Sebastian Kurz im Rahmen der "Kurz im Gespräch"-Tour in Altenberg bei Linz
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Sebastian Kurz und die Neuwahlen 2019: Beginn einer Dienstfahrt

Im Juli 2019 tourt Sebastian Kurz durchs Land und wird von der ÖVP-Klientel wie ein Popstar gefeiert. Trotzdem braucht Europas jüngster Altkanzler dringend einen neuen Hit, denn das Thema Migration interessiert die Bauern, Unternehmer und Ehrenamtlichen kaum noch. Szenen aus einem Nichtwahlkampf.

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Dieser Artikel erschien erstmals in profil 26/2019 vom 23.6.2019

 

 

Selbst der Polizei-Begleitschutz findet nicht auf Anhieb hin: Mitten auf einer Großbaustelle, am Ende einer staubigen Schotterstraße am Ortsrand von Puch, einer 4600-Einwohner-Gemeinde 20 Tauernautobahnminuten von der Stadt Salzburg entfernt, steht die Zentrale des Hilfswerks. Am Dienstag nach Pfingsten grüßt und charmiert sich Sebastian Kurz durch das Gebäude. Ein freundliches "Hallo" und saloppes Du-Wort hat er für alle parat. "Seid ihr in Pflegeausbildung?", fragt er verdutzte Pflegeschülerinnen. "Was meinst du genau mit Berechnen?", erkundigt er sich bei einer Pflegeleiterin, die über den Kostenschlüssel klagt. Kurz gibt sich unprätentiös, leutselig, demonstrativ auf Augenhöhe: Im Sitzungssaal sind zitronengelbe Sessel aufgereiht, Kurz nimmt nicht auf dem vorbereiteten Podium Platz, sondern stellt sich leger an die Wand. Vorteil: Das wirkt lockerer. Nachteil: Manche Pflegerinnen sitzen hinter dem Fotografenpulk und sehen den Stargast nicht. Das ÖVP-nahe Hilfswerk ist die erste Station einer Wahlkampftour, die offiziell keine sein soll. Das neue Format erfordert Übung; bei späteren Terminen wird Kurz Fotografen und Kameraleute nach hinten komplimentieren.

Der politische Ausnahmezustand erzwingt Flexibilität. Kurz ist der jüngste Altkanzler Europas, durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Seit 1987 regierte die ÖVP durchgehend mit; Kurz ist der erste ÖVP-Obmann seit über drei Jahrzehnten, der nicht als Minister, Vizekanzler oder Kanzler wahlkämpft. Flugs versuchte Kurz, aus der Abwahl einen Trumpf zu machen, und startete vor allen anderen Parteien eine Wahlkampfreise. Drei Bundesländer in drei Tagen, keine großen Hallen, kleine Ortstermine. Überall stößt Kurz auf Sympathie, sein Vorsprung in Umfragen spiegelt sich, überall erlebt man einen Populären, der nach einer neuen Rolle sucht.

Für streng durchgetaktete Message-Control-Auftritte fehlte die Zeit, die Tour entstand schnell, weshalb Kurz im Live-Versuch Textbausteine testet . Grödig bei Salzburg, ein Trupp Feuerwehrleute und Bergretter genießt es, aus erster Hand über Ibiza-Wirren informiert zu werden. Sie fachsimpeln mit Kurz, warum "ein intelligenter Mann" sich die Politik antue. Kurz: "Es ist wunderschön zu gestalten, wenn dir Geld nicht wahnsinnig wichtig ist." Stirnrunzeln bei der Feuerwehr, ein Kanzler verdient immerhin 22.000 Euro monatlich. Man wird das Bonmot in den kommenden Tagen nie mehr hören. Nächste Frage. Wie geht es Kurz denn so? Er berichtet vom Schock über das Video, von den Konsequenzen seiner Abwahl. Er war mit Freunden am Berg, seine Freundin kam von der Arbeit nach Hause. "Sie hat erstaunt gesagt: Du bist da, wenn ich heimkomme? Dann hat sie gefragt: Wirst du jetzt immer daheim sein, wenn ich heimkomme?" Schallendes Gelächter. Diese Anekdote wird man noch oft hören, am Abend in Seekirchen, auch in Ober- und Niederösterreich. Im Wahlkampf 2017 erzählte Kurz gern von seinem Vater, jetzt von der Freundin.

