Interview

Vizekanzler Werner Kogler an Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner: „Ausdrucksweise präfaschistoid“

Vizekanzler Werner Kogler kritisiert den Begriff „normal“ scharf. Er hält Tempo 100 für sinnvoll, will Prämien für Gemeinden, die Windräder aufstellen, und plädiert dafür, Millionenerben zu besteuern.

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Sie wollten nicht Vizekanzler genannt werden. Haben Sie sich an die Anrede gewöhnt?
Kogler
Verantwortungsträger war mir lieber, Vizekanzler klang für mich so barock und abgehoben, auch wegen meines Vorvorgängers. Ich bin gerade auf Dialog-Tour, das Reden mit den Menschen – das ist mehr meins.
Welche Schulnote geben Sie sich für das Regierungsjahr?
Kogler
Als Person in Verantwortung? Ein „Gut“.
Was fehlt zum „Sehr gut“?
Kogler
Ich wollte nie Musterschüler sein, habe unabsichtlich mit Auszeichnung maturiert, selbst das war mir peinlich.
Liegt das „Gut“ daran, dass der Koalitionsmotor stottert, weil ÖVP und Grüne bei vielen Themen grundverschiedene Ansichten haben?
Kogler
Das ist doch gerade die Leistung der Regierung, dass man mit so unterschiedlichen Zugängen viel auf den Boden bringt. Sehen wir doch, was alles gelingt. Jetzt etwa das große Gemeinnützigkeitspaket mit der ausgeweiteten Absetzbarkeit von Spenden.
 Österreich verfehlt die Klimaziele. Ist das ein Armutszeugnis für die Grünen?
Kogler
Im Gegenteil, es gibt einen Reichtumsnachweis. Bevor wir mitregierten, herrschte Klima-Stillstand. In den drei Jahren Schwarz-Grün passierte mehr als in den 30 Jahren davor.
Keine Kunst, davor passierte nichts.
Kogler
Österreich war umweltmäßig eine Retro-Republik. Nur weil die Grünen mitregieren, kamen wir von der Bremsspur auf die Beschleunigungsspur. Mittlerweile sind wir so erfolgreich, dass Unternehmen die Aufträge nicht mehr derpacken und Fachkräfte fehlen. Diese „Green-Jobs“ bieten Chancen für Hunderttausende Menschen, sind dazu gut bezahlt. Die Stromerzeugung wird wirklich ab 2030 nur noch aus erneuerbaren Quellen kommen. Bei der Photovoltaik sind wir sogar vor Plan. Das Klimaziel war, dass die CO2-Emissionen im Vergleich zu 2005 um 48 Prozent sinken. Wir sparen 35 Prozent ein – in wenigen Jahren. Das ist mega!
 Für das Ziel fehlen 13 Prozent.
Kogler
Es muss noch viel mehr geschehen, richtig. Sage ich ja auch dauernd.
Der Verkehr ist eine Emissionsschleuder, dennoch passiert wenig. Was ist geplant?
Kogler
Die Emissionen im Verkehr sind enorm gestiegen. Eine Maßnahme ist das günstige Klimaticket. Dann ist eine große Leistung, nicht zur Freude des Koalitionspartners, dass wir aufgehört haben, weitere Autobahnkilometer zu bauen und zu planen. Stattdessen gehen die Milliarden in den Bahnausbau. Aber: Österreich hat das dichteste Straßennetz und zu viel Transitverkehr, wir sind der Kreisverkehr Europas. Wir müssen den Transitverkehr zurückdrängen. Das werden harte Matches: 25 Prozent des Transitverkehrs in Österreich finden wegen der niedrigen Kosten statt, speziell beim Diesel.
Sie wollen das Dieselprivileg abschaffen?
Kogler
Das wird nicht leicht, aber wir sind das Bohren harter Bretter gewohnt. Die Einschränkung des Transitverkehrs steht im Regierungsprogramm. Wie das erreicht werden kann, haben wir offengelassen. Ich wäre für ein Ende des Dieselprivilegs im Transit, bin für andere Vorschläge offen.
Die SPÖ ist nun für Tempo 100. Sie auch?
Kogler
Ja, aber ich bin Realpolitiker. Dafür gibt es keine Mehrheit. Es ist auch nicht im Koalitionsabkommen vereinbart. Es wäre deswegen sinnvoll, weil die Emissionen beim Verkehr so stark gestiegen sind. Daher wäre ein nächster Schritt vielleicht auch für eine Mehrheit sinnvoll: Wenn die Emissionen im Verkehr nicht innerhalb weniger Jahre relevant sinken, soll Tempo 100 automatisch kommen. Bisher ist allerdings nur Andreas Babler für Tempo 100, alle SPÖ-Landeschefs und wichtige Bürgermeister sind dagegen. Wenn die SPÖ mal geschlossen Umweltpolitik machte, würde ich mich freuen.
Was kommt sonst im Verkehr: Autofreie Tage?
