"Als Gewerkschafter ist man nie glücklich, wenn Schutz aufgeweicht wird."

Vida-Chef Hebenstreit: "Brutaler Lohnraub"

Der mächtige Vida-Chef Roman Hebenstreit über Arbeitszeitflexibilisierung, Mindestlohn und Zehennägel, die man nicht nach Indien schicken kann.

Drucken

Schriftgröße

profil: Die Regierung gibt den Sozialpartnern bis Juni Zeit, sich über eine Arbeitszeitflexibilisierung zu einigen. Die Wirtschaft sagt: Gearbeitet werden soll, wenn Arbeit anfällt. Was haben Sie dagegen? Roman Hebenstreit: Flexibilisierung klingt schön. Wovon aber reden wir? Im Arbeitszeitgesetz geht es um Willensfreiheit. Der Arbeitnehmer ist im Verhältnis zum Arbeitgeber der Schwächere und soll geschützt werden, und zwar nicht nur im klassischen Sinne vor Gefahren für Leib und Leben, sondern auch gegen Willkür.

profil: Gegen welche Willkür? Hebenstreit: Es ist in Vergessenheit geraten, dass Arbeitszeit zu vereinbaren ist. Willensfreiheit heißt, dass ich dabei sein kann, wenn mein neunjähriger Sohn mit seinem Fußballverein überraschend ins Finale kommt, dass ich mein Leben planen kann und nicht der völligen Willkür des Arbeitgebers ausgesetzt bin.

Wir haben eine Unzahl an flexiblen Kollektivverträgen, die auch jetzt schon zwölf Stunden an Arbeitszeit zulassen

profil: Auf der anderen Seite steht die Drohkulisse, dass ohne Flexibilisierung Arbeitsplätze verloren gehen. Hebenstreit: Das ist Schwachsinn. Bei der Arbeitszeit ist heute schon vieles möglich. Wir haben eine Unzahl an flexiblen Kollektivverträgen, die auch jetzt schon zwölf Stunden an Arbeitszeit zulassen. Aber da stimmen die Rahmenbedingungen. Sprich: Je weniger Planbarkeit, desto höher der Preis.

profil: Wenn bei der Arbeitszeit ohnedies schon vieles geht, welche Motive unterstellen Sie Arbeitgebern dann? Hebenstreit: Dass sie rücksichtslos auf die Lebenszeit der Arbeitnehmer zugreifen wollen. Und zwar ohne dafür zu bezahlen. In Wirklichkeit geht es um einen brutalen Lohnraub.

profil: Ist das nicht etwas übertrieben? Die Wirtschaft will zwölf Stunden Arbeitszeit pro Tag, 60 Stunden in der Woche und zwei Jahre Durchrechnung. Hebenstreit: Wenn man zwei Jahre Zeit hat, bis die erste Überstunde anfällt, vernichtet man de facto alle Überstunden. Sie werden zwar geleistet, gelten aber als Normalarbeitszeit. Und jetzt rechnen Sie: In Österreich fallen jedes Jahr gut 200 Millionen bezahlte Überstunden an. Bei einem durchschnittlichen Überstundenzuschlag sind das in Summe 1,6 Milliarden Euro; ungesetzlich geleistete Überstunden nicht mitgerechnet. In Wirklichkeit nimmt man Arbeitnehmern so Milliarden an Euros weg.

Man wird über eine massive Arbeitszeitverkürzung und zusätzliche Ausgleichsmaßnahmen sprechen müssen

profil: Österreich hat in Europa den Ruf des Überstundenmeisters … Hebenstreit: … umso verwerflicher ist es, diese enorme Zahl an Überstunden, die uns gut 100.000 Jobs kosten, für die Arbeitgeber noch günstiger zu machen. Das ist so, als würde man eine Preissenkung für Drogen machen, damit Junkies billiger an ihren Stoff kommen.

profil: Angenommen, die Wirtschaft setzt sich mit ihren Forderungen durch: Hält die Gewerkschaft zum Ausgleich an einer sechsten Urlaubswoche fest? Hebenstreit: Bei dem, was da jetzt auf dem Tisch liegt, wird das mit Sicherheit nicht ausreichen. Man wird über eine massive Arbeitszeitverkürzung und zusätzliche Ausgleichsmaßnahmen sprechen müssen.

profil: Das klingt nicht nach einer knapp bevorstehenden Einigung der Sozialpartner. Hebenstreit: Wir spüren, dass in den einzelnen Branchen Bewegung möglich ist. Die Frage ist, mit welchem Recht mischt sich hier die Industriellenvereinigung ein? Sie ist kein Sozialpartner, sondern ein demokratisch nicht legitimierter Lobbyistenverband, der dafür bezahlt wird, die Interessen weniger zu vertreten.

profil: Was kann dabei herauskommen, wenn die Sozialpartner nichts zusammenbringen und die Regierung das Heft in die Hand nimmt? Hebenstreit: Einfacher wird es nicht. Die Interessensvertreter - sowohl der Arbeitnehmer als auch der Wirtschaft - sitzen auch im Parlament. Wenn hier etwas beschlossen werden soll, das der Gewerkschaft nicht passt, gehe ich davon aus, dass der Widerstand genauso stark sein wird wie am grünen Sozialpartnertisch. Wenn jemand niedrige Löhne, keine Gewerkschaften, schwächeren Kündigungsschutz und so weiter ernsthaft für ein Zukunftsmodell für Österreich hält, soll er bitte erklären, warum Afrika nicht prosperiert. Dort haben wir das alles.