Wenn das Landeskriminalamt St. Pölten feiert, geht es in den Keller: Holzbänke, Senf aus zwei Liter-Dosen, Bier um drei Euro, prostende Polizisten in Uniform. Kurz geht durch die Garage, drei Sätze für alle, mehrere daußen für Kameras. Oe24.TV stellt knallharte Fragen wie: "Sie waren vorgestern in Salzburg, heute in Niederösterreich. Überall machen Sie gute Figur, wie schaffen Sie das?" Wer wie Kurz Stammgast in Boulevardmedien ist, kann sich an Jubelberichterstattung gewöhnen. In Oberösterreich kanzelt er einen ORF-"Report"-Journalisten ab: "Ich verstehe Ihre Frage nicht." Und: "Sie finden vielleicht gut, dass ich abgewählt wurde." Der ORF-Mann hatte sich erdreistet, nach Finanzierung des Wahlkampfs und Abwahl zu fragen.

"Kurz im Gespräch" heißt die Tour, am häufigsten trifft der ÖVP-Chef auf ÖVP-Klientel und Funktionäre. Nur wenn sie rennen, läuft ein Wahlkampf nach Plan. Dass die Landjugend in Niederösterreich mit ihren 19.000 Mitgliedern zu mobilisieren vermag, hat sie im EU-Wahlkampf bewiesen und Landjugend-Leiter Alexander Bernhuber via Vorzugsstimmen ins EU-Parlament bugsiert. Mehrere Dutzend Landjugend-Mitglieder gruppieren sich in St. Pölten, im Innenhof der Landwirtschaftskammer, um Stehtische mit Soletti. "Ich möchte dem Alex gratulieren", hebt Kurz an. Locker plaudert er über die Steuerreform, seine Enttäuschung über die FPÖ und radikale Tierschützer, die vor Bauernhöfen demonstrieren. Zu einem Thema fragt niemand: Migration. "Im Intensivwahlkampf brauch ich eure Unterstützung", sagt Kurz in die Runde. Das Heimspiel endet mit vielen Selfies. Auf dem Weg hinaus bittet eine Putzfrau radebrechend um ein Foto. Kurz beugt sich zu ihr und stellt ihr Handy richtig ein.

Kurz beherrscht die Kunst, beflissen-wohlerzogen aufzutreten, professionelle Freundlichkeit zu verströmen und dennoch Distanz zu wahren. Einen "Androiden" nannte ihn NEOS-Chef Mathias Strolz einmal. In der Tat wirkt er fast unheimlich kontrolliert: Frisur, Hemd und Anzug sitzen tadellos; Essen oder trinken sieht man ihn nie, Emotionen zeigen auch nicht.

Lilienfeld in den niederösterreichischen Voralpen. Ein Bergretter erzählt vom Schneemassen- Lawinen-Winter und einem tragischen Vorfall, als ein Bergretter seinen besten Freund aus der Lawine ausgrub - tot. Das wäre ein Moment für mitfühlende Worte, Kurz verzieht keine Miene und schweigt. Anderorts, in Salzburg, eilt er in raschem Tempo durch einen Kuhstall. Andere Politiker hätten sich die Gelegenheit, fotogen ein Kalb zu streicheln, nicht entgehen lassen.

