Tal Silberstein

Nichts als die Wahrheit: Hat Silberstein die Wahlen entschieden?

Die profil-Enthüllungen über das Dirty Campaigning des SPÖ-Beraters Tal Silberstein bestimmten die Endphase des Wahlkampfs. Hat der Skandal die Wahlen entschieden? Ursprung, Verlauf und Folgen einer verhängnisvollen Affäre.

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"Wir sind mitten in einem Tsunami aufgewacht." So beschrieb SPÖ-Bundesgeschäftsführer Christoph Matznetter die Stimmungslage seiner Partei, nachdem enthüllt worden war, dass hinter einer üblen Facebook-Seite gegen Sebastian Kurz nicht die FPÖ, sondern die SPÖ steckte: Christian Kerns Berater und Wahlkampfstratege Tal Silberstein hatte eine Spezialeinheit aufgestellt, um den unbesiegbar erscheinenden ÖVP-Spitzenkandidaten mit schmutzigen Tricks doch noch zu biegen. Was war die Affäre Silberstein? Ein singulärer Skandal? Oder einer wie viele andere auch? Hat sie die Wahl mitentschieden? Und welche Rolle spielten die Medien dabei?

Die Affäre

In der Ausgabe vom 21. August hob "profil" drei Männer auf sein Cover. Zwei davon waren allseits bekannt: SPÖ-Chef und Kanzler Christian Kern sowie Alfred Gusenbauer, einer seiner Vorgänger in beiden Ämtern. Vom dritten Mann, Tal Silberstein, einem israelischen Politikberater im Dienste der SPÖ, gab es bis dahin keine aktuellen Fotos. Das Bild auf dem profil-Cover zeigte ihn im T-Shirt, unrasiert, mit randloser Brille. Am 14. August waren Silberstein und der Unternehmer Beny Steinmetz in Israel festgenommen worden. Es ging um den Verdacht der Geldwäsche und der Korruption.

Nichts ist schädlicher für einen Politikberater, als selbst zum Objekt einer negativen Presse zu werden. Die Coverzeile des profil lautete: "SPÖ-Debakel. Das Geheimnis des Herrn Silberstein." In der SPÖ-Zentrale reagierte man schnell, beendete das Vertragsverhältnis und spielte Silbersteins Bedeutung herunter. Der Berater habe nur "eine Nebenrolle" gespielt, erklärte Christian Kern.

Zu diesem Zeitpunkt war das größte Geheimnis von Tal Silberstein noch unbekannt.

In der Ausgabe vom 11. September berichtete profil exklusiv, dass die offizielle Werbeagentur der SPÖ ein Anti-Sebastian-Kurz-Video hergestellt hatte, das auf der üblen Facebook-Seite "Die Wahrheit über Sebastian Kurz" gelandet war, auf der gegen den ÖVP-Obmann Stimmung gemacht wurde. Die Seite zeigte Kurz beim Glyphosat-Verspritzen auf dem Acker, als Wolfgang Schüssels Marionette, als Münchhausen auf der Kanonenkugel. Vor allem brandmarkte sie Kurz als Islam-Versteher, der für "eine neue Willkommenskultur" und ungezügelten Zuzug von Migranten stehe. Garniert wurden die Beiträge mit Kommentaren von FPÖ-Sympathisanten (Kurz sei "eine billige Kopie von HC Strache") und Wahlempfehlungen für Blau. In einem Beitrag wurde Kurz sogar vorgeworfen, Teil eines "dubiosen politischen Netzwerks" des "Milliardärs George Soros" zu sein, der "die Politik nach seinen Interessen" steuere. Originalzitat aus dem profil-Artikel vom 11. September: "Soros steht seit Langem im Mittelpunkt antisemitischer Verschwörungstheorien im Internet. Aufgrund ihrer xenophoben Inhalte wird die anonyme Facebook-Site ,Die Wahrheit über Sebastian Kurz‘ eher FPÖ-nahen Kreisen zugerechnet. Was haben die SPÖ und ihr Anti-Kurz-Video damit zu tun?" Die SPÖ dementierte scharf jegliche Beteiligung an der Website. Das inkriminierte Video sei nur für den "internen Gebrauch" bestimmt gewesen.

Eine Woche später wies profil anhand von Dokumenten detailliert nach, dass Christian Kerns Behauptung, Silberstein habe in der SPÖ nur "eine Nebenrolle" gespielt, zumindest einer Irreführung der Öffentlichkeit gleichkam. Der Politikprofi war vielmehr ein Protagonist, der Umfragen durchführte, Strategien und Slogans entwickelte, Mitarbeitern der Werbeagentur und der SPÖ Anweisungen erteilte und sogar in die Erstellung der Reden von Christian Kern eingebunden war. Aus einem Anfang Oktober von der SPÖ veröffentlichten Vertrag ging hervor, dass Silberstein für seine Dienste von Oktober 2016 bis Ende September 2017 insgesamt 536.000 Dollar erhielt.