Kogler
Ich bin ja nicht der Maßnahmen-Maxi. Mir als leidenschaftlichen Umweltökonomen geht es um die Methoden, mit denen wir am besten mehrere Ziele gleichzeitig erreichen, wie etwa bei der Energiewende.
 Dort hakt es in Westösterreich beim Ausbau der Windräder.
Kogler
Leider. Aber da ist eine kleine Revolution passiert: Wir haben im Umweltrecht verankert, dass die Bundesländer Windparks nicht mehr mit irgendwelchen Schmähs aufhalten können. In Kärnten etwa gab es den Schmäh, dass man Windräder nicht bauen konnte, bloß weil man sie von irgendeinem Kärntner Fenster aus hätte sehen können.
 In Salzburg und Tirol regierten die Grünen mit und es kamen keine Windräder.
Kogler
Jetzt haben wir eben die Revolution, dass der Bund die Länder im Bewilligungsverfahren umgehen kann. Das hätte ich nicht für möglich gehalten, dass eine derartige Mutwelle über die ÖVP hereinbricht. Jetzt können Landeshauptleute nicht mehr blockieren. Zusätzlich könnten wir mit Prämien arbeiten: Wo Windparks entstehen, könnten Gemeinden und Haushalte sich am günstigen Strom beteiligen oder sonstige Goodies bekommen. Bei umweltverträglichen Mülldeponien gab es diesen Ansatz. Es kann ja nicht nur so sein, dass in manchen Gemeinden alles hübsch und unberührt bleibt – und in anderen gibt es ohne Kompensationen 380-KV-Leitungen, Mülldeponien, Autobahn und Windparks.
Gemeinden, die Windräder aufstellen, sollen Zuwendungen bekommen?
Kogler
Es braucht eben Anreize. Je mehr Menschen bei der Energiewende mitmachen, desto besser.
Österreich ist Weltmeister, täglich werden Flächen so groß wie 18 Fußballfelder zubetoniert. Dennoch ist das Bodenschutzpaket geplatzt.
Kogler
Das ist ein Föderalismus-Match der Sonderklasse. In der Koalition ist vereinbart, den Bodenfraß auf ein Fünftel runterzubringen. Ich bin mir einig mit dem Landwirtschaftsminister. Die Landwirtschaft weiß genau, wie viel es geschlagen hat: dass die Enkelkinder keinen Getreidehalm mehr hochkriegen, wenn wir so weiterbetonieren. Den Konflikt haben wir mit den unwilligen Ländern und vielen Gemeinden – die wollen keine verbindlichen Ziele festschreiben. Wir brauchen wirksamen und ehrlichen Bodenschutz, kein Wischiwaschi-Papier.
Widerstand gegen Klimaschutz kommt aus Niederösterreich. Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner spricht von der Mehrheit der Normalen. Können Sie mit dem Begriff etwas anfangen?
Kogler
Das ist brandgefährlich. Denn was die Norm ist, ist zeitabhängig. Die Kirche fand es einmal normal, Frauen zu verbrennen. Daher weiß ich nicht, wo der Unsinn mit „normal“ hinführen soll. Es geht in der Demokratie um Mehrheiten – aber auch Minderheiten müssen geschützt werden. Gute Politiker:innen werben dafür, wovon sie überzeugt sind, und verstecken sich nicht hinter dem, was sie zur Norm erklären. Ich finde diese Ausdrucksweise eben deshalb brandgefährlich und darüber hinaus präfaschistoid. Eine derartige Herangehensweise ist das Einfallstor für das Böse in der Welt, um in der Diktion der katholischen ÖVP zu sprechen.
Verändert sich die ÖVP?
Kogler
Seit dem Abgang von Sebastian Kurz ist ein Selbstfindungsprozess im Gange. Und in Niederösterreich wurde ein Koalitionspapier fixiert, das ich für schwer erklärungsbedürftig halte.
 Mit der FPÖ, die Sie Kellernazis nennen.
Kogler
Ich meine explizit nicht Wählerinnen und Wähler der FPÖ. Sondern einige FPÖ-Verantwortungsträger – oder Unverantwortungsträger, die dieses Gedankengut heraushängen lassen.
FPÖ-Chef Udo Landbauer wollte Sie klagen. Haben Sie die Klage schon?
Kogler
Nein, ich verstehe seinen Reflex, bin aber davon ausgegangen, dass es nie dazu kommt. Ich würde der Klage mit Freude entgegensehen und in den vorgehaltenen Fällen den Wahrheitsbeweis antreten.
In Niederösterreich ist Gendern verboten. Was halten Sie von Gendersternchen?
Kogler
Es wird, ausgehend von den USA, viel zerstört, um Aufregung zu erzeugen. Ich will mich nicht an dieser Aufregung beteiligen, sonst bleiben wir auf der FPÖ-Leimspur picken. Es geht nur mehr um Pseudo-Kultur-Debatten, an denen man sich abarbeitet. Ich bin oft im Fußballstadion, da steht die Bundeshymne im Mittelpunkt und damit die „großen Töchter“. Frauen haben in Österreich in der Vergangenheit, in der Gegenwart viel geleistet und werden das erst recht in der Zukunft tun. Die blauen Brüder, die das ablehnen, wollen den Fortschritt vermasseln.