Zithermusik. Sitztanz. Strickrunde, ich bin dabei! Am Eingang des Bezirksseniorenheims in Gramatstetten im oberen Mühlviertel können sich Freiwillige für Aktivitäten melden. Heute "haben alle schon auf Sie gewartet", wie eine betagte Dame Kurz versichert. Er plaudert und herzt, schüttelt Hände, geht vor einem alten Mann in die Knie. Ältere sind eine treue Fangemeinde des jungen Altkanzlers; dazu kommt neuerdings ein gewisser Mitleidseffekt. "Ihre Eltern können stolz auf Sie sein, Sie hätten Kanzler bleiben sollen", bricht es aus einer Pflegerin heraus. Dann geht es zur Sache. Eine Expertin berichtet, dass 350 Heimplätze in Oberösterreich vakant sind -dramatischer Mangel an Pflegekräften. Kurz verharrt in Aufmerksamkeitshaltung, hört zu, fragt nach. "Wir hätten als Regierung beim Thema Pflege Großes geplant", sagt er. Was, sagt er nicht.

Wals-Siezenheim, eine boomende 13.000-Einwohner-Gemeinde nahe Salzburg. Auf Holzbänken im Schatten eines Apfelbaums, sind 11 Lederhosen, 7 Schnalzer, 3 Pfarrgemeinderäte, 1 Ringerobmann, 3 Jäger und 2 Ortsbauernbundobmänner versammelt -24 Männer, 3 Frauen. Viel mehr schwarze ÖVP-Traditionsklientel geht nicht. Sie erzählen Kurz, was sie bewegt: hohe Grundstückspreise; rasante Verbauung; Klimawandel; Arbeitskräftemangel im Tourismus. Kurz versucht, sein Lieblingsthema anzubringen, fragt nach Kontrollen an der Grenze zum nahen Deutschland. Antwort: "Der Grenzstau macht große Probleme." Kurz: "Aber wenn Deutschland nicht kontrolliert, bleiben wir auf Asylwerbern sitzen." Der Bürgermeister: "Geh hear auf, Asylwerber sind ja keine mehr unterwegs." Die Wahl 2017 gewann Kurz mit dem alles dominierenden Thema Flucht-Migration-Integration. Die Stimmungslage scheint sich gewandelt zu haben, auch in der tiefschwarzen Runde unter dem Apfelbaum. Das Thema Migration taucht während der ganzen Wahlspritztour nicht auf.

In Altenberg, 18 Kilometer von Linz entfernt, residiert das Familien-Bauunternehmen Rabmer. Im Innenhof stehen einige Lehrlinge im Blaumann und viele Unternehmerkollegen an weißen Stehtischen, Kurz postiert sich mit Mikro an der Stiege. Eine Unternehmerin sagt: "Von meinen acht Lehrlingen ist einer Afghane. Wenn Sie da was machen könnten, dass er bleiben darf?" Der lokale Wirtschaftskämmerer sekundiert: "Es ist das Verständnis von den Betrieben und auch meines, dass für diese 300 Lehrlinge eine Möglichkeit geschaffen werden sollte." Immerhin herrsche Arbeitskräftemangel. In Oberösterreich findet die Initiative, ausländische Lehrlinge nicht abzuschieben, rasante Unterstützung. Kurz bleibt bei seiner Linie: "Wenn für Lehrlinge Ausnahmen geschaffen werden, was kommt als Nächstes? Ausnahmen für HTL- Schüler? AHS-Schüler? Volksschüler? Irgendwann sind wir am Punkt, wo es für alle gilt." Später wird er sagen: "Das Thema Migration spielt nicht so eine große Rolle wie 2017." Damals wurde gewitzelt, wie wenige Sekunden Kurz in jedem TV-Duell brauchte, um bei Balkanroute-Islam-Kopftuch-illegale Einwanderung zu landen. 2019 ist der Dauerbrenner von 2017 abgenutzt. Die ÖVP liegt mit großem Abstand auf Platz eins, Kurz hat Beliebtheitswerte wie ein Popstar -und braucht trotzdem einen neuen Wahlkampfhit.

"Geilomobil"-Lachnummer. Everybody's Darling als Integrationsstaatssekretär. Law-and-Border-Außenminister. Kurz hat schon drei Metamorphosen durchlaufen, mehr als andere in ihrem gesamten Politikerleben. Nun zeichnet sich die nächste Wandlung ab: Auf Plakaten wird Kurz kantiger und entschlossener dargestellt, und er sucht neue Themen. Pflege, Arbeit, Europa, Klimaschutz, politischer Islam gibt die ÖVP nach der Tour als Wahlkampfschwerpunkte aus. Das Problem: In der Flüchtlings-und Migrationsdebatte hatte Kurz klare Botschaften, für die neuen Inhalte fehlt ihm noch der Text.

