Gewalt an Wiener Schulen
Interview

Schulpsychologe über Gewalt an Schulen: „Suspendierung sollte kein Stigma sein“

An Wiener Schulen gibt es immer mehr Suspendierungen: Der Schulpsychologe Niels Dopp erzählt von falschen Influencer-Vorbildern, Null-Toleranz-Strategie an Schulen und was das neue Gewaltschutzpaket bringt.

Drucken

Schriftgröße

Im vergangenen Schuljahr gab es in Wien 814 Suspendierungen von Schüler:innen und 528 Anzeigen, die Suspendierungen haben sich zum Vorjahr fast verdoppelt und die Anzeigen verdreifacht. Warum kommt es zu dieser Eskalation an den Schulen?
Niels Dopp
Das hat ganz unterschiedliche Gründe. Zum einen stoßen Schulen an den Rand ihrer Möglichkeiten, wenn Kinder und Jugendliche mit keinen oder schlechten Konfliktbewältigungsmechanismen auf Pädagoginnen und Pädagogen treffen, die ohnehin schon sehr viel zu tun haben. Wenn diese Schüler:innen in Konflikte geraten, führt das zu Schwierigkeiten. Eine Suspendierung ist ja nie eine Strafmaßnahme, sondern eine Schutzmaßnahme – damit das ganze System ein wenig abkühlen kann.
Was sind die häufigsten Gründe für Suspendierungen?
Dopp
In den meisten Fällen geht es um Gewaltausübung. Eine verbale Entgleisung ist zwar nicht schön, verstört eine Klasse aber nicht so nachhaltig. Die steigenden Zahlen liegen auch daran, dass die Schulen vermehrt eine Null-Toleranz-Strategie bei Gewalt an den Tag legen. Es macht zwar viel Arbeit, zahlt sich aber aus, da eine klare Haltung zu zeigen.
Wird heute unter Schülerinnen und Schülern schneller zugeschlagen?
Dopp
Auch wenn Statistiken das vermuten lassen, lässt sich das nur schwer sagen. Heute ist man viel mehr auf das Thema sensibilisiert und schaut genauer hin. Als Schulpsychologe versuche ich das richtige Maß zu finden. Wenn zwei sich streiten, ist es nicht automatisch eine Form von Gewalt. Junge Menschen müssen erst lernen, wie man mit Konflikten und Meinungsverschiedenheiten umgeht.

Stimmungen stecken an – sowohl positive als auch negative. Die ganze Weltsituation, von Kriegen, Konflikten bis zur Klimawandel, das ist eine enorme Belastung für junge Menschen.

Schulpsychologe Dopp

Wie rechtfertigen die Kinder und Jugendlichen ihr Verhalten?
Dopp
Da gibt es zwei Gruppen. Die einen wissen, dass das, was sie gemacht haben, falsch war und sie in dem Moment ihren Impuls nicht kontrollieren konnten. Und dann gibt es den kleineren Teil, der es als gerechtfertigt ansieht, Gewalt ausgeübt zu haben. Bei Burschen sind es oft die falschen Vorbilder auf Social Media, die der Meinung sind, dass man nur dann ein Mann ist, wenn man sich nichts gefallen lässt und sich wehrt. Der Medienkonsum spielt eine wesentliche Rolle, welche Werte und Normen sich bei den jungen Menschen verfestigen.
Sie meinen Influencer wie Andrew Tate, die eine toxische Männlichkeit propagieren?
Dopp
Das ist ein Name, den ich leider sehr oft höre. Die Schüler rechtfertigen ihr Verhalten durch diese Influencer. Einer der schwierigsten Bereiche meiner Arbeit liegt darin, die aktuellen Typen und ihre Maschen zu kennen.
In den sozialen Medien wie TikTok wird viel über psychische Probleme, Gewalterfahrungen und Traumata gesprochen. Fällt es den Schüler:innen heute leichter, sich Hilfe zu suchen?
Dopp
Ja, aber das ist ein zweischneidiges Schwert. Die junge Generation holt sich schneller Hilfe, aber gerade in den Social Media verweilen sie oft in ihrem Zustand. Fast jeder Mensch hat mal eine depressive Episode, aber gerade durch diesen Social-Media-Fokus bauen viele Menschen psychische Erkrankungen in ihre Selbstdefinition ein. Früher waren Jugendgruppen vielleicht Skater oder Punks. Heute kann es passieren, dass man eine Gruppe hat, die sagt, wir sind die Depressiven und haben Borderline.
profil: Psychische Probleme als Lifestyle-Asset?
Dopp
Das Phänomen beobachten wir und das Problem ist, dass dadurch manchmal die, die wirklich Hilfe brauchen, nicht gesehen werden. Wir haben in Social Media einen massiven Fokus auf Erkrankungen und viel zu wenig auf Behandlungsmöglichkeiten.
Schulpsychologe Niels Dopp

Schulpsychologe Dopp: „Wir sind oft über Monate ausgebucht, weil der Bedarf so groß ist.“

Im Herbst wurde in Wien ein Gewaltschutzpaket für Schulen präsentiert, in dem es um Maßnahmen gegen Mobbing, Übergriffe oder Vandalismus geht. Was hat das bisher gebracht?
Dopp
Die Schulpsychologie hat die Schulen bei Suspendierungen schon immer unterstützt und ein Gesprächsangebot an die Eltern unterbreitet. Im Gewaltschutzpaket enthalten ist jetzt auch die Maßnahme, dass wir Eltern, die keine Hilfe annehmen wollen, bei der Jugendfürsorge melden. Wir sind Schulpsychologie und unsere Zuständigkeit endet am Schultor. Wir können Familien nicht zu Hause besuchen. Da muss es auch einen Willen auf der anderen Seite geben.
Kommt es häufig vor, dass Eltern nicht mit Ihnen reden wollen?
Dopp
Es gibt eine sehr kleine Zahl an Eltern, die keine Hilfe annehmen wollen oder können. Grundsätzlich sage ich: Es gibt keine Eltern, die ihr Kind mit Absicht so erziehen, dass es bei Konflikten in irgendeiner Form gewalttätig wird oder ausrastet. Es gibt nur Eltern, die entweder durch Überforderung oder durch Unwissenheit in der Erziehung Fehler machen.

Durch den Nahostkonflikt ist nichts neues aufgepoppt. Die Konflikte gab es auch schon davor. In den meisten Fällen sehen wir junge Menschen, die einen Konflikt haben und so behandeln wir das auch.

Niels Dopp

profil: Wie intervenieren Sie konkret bei einer drohenden Suspendierung ?
Dopp
Wir werden erst aktiv, wenn eine Suspendierung ausgesprochen wurde. Es geht um die Frage, was passiert, wenn die Suspendierung vorbei ist und die Person wieder in der Klasse ist. In den meisten Fällen reden wir zuerst mit den Schüler:innen und dann mit den Eltern oder der ganzen Familie. Danach mit der Direktion und dem Lehrpersonal. Wir schauen, dass die Schülerin oder der Schüler wieder in das System integriert werden können. Eine Suspendierung sollte kein Stigmata sein. Manchmal braucht es eine Konsequenz, damit alle zur Ruhe kommen können, man Probleme auf- und gemeinsam bearbeiten kann, um dann wieder einen gemeinsamen Schulalltag zu ermöglichen.
Was passiert bei einer Suspendierung mit Kindern oder Jugendlichen, die noch schulpflichtig sind?
Dopp
Eine Suspendierung heißt nicht, zu Hause Urlaub zu haben. Die Schüler müssen den Schulstoff dann zu Hause selbstständig bearbeiten. Dafür braucht es auch einen Austausch zwischen Lehrer:innen und Eltern. Für Familien ist das natürlich eine Belastung, wenn ein Kind zu Hause beaufsichtigt werden muss …
… ist das nicht problematisch, wenn das eventuell Familien trifft, die sich ohnehin schon schwer tun, die nötige Betreuung für ihre Kinder zu gewährleisten?
Dopp
Ich weiß, dass das in vielen Fällen leider zu Problemen führt. Nur häufig sind es die kleineren Probleme, die wir dann haben. Es wäre das größere Übel, Kinder nach einer Prügelei in der Klasse zu lassen, wenn die Emotionen bei den Mitschüler:innen, Eltern und Lehrpersonal noch so hochkochen. So gibt man die Chance für einen Neustart.
Manche Schüler wurden bis zu fünf Mal in einem Jahr suspendiert. Haben Sie für diese Schüler:innen überhaupt die nötigen Ressourcen?
Dopp
Wir reden hier von drei Schülern, die so oft suspendiert werden mussten. In solchen Fällen müsste man von der Beratung in die Behandlung wechseln, was aber in der Schulpsychologie nicht möglich ist. Wir können die Schulen unterstützen, die Jugendfürsorge oder das Jugendamt einschalten, Angebote an die Familien geben, wo es weitere Hilfe geben kann.
Wie sensibilisiert man Schüler:innen, sich psychologische Beratung in Anspruch zu nehmen?
Dopp
Das ist der einfache Teil der Arbeit. Wir sind oft über Monate ausgebucht, weil der Bedarf so groß ist. Das funktioniert am besten, wenn wir in den Schulen präsent sind, wenn man am Beginn des Schuljahres durch die Klassen geht, sich vorstellt und die Schüler:innen wissen, mit wem sie es zu tun haben.
profil: Warum steigt der Bedarf an psychologischer Beratung so enorm?
Dopp
Das sind mannigfaltige Gründe. Social Media hat einen Anteil. Wir wissen: Stimmungen stecken an – sowohl positive als auch negative. Die ganze Weltsituation, von Kriegen, Konflikten bis zur Klimawandel, das ist eine enorme Belastung für junge Menschen. Und wenn man sich gar nicht mehr mit positiven Dingen beschäftigt, weil der Algorithmus einem nichts mehr anderes zeigt und auch der Freundeskreis über nichts anderes redet, bleibt man in einer negativen Blase.
Hat sich die Situation seit der Corona-Pandemie nochmal verschärft?
Dopp
Ja, definitiv. Ich habe aber mit vielen Schüler:innen gesprochen, die aus dieser Zeit komplett ohne negativen Folgen rausgegangen sind, die ein gutes Hobby, Familienleben und Ressourcen hatten. Gestrauchelt haben die Schüler:innen, die diese Zugänge nicht hatten. Die Jugendlichen, die davor schon Hilfe benötigt hätten, haben drei prägende Jahre verloren.
In den letzten Jahren sind viele Schüler:innen aus der Ukraine nach Österreich gekommen. Mit welchen Themen kommen diese Kinder zu Ihnen?
Dopp
Bei einer schweren Traumatisierung können wir nur eine Erstabklärung machen. Ein Besuch alle zwei Wochen beim Schulpsychologen kann das nicht aufarbeiten. Das wäre so, als hätte ein Arzt für eine schwere Herzoperation nur eine halbe Stunde Zeit. Für diese Kinder versuchen wir schnellstmöglich entsprechende Unterstützung zu organisieren. Aber natürlich kommen Schüler:innen aus Kriegsgebieten auch mit normalen Schulproblemen zu uns.
Seit dem 7. Oktober und dem Krieg in Nahost kam es auch an Österreichs Schulen zu antisemitischen Vorfällen. Wie nehmen Sie das als Schulpsychologe wahr?
Dopp
Ich würde die Vorfälle jetzt nicht hochstilisieren. Durch den Nahostkonflikt ist nichts neues aufgepoppt. Die Konflikte gab es auch schon davor. Es gibt bei diesem Thema eine große Sensibilisierung seitens der Schulen und der Medien. In den meisten Fällen sehen wir junge Menschen, die einen Konflikt haben und so behandeln wir das auch.
Im Zuge der Ergebnisse der PISA-Studie wurden von Bildungsexpert:innen vor allem auch so genannte multiprofessionelle Teams gefordert, die aus Sozialarbeitern, Erstsprachen-Lehrer:innen, Elternberatung und Schulpsychologen bestehen. Sollte die Schule heute mehr sein als bloße Wissensvermittlung?
Dopp
Schule ist ein Ort der Bildung. Viele Schüler:innen, die mit Problemen zu kämpfen haben, brauchen die Schule als strukturierten Ort der Normalität. Ich gehe auch zur Arbeit und wenn ich krank bin, gehe ich zum Arzt daneben. Schule ist mehr als reine Wissensvermittlung, aber darf nicht alles werden, sonst verlieren wir das eigentliche Ziel aus dem Fokus.

Zur Person

Der gebürtige Deutsche Niels Dopp arbeitet seit elf Jahren als Schulpsychologe und leitet das Referat für AHS-Schulen in Wien. Der Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe arbeitet an zwei Schulen im 15. und 6. Wiener Gemeindebezirk. 

Philip Dulle

Philip Dulle

1983 in Kärnten geboren. Studium der Politikwissenschaft in Wien. Seit 2009 Redakteur bei profil. Hat ein Herz für Podcasts, Popkultur und Basketball.