Auf den ersten Blick ist in Gramatneusiedl vieles anders. Neben dem Kinderspielplatz und dem alten Chemiekonzern stehen nagelneue hölzerne Sitzbänke. Wer sich vom Bahnhof in Richtung Ortskern bewegt, stößt auf Hochbeete, bepflanzt mit Efeu, Sträuchern und Frühlingsblumen. In der Auslage des ehemaligen Schuhladens hängen gehäkelte Stofftaschen neben geflochtenen Wollkörben. Ein bisschen erinnert das Schaufenster an einen Selfmade-Store mit Do-it- yourself-Artikeln, die genauso gut im hippen 7. Bezirk in Wien stehen könnten. In Gramatneusiedl ist einiges neu, zumindest für Ortskundige. Einige Spuren haben die vergangenen drei Jahre in der 3700-Einwohner-Gemeinde in Niederösterreich im Wiener Becken hinterlassen.
Doch wer genauer hinsieht, entdeckt im Ort am Rande der Großstadt, eine Zugstation nach Wien, altes Zeitungspapier in Auslagenfenstern, das das Aussterben des Zentrums kaschieren soll. Beim Traditionsgeschäft von Karl Blaha erinnert nur noch der verstaubte weiße Schriftzug an vergangene Tage. „Schuhe Blaha“ prangert in klobigen Buchstaben an der Außenfassade. Doch Schuhe werden hier schon lange keine mehr verkauft. 2019 musste Blaha zusperren, ohne Aussicht auf Arbeit im Ort.
Mittlerweile ist der 55-Jährige so etwas wie die Werbeikone der Gemeinde. Eineinhalb Jahre nach dem Zusperren gab er Interviews, sogar das Intellektuellenmagazin „New Yorker“ klopfte bei ihm an der Tür und ließ ihn schonungslos über sein Leben erzählen: „Niemand wollte mehr Schuhe reparieren lassen“, sagt er damals. Den „New Yorker“ interessierte, was danach geschah: Das Job-Experiment in Gramatneusiedl. Es passierte unter großer Medienbeobachtung, der deutsche „Spiegel“ schrieb erstaunt, dass „Gramatneusiedl die Arbeitslosigkeit abschaffte“, auch profil berichtete 2021 über die „glücklichen Arbeitslosen“.
Um das große Interesse zu verstehen, muss man zurück in die Vergangenheit. In den 1930er-Jahren wurde im Ort, damals noch Gemeinde Marienthal benannt, die berühmte Studie vom Team um Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel durchgeführt. Sie untersuchte in der Weltwirtschaftskrise die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit. Und zeigte präzise, wie sich die Lebensqualität der Betroffenen verändert. Zum Beispiel gingen die sozialen Kontakte der Arbeitslosen stark zurück, obwohl die Personen eigentlich mehr Zeit für Familie und Freunde zur Verfügung hatten. Fast 90 Jahre später ging man in Gramatneusiedl den umgekehrten Weg. Konkret: Was passiert mit Langzeitarbeitslosen, die eine Jobgarantie erhalten? Das sollte das Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal herausfinden, kurz Magma. Alle Arbeitslosen sollten einen Job bekommen.
107 Gemeindebewohnerinnen und -bewohner nahmen seit Oktober 2020 daran teil, finanziert vom AMS-Niederösterreich und mit keinem geringeren Ziel als der Abschaffung der Langzeitarbeitslosigkeit. Karl Blaha gehört zu denen, die mitgemacht haben – genauso wie Sarah Sklenicka. Fünf Jahre war die zweifache Mutter und ehemalige Elektroanlagentechnikerin arbeitslos, heute ist die 38-Jährige froh darüber, dass die Dinge so und nicht anders verlaufen sind. Während ihrer Zeit bei Magma haben die beiden Sitzmöbel für die Gemeinde gebaut, Hochbeete aufgestellt oder Weihnachtsdeko geschnitzt. Die Stücke wurden am Markt oder in der Magma-Werkstätte zum Verkauf angeboten.
Damit endet die Erfolgsstory. Seit dem 31. März ist Magma Geschichte. Die Universitäten Wien und Oxford führten zwar bereits im Mai 2023 eine umfangreiche soziologische Studie durch, die zeigt, dass sich Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden der Betroffenen positiv veränderten. Teilnehmerinnen und Teilnehmer berichteten von einer Verbesserung der psychischen Gesundheit, der gestiegenen Anerkennung in der Gemeinde. Obwohl die Studie seit fast einem Jahr fertig vorliegt, verzögerte sich die Veröffentlichung bis Februar 2024. „In der Zwischenzeit gab es einen Führungswechsel beim AMS, dadurch sind Unklarheiten entstanden“, sagt Jörg Flecker, Projektleiter der Uni Wien. Das AMS begründet die Verzögerung damit, dass die Studie zuerst „intern analysiert“ werden musste.