In der Ausgabe vom 2. Oktober enthüllte profil (zeitgleich auch "Die Presse") schließlich die Wahrheit über die Facebook-Seite "Die Wahrheit über Sebastian Kurz", die nicht – wie angenommen – aus der Giftküche der FPÖ stammte, sondern von einer kleinen Spezialeinheit produziert wurde, die Silberstein zusammengestellt hatte. Silbersteins Dirty-Campaigning-Profis betrieben auch eine zweite Fake-Facebook-Seite namens "Wir für Sebastian Kurz", die sich als türkise Fanpage tarnte, tatsächlich aber durch aggressive Tonalität und fragwürdige Inhalte den ÖVP-Kandidaten diskreditieren sollte. Beide Facebook-Seiten wurden intensiv beworben, um potenzielle Wähler von Kurz zu vergrämen.

Nach den Enthüllungen passierte zweierlei: Die zwei Facebook-Seiten wurden stillgelegt – und SPÖ-Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter Georg Niedermühlbichler trat zurück, nachdem er eingeräumt hatte, dass einer seiner Mitarbeiter in der SPÖ-Zentrale von den Geheimaktionen gegen Kurz gewusst hatte.

Die Schande

Zu einer aufrichtigen Entschuldigung gegenüber Sebastian Kurz und der Öffentlichkeit konnte sich Christian Kern nie durchringen, sooft er im Wahlkampf auch auf das Dirty Campaigning angesprochen wurde. Dass er Silberstein engagiert habe, sei "ein erheblicher Fehler" gewesen, lautete die Standardfloskel des SPÖ-Chefs. Als "dürre Erklärung" ohne "Format" bezeichnete dies die "Kleine Zeitung". In allen Wortmeldungen Kerns schwang mit, er selbst sei das eigentliche Opfer der Aktivitäten von Silberstein gewesen.

Als Ausputzer holte sich Kern den langjährigen SPÖ-Abgeordneten Christoph Matznetter in die SPÖ-Bundesgeschäftsstelle, der in teils aggressiven, teils erratischen Auftritten so lange eine Täter-Opfer-Umkehr betrieb, bis ein Großteil des Publikums den Überblick verlor. Dabei war die Sachlage unstrittig: Der Wahlkampfstratege der SPÖ hatte in sozialen Medien eine Schmutzkübelkampagne gegen Sebastian Kurz gestartet, die auch übelste antisemitische Hetze beinhaltete. Bezahlt wurde Silbersteins Dirty Campaigning aus dem SPÖ-Wahlkampfbudget, somit aus der staatlichen Parteienförderung.

Es handelte sich vielleicht nicht, wie vielfach kommentiert, um den schmutzigsten Wahlkampf aller Zeiten, doch er hatte eine völlig neue Qualität, weil sich das Dirty Campaigning direkt einer Regierungspartei, der SPÖ, zuordnen ließ, die für sich im Allgemeinen höhere moralische Standards beansprucht. Nichts deutet darauf hin, dass Christian Kern persönlich von der Schmutzkübelkampagne wusste. Aber er nahm durch das Engagement von Silberstein in Kauf, dass derartige Methoden hierzulande zum Einsatz kommen konnten. Das Auswahlverschulden liegt beim SPÖ-Vorsitzenden. Er trägt die politische Haftung für die Aktivitäten seines Erfüllungsgehilfen Silberstein.

Die Medien

In einem Artikel für das Hamburger Wochenblatt "Die Zeit" kritisierte der Wiener Medienwissenschafter Fritz Hausjell, "die Aktivitäten von Kern-Berater Tal Silberstein und seiner Söldnertruppe" seien "nicht durch journalistische Methoden, also durch Recherche" enthüllt worden; "das belastende Material" sei vielmehr "von politischen Akteuren organisiert und dann ausgewählten Medien auf dem Tablett serviert worden". Die "betreffenden Medien" müssten sich "den Vorwurf der Instrumentalisierung gefallen lassen".

