Ein Spaziergang durchs islamische Wien
Wenn es einen Ort gibt, an dem sich die historische Auseinandersetzung Österreichs mit dem Islam kristallisiert, dann ist dieser Ort an der Wiener Triester Straße, Höhe Nummer 52. Hier steht das Denkmal der Spinnerin am Kreuz. Zwischen dem George-Washington-Hof, einem klassischen Wiener Gemeindebau, und dem dröhnenden Verkehr auf dieser Ausfallstraße wirkt diese gotische Säule wie ein Fremdkörper. An dieser Stelle gedachte man einer Liebesgeschichte, noch bevor es Autos und Gemeindebauten gab oder George Washington, der erste Präsident der USA, das Licht der Welt erblickte: Zumindest seit dem 15. Jahrhundert erinnert hier auf dem Wienerberg ein Denkmal an die Legende einer jungen, frischvermählten Frau.
Genau an diesem Ort soll sie unter Tränen ihren Mann verabschiedet haben, der in den Kreuzzug fortging, um gegen Muslime zu kämpfen. Sie soll ihm versprochen haben, immer auf ihn zu warten. In seiner Abwesenheit erwirtschaftete sie mit dem Spinnen ein ansehnliches Haushaltsvermögen, sagt Andre Gingrich. „Als er zurückkam, brachte er Safran als Geschenk aus dem Orient mit, und sie lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage.“ Andre Gingrich, Jahrgang 1952, Sozialanthropologe, Islamwissenschafter, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ist Träger des prestigereichen Wittgenstein-Preises. Die mittelalterliche Lovestory hatte über viele Jahrhunderte auch eine vitale politische Dimension, sagt Gingrich. „Die Spinnerin am Kreuz ist in der Wiener und ostösterreichischen Gesamtvorstellung über den Orient zentral – sie steht für die Unvermeidlichkeit der ewig notwendigen Auseinandersetzung mit dem Islam.“ Genau deshalb hat Gingrich sie als erste von drei ausgewählten Stationen des historischen Stadtspaziergangs mit profil vorgeschlagen.
Der Frontier-Orientalismus
Die Spinnerin am Kreuz ist auch ein Denkmal im Geiste des sogenannten Frontier-Orientalismus, sagt Gingrich. Er hat den Begriff im Anschluss an Edward Said (1935–2003) geprägt, ein US-Autor palästinensischer Herkunft, der eine besondere Art der Verteufelung und Faszination des Islam beschreibt. Der Frontier-Orientalismus sei typisch für Gesellschaften, die lange in direktem Kontakt mit dem Islam stehen, wie das bei Österreich auch historisch der Fall war, sagt Gingrich. Österreich teilte sich eine Grenze mit den Osmanen, militärische Eroberungen und Feldzüge prägten das Bild des Feindes. Doch die Geschichte mit dem Islam ist viel komplizierter: Über Jahrhunderte gab es einen politischen, militärischen und religiösen Antagonismus – aber auch einen gewissen Reiz des Unbekannten.
Dass der Kreuzritter der Spinnerin der Legende zufolge ausgerechnet Safran mitbrachte, ist in diesem Zusammenhang kein Zufall und eine weitere Dimension der Auseinandersetzung, sagt Gingrich. Safran, ein bekanntes Aphrodisiakum, stehe „im Zusammenhang mit dem Orient für unterschwelliges Begehren und Verlangen – alles Dinge, die mit hineinspielen, wenn es nicht gerade um Konfrontation geht“. So sehr die Muslime Angst auslösten, so sehr faszinierten sie auch. Neben der Verachtung und Zuschreibung aller möglichen negativen Eigenschaften „war da auch immer wieder unterschwellig Neid“, sagt Gingrich. „Da ist etwas in diesem Anderssein enthalten, das man selber nicht hat, zum Beispiel alle möglichen geschlechtlichen Lebensformen, die man den Muslimen zuschreibt und die uns verboten sind.“ Der Neid kippe zuweilen auch in Paranoia, etwa dass „muslimische Männer uns die Frauen wegnehmen wollen“. Es sind Dynamiken, die bis heute aktuell sind.