Seekirchen im Wohlstandsgürtel um Salzburg. Eine Landschaft wie auf der Postkarte: Berge, glitzernde Seen. Im "Postwirt" drängen sich ÖVP- Funktionäre und lokale Honoratioren, mitten unter ihnen Susanne Riess, Vizekanzlerin unter Schwarz-Blau I. Sie will zur Politik nichts und zur FPÖ schon gar nichts sagen, ist lediglich als "Anrainerin" da. Andere reden umso lieber: "Der Klimawandel schlägt massiv zu. Wir sind die letzte Generation, die etwas dagegen tun kann. Was planen Sie?" Kurz bleibt vage, formuliert wortreich unverbindliche Sätze wie: "Kampf gegen den Klimawandel ja, aber nicht auf Kosten des ländlichen Raums. Nicht jede Idee, die gut klingt, ist auch gut." Für die Fans im Postwirt reicht das. Applaus.

Im Hafen der Industriestadt Linz liegt die Werft, mittlerweile ein Technologiedock. Hier drängen sich im fünften Stock Jungunternehmer und Startup-Gründer. Keine Krawatten im Raum, dafür teure Markensneaker und XXL-Smartphones. Die Mehrheit hier ist in Kurz' Alter oder knapp darüber und drängt auf Modernität. "Ich führe ein internationales Team. Österreich bekam das Image der Abschottung, das ist für Arbeitgeber schwierig", sagt einer. Der Mann daneben: "Die vielen Vorschriften, bei Arbeitsgesetz und so, da ist wenig weitergegangen." Kurz kontert: "Die Veränderung haben Sie mitbekommen? Die Arbeitszeit, gegen die 100.000 demonstriert haben?" Der Mann ist nicht überzeugt: "Da ist wenig passiert. Bitte mehr."

"Unser Weg hat erst begonnen", steht auf den Kurz-Plakaten. Der mutige Reformer -so stellt sich Kurz gern dar. In der Realität machte die ÖVP/ FPÖ-Koalition um echte Reformbrocken einen großen Bogen. Der letzte ÖVP-Kanzler vor Kurz, Wolfgang Schüssel, wurde auch abgewählt, weil zu viele Reformen zu viele Wähler verstörten. Diesen Fehler wollte Kurz nicht machen. Das mag Moderniesierungsfans enttäuschen, sichert aber hohe Beliebtheitswerte.

Der "Wirt Z'Bairing" platzt aus allen Nähten. Die Feuerwehr schickt die Autos auf Wiesen, Oberbairing erlebt den ersten Stau seiner Geschichte. Im kleinen Ort im Mühlviertel wird Kurz empfangen wie ein Erlöser. "Herr Bundeskanzler in kurzer Wartestellung", redet ihn ein Gast an. "Sebastian, wir wollen dich als Kanzler zurück", drängt ein anderer. "Wir alle im Saal sind hundertprozentig sicher, du wirst wieder Kanzler", sagt eine Frau. Tosender Applaus. Dann folgt, wie bei vielen Stationen der Tour, die Frage: "Wirst du leichten Herzens wieder mit der FPÖ in eine Koalition gehen?" Kurz antwortet, wie er immer antwortet: "Wir haben die Koalition nicht leichtfertig aufgekündigt, sondern weil es notwendig war. Das Ibiza-Video war das eine, die Reaktion darauf das andere." Zusatz: "Ich habe im Moment überhaupt wenig Lust auf Koalitionen." Stürmischer Applaus. Zumindest im "Wirt Z'Bairing" wäre allen eine ÖVP-Alleinregierung am allerliebsten. In der Welt außerhalb wird die heikle Frage "Mit wem koalieren?" wohl noch oft gestellt werden. Aber der Wahlkampf hat ja erst begonnen.

 

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin