Sven Gächter

Sven Gächter Stirb langsam

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Im Oktober 2007 wurde Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, mit dem Kulturpreis Deutsche Sprache, auch bekannt als Jacob-Grimm-Preis, ausgezeichnet. In seiner Dankesrede holte der debattenfreudige Feuilletonist zu einer Generalabrechnung mit dem Internet aus. Dieses begünstige „in steigendem Maße Nicht- oder Fast-nicht-mehr-Lesen“, es übe Gewalt gegen Minderjährige aus, indem es sie mit pornografischen und kriminellen Inhalten auf „seelischen Extremismus“ programmiere, und es verstopfe den medialen Äther mit „halbseidenen Nachrichten“. Als wirkungsmächtiges Kontrazeptivum empfahl Schirrmacher – wenig überraschend – die Tageszeitung: das gedruckte Wort als „retardierendes Moment in der gesellschaftlichen Kommunikation“. Das nächste Jahrzehnt werde „das Jahrzehnt des Qualitätsjournalismus sein; er schafft die Bindungskräfte einer medial disparaten Gesellschaft“.

Das war vor der großen Krise: der großen Finanzkrise, der großen Wirtschaftskrise – und der großen Krise des so genannten Qualitätsjournalismus, die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass niemand mehr so genau weiß, was Qualitätsjournalismus eigentlich ist, sein sollte und sein darf. Der Begriff geistert als Heißluft- und Allzweck-Mantra durch eine aufgeregte Scheindiskussion, die in vielen Fällen auf schierer Unkenntnis oder aber mutwilliger Verschleierung der zentralen Voraussetzungen für ernst zu nehmende journalistische Arbeit beruht.

Der forsch erhobene Anspruch auf Qualität ist zunächst nicht selten (und insbesondere in Österreich) eine rituelle Anmaßung, mit der man sich von der verhassten Konkurrenz abzugrenzen versucht: Qualitätsjournalismus als rhetorische Strategie im wirtschaftlichen Überlebenskampf. Zum andern geht es um einen quasi moralischen Nachweis der eigenen Existenzberechtigung gegenüber den Renditefetischisten in den kaufmännischen Chefetagen der Verlagshäuser. Qualität, so die Argumentation, sei ohne ein gewisses spezifisches Mindestgewicht nicht herstellbar und fordere deshalb ihren Preis. Darüber, wer den Preis bezahlen und wie der dadurch generierte Mehrwert verteilt werden soll, herrscht seit Jahren tiefe Konfusion, die nach weit verbreiteter Auffassung den Fortbestand der journalistischen Branche im Allgemeinen und des Qualitätssegments im Speziellen bedroht.

Das Internet hat diese Entwicklung nicht ausgelöst, sondern lediglich auf Überschallgeschwindigkeit beschleunigt. Als Medium zum Transport von Inhalten aller Art ist es vermutlich effizient wie kein anderes, als geistiger Ort für Qualitätssicherung jedoch gänzlich ungeeignet, weil kraft seiner Systemlogik darauf gepolt, Inhalte lediglich nach ihrer Verfügbarkeit zu bewerten und somit tendenziell zu nivellieren – eine prekäre Ausgangslage für Produzenten von hochqualifiziertem Content, nicht weil dieser im Internet nicht sinnvoll darstellbar wäre, sondern weil qualifizierter Content aufwandintensiv ist und somit Kosten verursacht. Nur, warum sollten User, die es seit Jahren gewohnt sind, Inhalte ihrer Wahl weitgehend gratis aus dem Netz zu beziehen, plötzlich bereit sein, dafür in die Tasche zu greifen?

Das Dilemma des Qualitätsjournalismus hat im Kern nichts mit dem Medium zu tun, in dem er stattfindet. Es ist und bleibt in jedem Kontext – ob gedruckt, ob digital, ob elektronisch – das gleiche: Das Dilemma resultiert aus der Spannung zwischen dem Selbstverständnis von Qualitätsjournalismus und dessen Wertschätzung durch andere. Diese Balance steht mittlerweile zur Disposition, und die Hoffnung, dass der Markt ihre Stabilität schon regeln werde, erweist sich zusehends als illusorisch.