Hauptbetroffenes Medium im Silberstein-Komplex ist das profil; kein anderes hat derart intensiv in der Causa recherchiert. Journalismusforscher Hausjell unterließ es allerdings, in der profil-Redaktion nachzufragen. Sein Befund, hinter den Silberstein-Enthüllungen steckten keine "journalistischen Methoden", ist schlicht falsch. Basis aller profil-Artikel waren Hintergrundgespräche, offizielle Anfragen, Unterlagen, Checks, Rechecks – kurz: klassische Recherche. Es gab auch nicht die eine ominöse Quelle, die – wie Hausjell behauptet – "Material" verteilte. Hinter jeder einzelnen Story steckte aufwendige Detailarbeit.

Relevant ist allein, ob die profil-Berichte der Wahrheit entsprachen.

Ernster zu nehmen ist Hausjells Vorwurf der "Instrumentalisierung". Auch andere Kommentatoren aus Medien und Politik stellten die einschlägige Fragen: Cui bono? Wem nützen die Enthüllungen? Greift das profil in den Wahlkampf ein? Zulasten der SPÖ? Aus Sicht des Enthüllers sind diese Fragen verfehlt. Relevant ist allein, ob die profil-Berichte der Wahrheit entsprachen. Dies war zweifelsfrei der Fall – beglaubigt durch den Rücktritt des SPÖ-Bundesgeschäftsführers, die Suspendierung eines SPÖ-Mitarbeiters und die öffentlichen Aussagen des Kommunikationsberaters Peter Puller, der in Silbersteins Auftrag die inkriminierten Facebook-Seiten verwaltete. (Es war ebenfalls das profil, das als erstes Medium Pullers SMS-Protokolle mit Sebastian Kurz’ Pressesprecher veröffentlichte. Und "Die Presse" publizierte das erste autorisierte Interview mit Puller, in dem dieser schwere Vorwürfe gegen den Kurz-Sprecher erhob. Beide Medien brachten damit auch Sebastian Kurz in der Causa Silberstein in Erklärungsnot.)

Natürlich wäre es aus journalistischer Sicht wünschenswert, Quellen nennen, handfeste Beweise vorlegen und verfügbare Dokumente abbilden zu können, was profil in den meisten Artikeln über Silberstein auch tat. Bei den Anti-Kurz-Facebook-Seiten war dies jedoch nicht möglich. Das bedeutet nicht, dass profil die Quelle nicht kannte. Das Magazin prüfte die Validität seiner Informationen – und schützte die Quelle. Genau so gingen übrigens auch "Süddeutsche Zeitung", "Falter" und ORF im Zusammenhang mit den Enthüllungen um die "Paradise Papers" vor. Die "Süddeutsche" schrieb dazu: "Aus Gründen des Quellenschutzes macht die SZ keine Angaben dazu, wie die Daten die Zeitung erreicht haben, wer sie übermittelt hat und wann sie übergeben wurden." Weder "Falter" noch ORF mussten sich in ihrer Berichterstattung über die "Paradise Papers" Instrumentalisierung vorhalten lassen, sondern durften sich zu Recht auf den Informantenschutz berufen. Das gleiche Recht nahm profil in der Causa Silberstein für sich in Anspruch. Qualitätsmedien – wie auch Medienwissenschafter – verlieren ihre Existenzgrundlage, wenn sie sich politisch instrumentalisieren ließen.

Ob Enthüllungen böse Schwarzgeld-Milliardäre, gute Sozialdemokraten oder, wie im Fall Peter Pilz, einen verdiente Politaufdecker betreffen – die dabei angelegten journalistischen Standards müssen stets dieselben sein. Und das interessierte Publikum muss es aushalten, wenn investigative Medien den Informantenschutz ernst nehmen und ihre Quellen anonymisieren. Im Gegenzug kann es sich darauf verlassen, dass Qualitätsmedien anonymisierte Quellen besonders genau prüfen.

Ein Informant muss 'nicht immer ein Held sein und mag andere Motive als einen Dienst an der Demokratie' haben

In der Silberstein-Affäre machten viele Medien, auch Qualitätsblätter, regelrecht Jagd auf die Quellen von profil und "Presse". Manche Journalisten investierten mehr Energie in die Suche nach den profil-Informanten als in Recherchen zur eigentlichen Causa. Zu den seltsamsten Beiträgen zählten mehrere Tweets des Datenschutzaktivisten Maximilian Schrems, der vor dem Hintergrund der Affären Silberstein und Pilz eine Debatte über "Zustecker" (Schrems’ Bezeichnung für Informanten) und "Quellenschutz" anregte. Dass seine Überlegungen auf eine Aufweichung des Redaktionsgeheimnisses hinauslaufen, war dem Mann, der sich dem Datenschutz verschrieben hat, offenbar nicht bewusst.

Ein Informant muss "nicht immer ein Held sein und mag andere Motive als einen Dienst an der Demokratie" haben, wie jüngst in einer Medienkolumne der "Washington Post" zu lesen war. Aber wenn jene, die Informationen über die "Paradise Papers" oder – einige Nummern kleiner – die Machtpläne von Sebastian Kurz oder die Hintergründe einer Integrationsstudie liefern, Whistleblower genannt werden, darf man auch die Informanten in der Silberstein-Affäre so bezeichnen.

Die Folgen

Was wäre passiert, hätten israelische Strafverfolgungsbehörden Silberstein im August nicht festnehmen lassen? Wäre sein Dirty Campaigning unentdeckt geblieben, sein Plan aufgegangen und Christian Kern weiterhin Kanzler? Anders gefragt: Wie sehr hat die Silberstein-Affäre Christian Kern und der SPÖ bei der Nationalratswahl geschadet? Valide Umfragedaten liegen dazu nicht vor. Der Super-GAU, ein Absturz auf den dritten Platz, den viele Kommentatoren nach dem Platzen der Affäre prognostizierten, blieb aus. Mit 26,9 Prozent hielt Christian Kern das Ergebnis von Werner Faymann aus dem Jahr 2013.

Vielleicht nutzte ihm die Affäre sogar. Wie Wählerstromanalysen und Umfragen zeigen, stimmten viele vormalige Grünwähler diesmal für die SPÖ. Den Grünen bescherten sie damit ein Desaster, Christian Kerns SPÖ dagegen den höchsten Akademikeranteil sämtlicher SPÖ-Wahlergebnisse bisher. Ein möglicher Schluss: Für diese besser gebildeten Wähler wog die Furcht, Kern könnte auf den dritten Platz abstürzen, schwerer als die Skepsis gegenüber den roten Wahlkampfmethoden. Und wahrscheinlich lag Christian Kern mit seiner Analyse richtig, dass der durchschnittliche Wähler sich mehr für Sicherheit, Arbeitsplätze und Schulen für die eigenen Kinder interessiere als für Tal Silberstein. Es war ja auch höchst kompliziert: Ein roter Berater produzierte eine vorgeblich blaue ("Die Wahrheit über Sebastian Kurz") und eine vorgeblich schwarze Website ("Wir für Sebastian Kurz"), um dem Schwarzen zu schaden.

Dennoch schwächte die Affäre Kerns Position im Wahlkampf massiv. Er verlor seinen inoffiziellen (Silberstein) und seinen offiziellen Wahlkampfleiter (Niedermühlbichler). Die Verunsicherung in seinem Team war deutlich zu spüren. Der schwerste Negativeffekt: In jedem seiner TV-Auftritte, auf die Kern im Vorfeld so zuversichtlich gesetzt hatte, musste er sich zeitfüllend wegen Silberstein verantworten, statt offensiv eigene Themen setzen zu können.

Am Ende konnte sich die FPÖ zum einzigen wahren Opfer von Silbersteins Dirty Campaigning stilisieren.

Doch auch die ÖVP wurde durch die Affäre beschädigt. Verantwortlich dafür ist Peter Puller, jener ehemals für ÖVP und NEOS tätige PR-Berater, der in Silbersteins Auftrag die Anti-Kurz-Facebook-Seiten betrieb. Nach dem Auffliegen der Affäre ging Puller an die Öffentlichkeit und erklärte, im Sommer vom langjährigen Pressesprecher von Sebastian Kurz ein Angebot von 100.000 Euro erhalten zu haben, damit er die Seiten wechsle und Details der SPÖ-Kampagne verrate. Die ÖVP dementierte zwar scharf, aber nicht ganz glaubhaft, und hatte damit ihre Unschuld in der Affäre verloren. Am Ende konnte sich die FPÖ zum einzigen wahren Opfer von Silbersteins Dirty Campaigning stilisieren. Eine Farce: Die Freiheitlichen beklagten sich theatralisch, fälschlicherweise als Urheber einer üblen Website verdächtigt worden zu sein – während gleichzeitig die FPÖ-nahe Website unzensuriert.at ihren üblichen Unrat im Netz ausschüttete, inklusive antisemitischer George-Soros-Verschwörungstheorien.

Auch im nächsten Wahlkampf werden Dirty-Campaigning-Methoden eingesetzt werden. Die Möglichkeiten der digitalen Technologie entwickeln sich permanent weiter. Gefälschte Videos werden kaum mehr als solche zu erkennen sein. Die Affäre um Tal Silberstein muss potenziellen Schmutzkübel-Aktivisten aber Warnung sein, dass kritische Medien solche Aktivitäten immer aufdecken können und ihnen am Ende das böse Erwachen in einem Tsunami droht.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.