vor allem, wenn man kein großes soziales Netz hat.“
Nicht bezahlte Schulden verdreifachen sich in der Regel binnen acht Jahren, so Mitterlehner: Nicht nur durch den Schuldenbetrag selbst, sondern durch Zinsen, Gerichtskosten und Inkassokosten. „Wir fordern daher, dass sich Schulden maximal verdoppeln dürfen.“
Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) stimmt Mitterlehner beim Pressegespräch zu, dass in den kommenden Jahren Reformen nötig seien. Um Armut zu verhindern, plädiert er für eine Kindergrundsicherung und eine Mindestsicherung anstelle der bestehenden Sozialhilfe. Auch eine Anhebung des Existenzminimums befürwortet er.
Schuldenquote soll bis Jahresende erhoben werden
An weiteren Reformen während dieser Legislaturperiode zweifelt er. Rauch kritisiert dabei den „stärkeren“ Koalitionspartner ÖVP, zu wenig gegen die Armut einzelner Personen zu unternehmen. Wenn Unternehmen in einer schwierigen finanziellen Lage seien, würden die Ursachen („schlechte Marktlage“) anerkannt werden. „Bei Privatpersonen werden die strukturellen Probleme vergessen.“ Bis Jahresende soll jedoch erstmals erhoben werden, wie viele Menschen in Österreich verschuldet sind. Zudem will der Sozialminister vor dem Sommer eine Bildungskampagne gegen Verschuldung starten – mithilfe von Info-Videos.