Was bedeutet es überhaupt, Qualität in journalistischem Kontext zu produzieren? Es bedeutet, verlässliche Inhalte mit einem gewissen Informations- und Erkenntnisgewinn zu bieten, und zwar in der diesen Inhalten jeweils angemessenen Form, unabhängig von allen Sekundärinteressen, die daran geknüpft sein könnten. Das ist eine Frage der Integrität redaktioneller Arbeit. Dem gegenüber steht ein öffentliches Bewusstsein, das die Bedeutung und den Wert solcher Arbeit prinzipiell zu würdigen gewillt sein sollte. Auf beiden Seiten herrschen mittlerweile kritische Zustände: Die Integrität redaktioneller Arbeit wird durch die fortschreitende Verknappung der Ressourcen bedroht, während die Bereitschaft des Publikums, sich auf qualifizierte und differenzierte Informationen einzulassen, rapide sinkt.

Die viel verteufelte Boulevardisierung ist dabei nicht Ursache, sondern lediglich Symptom eines Grundproblems: Wie erzeugt man Aufmerksamkeit? Auch Qualitätsjournalismus muss, um dauerhaft bestehen zu können, Aufmerksamkeit erregen, aber er stellt sie idealerweise in den Dienst einer aufklärerischen Grundhaltung, während der Boulevard Aufklärung bestenfalls als unverfängliche Begleiterscheinung in Kauf nimmt. Nachdem die Aufmerksamkeit des breiten Publikums beschränkt ist und von immer mehr Anbietern in immer mehr medialen Kontexten gleichzeitig beansprucht wird, gewinnt der Konkurrenzkampf an Kurzatmigkeit und Schärfe, und Qualität gilt in dieser Sphäre nicht als allgemein bevorzugtes Mittel zur Selbstprofilierung, weil die ihr inhärente Gravitationskraft einen Nachrichtenbetrieb entschleunigt, der in Wahrheit auf permanente Beschleunigung programmiert ist. Die Behebung dieses Systemfehlers kann nicht gelingen, solange das Bewusstsein für deren Notwendigkeit so sträflich unterentwickelt bleibt, wie es derzeit den fatalen Anschein hat.

Wenn Qualität sich partout nicht rentiert, muss man sie eben abschaffen, wäre die naheliegende marktradikale Schlussfolgerung – mit allerdings noch viel radikaleren weiterführenden Konsequenzen: Das Mediengeschäft würde zu einem klebrigen Mainstream verkümmern, einer grenzenlos öden Monokultur von vorgefertigten Inhalten, was auf Konsumentenseite langfristig unweigerlich mit der Höchststrafe geahndet würde: Gleichgültigkeit und Desinteresse. Kein sehr zukunftsträchtiges Geschäftsmodell – von den verheerenden demokratiepolitischen Folgen ganz zu schweigen.

Die einzige Überlebensgarantie für ein Medium ist letztlich seine Unverwechselbarkeit, und der Maßstab dafür wiederum kann nur Qualität sein. Dass unterschiedliche Medien ihre Qualitätsansprüche unterschiedlich definieren, liegt in der Natur einer Branche, die nur deshalb so lange bestehen konnte, weil sie über Jahrzehnte, Jahrhunderte hinweg einen gesunden Pluralismus ausgebildet hat – und die gerade deshalb so akut gefährdet ist, weil sie diesen Pluralismus im cross- und dumpfmedialen Durchlauferhitzer zu entsorgen droht.

Das nächste Jahrzehnt werde das Jahrzehnt des Qualitätsjournalismus sein, sagte Frank Schirrmacher 2007. Das war vor der großen Krise. Die Krise ist noch nicht vorbei, und das Jahrzehnt des Qualitätsjournalismus, wenn es überhaupt angebrochen sein sollte, könnte zugleich sein letztes sein. Dabei brauchte man ihn mehr denn je, weil die Qualität von Journalismus den präzisesten Indikator für die Qualität von Öffentlichkeit darstellt, und wenn dieser Indikator wegfällt, kommt der Öffentlichkeit nicht nur ihr Qualitätsbewusstsein abhanden – sie kommt sich selbst abhanden.

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