Überstunden nicht zu bezahlen, ist ein lupenreiner klassischer Betrug

profil: Sind Sie einverstanden, dass der Kündigungsschutz für über 50-Jährige gelockert werden soll? Hebenstreit: Als Gewerkschafter ist man nie glücklich, wenn Schutz aufgeweicht wird. Man könnte sich der Aufgabe, Ältere am Arbeitsmarkt zu halten, aber auch ernsthafter widmen. Das öffentliche Auftragsvolumen beträgt 40 Milliarden Euro. Das ist ein bei Weitem größerer Hebel. Es wäre ein Leichtes, Aufträge künftig nur an Firmen zu vergeben, die auch Ältere beschäftigen. Das wäre eine vernünftige Maßnahme, die man schnell spüren würde. Außerdem brauchen wir restriktivere Kontrollen und härtere Strafen. Überstunden nicht zu bezahlen, ist ein lupenreiner klassischer Betrug. Das hat im Arbeitsrecht nichts verloren, sondern gehört eigentlich ins Strafrecht.

profil: Man hört, dass sie als Gewerkschafter mit ÖBB-Chef Christian Kern gut ausgekommen sind. Sind Sie von ihm als Kanzler nun enttäuscht? Hebenstreit: Nach außen gab es kaum Konflikte, das stimmt. Intern hatten wir sehr wohl unsere Auseinandersetzungen. Ich wüsste aber nicht, warum ich jetzt von ihm enttäuscht sein sollte. Dass er beim Thema Mindestlohn Druck macht, betrachte ich als Rückenwind für die Sozialpartner. Und bei der Arbeitszeit hat er bisher nur gesagt: Sozialpartner, bitte macht!

profil: Sein in Wels vorgestellter Plan A liest sich streckenweise wie ein ÖVP-Programm. Hebenstreit: Mindestlohn und Arbeitszeit sind ureigene sozialdemokratische und gewerkschaftliche Anliegen. Wir müssen selbstkritisch sein: Da ist uns zu wenig gelungen. Wir haben zwischen 2010 und 2016 einen Reallohnverlust von 0,5 Prozent. Wie soll ein junger Mensch, der in den Niedriglohnsektor einsteigt, eine Wohnung finden, eine Familie gründen, Kinder kriegen? Das muss sich auch die Familienpartei ÖVP fragen. Arbeitgeber sind schnell mit dem Argument zur Hand, dass man den Standort nicht riskieren darf. Aber wir reden hier großteils vom Dienstleistungssektor. Ich habe noch keinen gesehen, der seine Zehennägel zum Zwicken nach Indien geschickt hat.

profil: Damit wären wir beim MindestlohnHebenstreit: … und bei der Altersarmut. Wenn Menschen ein Leben lang im Niedriglohnbereich bleiben - der immerhin 360.000 Beschäftige zählt, zwei Drittel davon Frauen -, heißt das Abhängigkeit, nicht nur vom Arbeitgeber, sondern in vielen Fällen auch vom Lebenspartner. Dank der lebenslangen Durchrechnung für die Pension, heißt das darüber hinaus unvermeidbar Armut im Alter. Daher lautet mein Appell an die Regierung, egal, wer am Ruder ist: Bitte, die Dinge zu Ende denken!

Der Mindestlohn soll ein würdiges Leben ermöglichen

profil: Teilen Sie den Befund, dass die Mindestsicherung zu nahe an den niedrigsten Löhnen ist? Hebenstreit: Ja, die Mindestsicherung soll das existenzielle Überleben sichern. Nicht mehr. Der Mindestlohn soll ein würdiges Leben ermöglichen. Wenn Leistung sich wieder lohnen soll, wie die Wirtschaftsvertreter so gerne betonen, müssen wir dafür sorgen, dass man mit 40 Stunden ehrlicher Arbeit nicht am sogenannten Armutsschwellwert landet, der bei 1136 Euro netto liegt. Da sind wir von den niedrigen Löhnen von 1200 netto nicht weit weg. Ich will weder als Gewerkschafter noch als Mensch auf der Straße Leuten begegnen, von denen ich weiß, dass sie nicht genug zum Leben haben. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Wir wissen, was wir damit gesellschaftlich produzieren.

profil: Gegen einen gesetzlichen Mindestlohn sträubt sich die Gewerkschaft. Was ist daran schlecht? Hebenstreit: Wenn man anfängt, Mindestlöhne gesetzlich zu regeln, kann man sie höher machen, aber auch niedriger. Das ist das Problem. Ich gehe davon aus, dass wir uns als Sozialpartner das nicht aus der Hand nehmen lassen. Andererseits: Um unser Ziel 1700 Euro Mindestlohn zu erreichen, ist mir fast jedes Mittel recht. Notfalls auch ein gesetzlicher Mindestlohn von 1500 Euro.

profil: Sie haben die ÖVP als Familienpartei bezeichnet. Ist die SPÖ aus Ihrer Sicht noch eine Arbeiterpartei? Hebenstreit: Ich glaube, dass sie gut daran täte, ihr Profil in Richtung arbeitende Menschen und deren Sorgen noch stärker zu schärfen. Der Mindestlohn ist ein guter erster Schritt, aber bei Weitem noch zu wenig.

Roman Hebenstreit, 46, arbeitete als Lokführer und machte als Betriebsrat Karriere. 2005 wurde er Zentralbetriebsrat der ÖBB Produktion, er ist seit sechs Jahren Vorsitzender des Konzernbetriebsrats. Seit Dezember 2016 leitet der gebürtige Steirer die Gewerkschaft vida mit rund 135.500 Mitgliedern. Zu ihr zählen Dienstleistungen, Eisenbahn, Straße, Luft- und Schiffverkehr, Gebäudemanagement, Gesundheit, soziale Dienste, Tourismus.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges