Interview

Umstrittener Infektiologe: „Die Grippe ist gefährlicher als Corona“

Als Chef-Infektiologe der staatlichen Gesundheitsagentur war Franz Allerberger Österreichs erster Covid-Experte im Rampenlicht. Dann manövrierte er sich mit Kritik an Masken und Lockdowns ins Out. Heute fühlt er sich bestätigt. Ein Gespräch mit einem Umstrittenen.

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Sie haben sich über Jahrzehnte mit neuen Viren beschäftigt. Was ist Covid-19 aus heutiger Sicht?
Allerberger
Kein Killervirus. Es ist ein Erreger von Atemwegsinfektionen, der uns leider bleiben wird. Und gegen den die Impfung nur bedingt schützt.
Wie oft sind Sie geimpft?
Allerberger
Sechs Mal. Im Sommer 2021 gab es Probleme bei der Übertragung meiner bestehenden Impfdaten in den Grünen Pass. Also hab ich mich noch mal stechen lassen. Ich lasse mich auch jährlich gegen Influenza impfen. Besser zu 30 bis 60 Prozent vor einer Ansteckung geschützt sein als gar nicht. Eine ähnliche Schutzwirkung hat auch die Covid-19-Impfung. Die prognostizierten 95 Prozent waren weit überzogen. Wie so vieles in der Pandemie.
Was war noch überzogen? 
Allerberger
Die Angst.
Sie behaupteten bereits im Frühjahr 2020: „Das Virus ist weniger gefährlich als gedacht.“
Allerberger
Drei Jahre nach Ausbruch der Pandemie steht außer Frage, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit ihrer anfänglichen Prognose, wonach drei Prozent der Infizierten sterben werden, komplett daneben lag. In der ersten Jahreshälfte 2022 lag die Todesrate bei Infizierten in Österreich bei 0,1 Prozent. Das ist das Niveau einer durchschnittlichen Grippesaison. Das Durchschnittsalter aller Verstorbenen mit Covid-19 lag über die Pandemie gerechnet laut Gesundheitsministerium bei 82,8 Jahren. Doch leider hat sich im Frühjahr 2020 die WHO mit ihrer Strategie durchgesetzt, das angebliche „Killer-Virus“ ausrotten zu wollen. 
Was nur noch China probiert.
Allerberger
Oder Nordkorea. Die Zero-Covid-Strategie war von Anfang an eine Illusion.
Sie behaupteten im Oktober 2020: „Jeder wird sich anstecken, außer er stirbt vorher.“ Ich kenne etliche Menschen, die noch nicht infiziert waren.
Allerberger
Rund 20 Prozent der Infektionen verliefen asymptomatisch, ohne jegliche Symptome. Außerdem gibt es eine beträchtliche Zahl an Menschen, die bei Infektion keine Antikörper bilden, jedoch zelluläre Immunität aufweisen. Bei einem Screening Tiroler Blutspender vor drei Monaten hatten 94 Prozent Antikörper gegen Covid-19. Die Durchseuchung ist fast perfekt. Deswegen ist die Pandemie auch vorbei.
Durchseuchung klingt nach schwedischem Weg, wo weitgehend auf Lockdowns und Maskenpflichten verzichtet wurde. Wer hat sich besser geschlagen: Österreich oder Schweden?
Allerberger
Was am Ende zählt, ist die Übersterblichkeit. In Schweden war sie geringer als in Ländern wie Österreich. 
Das wird mit der dünneren Besiedlung begründet.
Allerberger
Bei der hohen Anzahl städtischer Bevölkerung in Schweden kann ich dieses Argument nicht nachvollziehen.
Zu Beginn der Pandemie war die Übersterblichkeit in Schweden aber deutlich höher. Man könnte es als zynisch bezeichnen, in so einer Phase langfristig zu denken, anstatt durch harte Lockdowns unmittelbar Leben zu retten.
Allerberger
Als Public-Health-Experte denke ich an alle Bereiche der Gesellschaft: an die katastrophalen Kollateralschäden für Kinder und an alte Menschen, die wegen rigider Besuchsverbote allein sterben mussten. Ich bin übrigens sehr dankbar, dass wir Ende 2022 nun doch einen Gesundheitsminister haben, der offen sagt: Die Schulschließungen in der Pandemie waren ein großer Fehler.
Sie sprechen vom Grünen Johannes Rauch. Wie zufrieden waren Sie mit dessen Vorvorgänger Rudolf Anschober?
Allerberger
Ihn konnte ich leider zu wenig von den schädlichen Nebenwirkungen der Lockdowns überzeugen. Er hörte sich meine Argumente aber genau an. Und das spricht für ihn.
Nicht nur bei Anschober, sondern auch bei vielen Kolleginnen und Kollegen schossen Sie sich mit Ihrer Kritik an Masken ins Out. 
Allerberger
Wir müssen zwischen Mund-Nasen-Schutz (MNS) und FFP2-Maske trennen. Die AGES hat das Infektionsgeschehen mit und ohne MNS-Pflicht in Supermärkten untersucht und keinerlei Unterschied festgestellt. Die FFP2-Maske hingegen tragen wir auch im Labor. Sie schützt Vulnerable gut und ist auch Menschen zu empfehlen, die andere schützen wollen. Doch auch sie hat auf das generelle Infektionsgeschehen kaum einen Einfluss. Das zeigt die FFP2-Pflicht in Wiener Verkehrsmitteln. Wien steht im Vergleich zu anderen Städten in Europa nicht besser da. Weil man sich in der Regel nicht in der U-Bahn, an der Supermarktkasse und schon gar nicht im Freien ansteckt.
Ist Lockdownkritik am Ende der Pandemie nicht billig? Als sie 2020 ausbrach, konnten Politiker wegen der Sargkolonnen in Norditalien doch gar nicht anders, als Lockdowns zu verhängen. 
Allerberger
Im Fachbeirat des Europäischen Seuchenzentrums ECDC war bereits im Februar 2020 ein Drittel der Experten der Meinung, das Virus sei nicht so tödlich wie angenommen, sondern eher grippeähnlich. Ich gehörte dazu. Die Bilder von Särgen in Norditalien waren aber stärker. Dort lief alles schief, was schieflaufen konnte. Diese Bilder prägten unsere Wahrnehmung der Pandemie – und unsere Ängste – nachhaltig. Der große Rest der asymptomatisch oder mild Infizierten blieb unsichtbar.
Bestreiten Sie auch, dass in den heimischen Spitälern wiederholt ein Ausnahmezustand drohte? Damit wurden die weiteren drei Lockdowns im Herbst und Winter 2020 sowie im Herbst 2021 begründet.
Allerberger
Nein. Tue ich nicht. Wir waren immer für „flatten the curve“, also ein Abflachen der Welle durch die massive Verringerung sozialer Kontakte, damit nicht alle auf einmal ins Spital kommen. Keine Hochzeiten oder Großveranstaltungen, kleine Begräbnisse, frühere Sperrstunden, Händewaschen, exzessives Lüften – das waren die Maßnahmen, die nachweislich gewirkt haben. In Schweden und in Österreich.
Aber hätte das gereicht? Ende 2020, im Frühjahr 2021 und dann wieder Ende 2021 drohte in mehreren Spitälern „Triage“. 
Allerberger
Triage gibt es in Spitälern immer. Zum Beispiel, wenn Personal fehlt und deswegen entschieden werden muss, wer zuerst behandelt wird. Das ist eigentlich ein wertfreier Begriff, der in der Pandemie zur Angstformel wurde.
Was hat Österreich gut gemacht?
Allerberger
Das, was  nicht gemacht wurde. Wir haben die Straßen nicht wie China oder Frankreich mit verdünnter Wasserstoffperoxidlösung besprüht. Anfang Februar 2021 wurde Virologin Dorothee von Laer damit zitiert, sie wolle Tirol für einen Monat abriegeln. Sonst drohe wegen der Südafrika-Variante ein „neues Ischgl“. Landeshauptmann Günther Platter beschränkte sich auf Tests bei der Ausreise. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich schätze von Laer sehr. Sie hat mit ihrer ersten Ischgl-Studie nachgewiesen, dass das Virus bei Weitem nicht so tödlich ist, wie die WHO behauptete. Auch der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil hat richtig gehandelt, als er den „Ost-Lockdown“ im Frühjahr 2021 um zwei Wochen früher beendete als Wien oder Niederösterreich. Ihm wurde von der eigenen Parteichefin Pamela Rendi-Wagner vorgeworfen, überfüllte Intensivstationen zu riskieren. Es kam nicht ansatzweise dazu.
Müssen Politiker und Experten nicht im Zweifel auf Nummer sicher gehen – wenn die Alternative lautet, Todesfälle zu riskieren?
Allerberger
Zwischen auf Nummer sicher gehen und eine unfundierte Annahme als Tatsache zu artikulieren, ist aber schon ein Unterschied. Es gab ein breites Spektrum an Sichtweisen. Das Problem waren Prognosen, die über ein paar Wochen hinaus gingen. Im Februar 2021 spekulierte Komplexitätsforscher Peter Klimek über die UK-Variante des Coronavirus. Medial entstand so der Eindruck, eine neue Art von Pandemie gehe los. Hinweise des Vizerektors der MedUni-Wien, Oswald Wagner, auf eine möglicherweise deutlich höhere Sterberate durch diese Mutation mündeten in Headlines wie: „Mutation führt zu fünf Mal mehr Corona-Toten“.
Für Boulevard-Schlagzeilen können doch die Wissenschafter nichts.
Allerberger
Aber sie lieferten den Anstoß dazu. Bad news are good news – nach diesem Leitsatz ist eine Pandemie natürlich Gold wert. Auf oe24 habe ich vor ein paar Tagen gelesen, die neue Covid-Variante heiße „Höllenhund“. Mehr braucht man dazu nicht zu sagen. Ich jedenfalls kann auf ein paar Jahrzehnte Erfahrung mit Erregern von Infektionskrankheiten zurückblicken. Die damit einhergehenden Katastrophenszenarien der WHO traten so noch nie ein.
Warum soll die WHO Panik verbreiten? 
Allerberger
Jede Institution will ihr eigenes Dasein rechtfertigen und neigt zur Zuspitzung.
Macht es Sie nicht stutzig, dass fast alle bekannten Wissenschafter Corona anders sahen? Nicht nur, was die Maske betraf? 
Allerberger
Bei Weitem nicht alle. Wir haben uns in der AGES von Beginn an konkret angeschaut, wo sich das Virus wie verbreitet. Das war eine bessere Evidenz als einzelne Ereignisse oder Studien von irgendwo auf der Welt. Ein Grund für die erste Mund-Nasen-Schutz-Pflicht im Einzelhandel im April 2020 waren Medienberichte über eine Massenansteckung in einer südkoreanischen Kirche. Es handelte sich in Wahrheit um eine exzessive Massenveranstaltung einer Sekte. Die Aussagekraft für das österreichische Einkaufszentrum war gleich null.
Die sogenannten „Schwurbler“ werden sich über viele Ihrer Aussagen freuen.
Allerberger
Ich finde den Begriff „Schwurbler“ furchtbar. Wenn Leute damit gemeint sind, die geheime Chips im Impfstoff oder 5G-Mobilfunknetze als Auslöser der Pandemie vermuten, bitte sehr. Aber nach Ausbruch der Spanischen Grippe 1918 dachten die besten Experten noch bis 1933, ein Bakterium sei Auslöser gewesen. Jeder, der es bezweifelte, wurde von den Schülern Robert Kochs als unseriös verunglimpft – heute würde man sagen: als Schwurbler. 1933 stellte sich heraus: Es war ein Virus, das wir heute Influenza nennen.

Ich finde den Begriff ‚Schwurbler‘ furchtbar.
 

Franz Allerberger

Infektiologe

Ihnen wurde Schwurblerei vorgeworfen, weil Sie Covid-19 von Beginn an mit der Grippe verglichen. 
Allerberger
Achtung: mit schwerer Grippe. Damit meinen Infektiologen eine Krankheit, an der auch junge Menschen sterben können. Mittlerweile ist der Vergleich Mainstream.
Aber erst, seit es die Impfung gibt. 
Allerberger
Jein. Die Verfügbarkeit der Impfung hat viel Druck aus der Causa genommen, aber ein Fünftel der Bevölkerung hat sie nie angenommen, und die Übersterblichkeit ist dennoch nicht in die Höhe geschossen.
Und Long Covid?
Allerberger
Ein chronisches Erschöpfungssyndrom gibt es nach vielen Infektionskrankheiten. Das ist kein Spezifikum von Covid-19.
Was ist nun gefährlicher? Grippe oder Corona?
Allerberger
Derzeit ist sicher Influenza gefährlicher, weil mehr daran sterben. Das sehen wir in Tirol eindeutig.
Sie sagten von Anfang an: Impfen, impfen, impfen. War die mit 1. Februar 2022 verhängte Impfpflicht ein Fehler? Oder der Lockdown für Ungeimpfte, der von 15. November 2021 bis Ende Jänner 2022 dauerte?
Allerberger
Ganz schwere Fehler. Damit machte man Ungeimpfte zu „Gefährdern“, ein Begriff, den man aus dem Terrorismus kannte. Wenn das nächste Virus tatsächlich tödlicher und die Impfung noch wichtiger ist, brauchen wir diese Menschen. Deswegen hätte man sie besser überzeugt statt ausgegrenzt.
Was kann man noch lernen für die nächste Pandemie? 
Allerberger
Dass es billige Lösungen wie Impfpflichten nicht gibt. Und wir müssen schleunigst damit aufhören, die Skepsis gegenüber der Gentechnik mit Steuergeld zu fördern. „Ohne Gen“ ist ein eigenes Gütesiegel auf Lebensmitteln, das vom Landwirtschaftsministerium gesponsert wird. Da brauch ich mich nicht wundern, wenn Menschen bei Impfstoffen Reißaus nehmen, die auf Gentechnik basieren.
Mit wie vielen Kolleginnen und Kollegen haben Sie wegen Corona gebrochen?
Allerberger
Mit niemandem. Dissens in der Wissenschaft ist normal. Außerdem sehe ich, was wir alle kollektiv weitergebracht haben. Nach nur drei Jahren können wir Covid-19 wissenschaftlich extrem gut einschätzen. Bei der Spanischen Grippe dauerte es 15 Jahre. Diese gemeinsame Leistung relativiert Meinungsverschiedenheiten über Lockdowns oder Masken.

Franz Allerberger (66),

ist ein international ausgewiesener Facharzt für Infektiologie, Hygiene und Mikrobiologie. Er leitete von 2003 bis 2021 den Bereich Öffentliche Gesundheit der staatlichen Agentur AGES und saß im Beraterstab der Coronavirus-Taskforce im Gesundheitsministerium. Heute unterrichtet der Public-Health-Experte an der Medizinischen Universität Innsbruck.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.