Das einst hochgejubelte Projekt versank im politischen Kleinhickhack. Sven Hergovich, heute SPÖ-Chef in Niederösterreich, damals Initiator des Pilotprojekts und Leiter des AMS-Niederösterreich, versteht nicht, warum das Projekt unter der neuen AMS-Chefin und ehemaligen ÖVP-Bundesrätin Sandra Kern nicht verlängert und auf ganz Österreich ausgeweitet wurde. Er ist überzeugt: „Wenn Langzeitarbeitslose auf Dauer ohnehin gefördert werden müssen, dann wäre es sinnvoller, in Arbeit statt in Arbeitslosigkeit zu investieren.“
SPÖ-PRÄSIDIUM UND -VORSTAND U.A. ZU EU-WAHLLISTEN UND STATUT: HERGOVICH
Sven Hergovich
In seiner früheren Funktion als Chef des AMS-Niederösterreich etablierte Hergovich im Oktober 2020 das Projekt Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal, kurz MAGMA.
Statt Kern antwortet Johannes Kopf, Vorstand des AMS Österreich. Er sagt: Es sei unmöglich, Magma auf ganz Österreich auszurollen: „Dafür gibt es kein Budget, das ist zu teuer.“ Ein Langzeitarbeitsloser bei Magma kostet zwischen 30.000 und 40.000 Euro im Jahr.
Schwierigkeiten
Was das Ganze zusätzlich kompliziert macht, ist, dass am sogenannten „Dritten Arbeitsmarkt“, wo Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose mittels staatlicher Förderung geschaffen werden, nur Jobs angeboten werden können, die nicht mit dem „normalen“ Arbeitsmarkt konkurrenzieren. Konkret können bei Beschäftigungsprojekten à la Magma nur Jobs entstehen, die einerseits sinnstiftend sind und andererseits von niemandem sonst verrichtet werden. Als Beispiel nennt Kopf Arbeiten in der Gemeinde.
Alles andere hätte negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt – um den es in Österreich ohnehin alles andere als gut steht. Am Dienstag sprach Kopf von einer „besonders schlechten Entwicklung“, die Arbeitslosenzahlen stiegen im März deutlich auf 6,9 Prozent.
Beschäftigungsprojekte à la MAGMA lassen sich laut Kopf nicht finanzieren. Der AMS-Chef ist über die aktuelle Situation am Arbeitsmarkt besorgt und sprach am Dienstag von einer "besonders schlechten Entwicklung".
Karl Blaha und Sarah Sklenicka arbeiten heute nicht mehr bei Magma. Noch bevor das Projekt ausgelaufen ist, fanden sie andere Anstellungen im Ort. Blaha arbeitet seit September 2021 als Hausmeister bei der Lokwerkstätte „Logistics & Transport Europe“, kurz LTE, am Ortsrand nahe dem Bahnhof. „Mein Arbeitsplatz ist das ganze Gelände“, erzählt er stolz. Bei einem Rundgang zeigt er gern seinen Schreibtisch her, mit Blick auf drei bepflanzte Magma-Hochbeete, die zufällig vor seinem Fenster auf dem Firmengelände stehen. Wartungs- und Reparaturarbeiten, Pflege der Grünanlagen, technische Kontrollen – Blaha arbeitet gern, macht, was anfällt. Die Jahre bis zu seinem Pensionsantritt hat er sich trotzdem vorsichtig ausgerechnet: „Es müssten acht sein, aber ganz sicher bin ich mir nicht.“ Darüber macht sich die 38-jährige Sarah Sklenicka keine Gedanken. Seit August 2023 ist sie als Textildruckerin bei der Firma Workwear im Zentrum beschäftigt. „Dass der Job so nahe an meinem Zuhause ist, ist eine große Entlastung bei zwei Kindern.“
Fünf Jahre hat es gedauert, bis sie wieder in die Berufswelt zurückgefunden hat. Zuerst kam die Karenz, dann die Schwierigkeit, einen geeigneten Betreuungsplatz zu finden. Irgendwann habe ihr Wille nachgelassen, Bewerbungen abzuschicken. „Magma hat mir geholfen, wieder zurückzukommen.“ Dass das Projekt nun endgültig eingestellt wird, stößt in der Gemeinde auf Bedauern.
Diejenigen, die einen Job gesucht haben, haben ihn auf diese Weise auch gefunden.
Karl Blaha
Wie es in der Gemeinde weitergehen wird, weiß niemand so recht. Am 2. April startete ein Nachfolgeprojekt des AMS Niederösterreich, es richtet sich ebenfalls an Langzeitarbeitslose. Eine Jobgarantie gibt es jedenfalls nicht, das steht schon einmal fest. Sobald der Vollbetrieb angelaufen ist, will das AMS das neue Projekt mit dem Namen Jobwerk der Öffentlichkeit vorstellen.
Bis dahin bleibt in Gramatneusiedl alles wie bisher, nur ein wenig anders.