Sind Kulturdebatten für den Zulauf zur FPÖ wichtiger als Migration?
Kogler
Die extrem rechten Strömungen profitieren von gewisser Unzufriedenheit. Wir sehen das auch in den Nachbarstaaten. In unübersichtlichen Krisenzeiten sind große Unsicherheiten mehr als verständlich. Das nehmen wir ernst. Jetzt sollten sich die positiven und optimistischen Kräfte organisieren, einander unterhaken und Spirit verströmen. Wir brauchen wieder Zuversicht und Engagement und Herz und Hirn. Und: mehr mutige Verantwortungsträgerinnen und -träger. Man sagt immer, die Rechten geben einfache Antworten. Sie geben aber einfach gar keine Antworten, sie plärren einfache Parolen.
Die werden aber gehört.
Kogler
Das ist ja die Krux. In Wirklichkeit gibt es zwei Blöcke: Wir haben eine Zukunftsgruppe und eine Retro- und Vergangenheitstruppe.
Wohin gehört die ÖVP?
Kogler
Auch die ÖVP hätte viel mehr Potenzial zu Innovation und Zukunftsfähigkeit im wirtschaftlichen Bereich. Aber in taktischer Verirrung blinkt sie zu oft blau.
Die Regierung war von Korruptionsaffären überschattet. Eine Waffe gegen Korruption ist Transparenz. Das Informationsfreiheitsgesetz wird aber immer wieder verschoben. Kommt das noch?
Kogler
Vom Anti-Korruptions- und Transparenz-Paket sind vier Fünftel erledigt: Das strenge Parteien-Transparenz-Gesetz inklusive Spendenbegrenzung ist beschlossen, die Lücke im Korruptionsstrafrecht ist geschlossen, dazu müssen verfassungsmäßig alle Studien und deren Kosten veröffentlicht werden. Das Einzige, das ehrlicherweise fehlt, ist die Info-Freiheit.
Sie wollten Österreich in die Champions League bringen. Wo spielt es derzeit – Regionalliga?
Kogler
Ich bin zwar Sturm-Anhänger, aber da fehlt noch die Rapid-Viertelstunde: Das Amtsgeheimnis muss weg. Die Kollegin Edtstadler ist mit dem Entwurf fertig. Jetzt geht es noch einmal um die Bundesländer. Die kündigen schon wieder Verzögerungen an, obwohl wir ihnen mit Regeln für kleine Gemeinden und öffentliche Firmen schon entgegengekommen sind. Ewig wird die Verzögerung nicht angehen.
Sie könnten die Info-Freiheit ohne Länder für die Bundesebene beschließen.
Kogler
Breite und durchschlagende Wirkung bekommt es nur über alle Gebietskörperschaften. Die Bürgerinnen und Bürger interessieren ja gerade Vorgänge in Gemeinden, Bundesländern und landeseigenen Firmen. Wir als Bund verstehen das und wollen nicht gelten lassen, wenn die Landeshauptleute zum hundertsten Mal den Datenschutz vorschieben.
 Sie drängen auf Besteuerung hoher Erbschaften. Halten Sie Vermögenssteuern auch für sinnvoll?
Kogler
Ich bin aus ökonomischer Überzeugung dafür, Millionenerben zu besteuern. Das wäre ein gerechter Beitrag, vermindert Vermögenskonzentration, und außerdem ist Erben keine Leistung. Die Freigrenze soll eben bei einer Million Euro liegen. Gerade liberale Wirtschaftsforscher:innen sagen, dass eine solche Erbschaftssteuer ökonomisch vernünftig und leistungsgerecht ist. Ich bin zuversichtlich, dass in den nächsten Jahren Dynamik hineinkommt, auch bei der ÖVP. Sie wird erklären müssen, warum gerade sie gegen das Leistungsprinzip ist.
 Von der SPÖ-Idee der Vermögensbesteuerung halten Sie wenig?
Kogler
Das ist schwerer umzusetzen. Mir geht es um einen Beitrag der Millionenerben. Damit laufen die Gegenkampagnen ins Leere, die kleine Häuslbauer oder die Oma mit dem Sparbuch vorschicken. Ja, wir müssen die Steuern und Abgaben auf Erwerbsarbeit senken. Dafür werden wir Gegenfinanzierungen brauchen. Da wären wohl auch die NEOS dabei. Österreich ist ein Hochsteuerland für alle, die hackeln. Aber wir sind eine Steueroase für Millionenerben. Daher kämpfen wir Grüne für dieses Anliegen.
Die Grünen sind in Tirol und Salzburg aus der Regierung geflogen, in Kärnten nicht in den Landtag gekommen. Ein Höhenflug schaut anders aus.
Kogler
Wir haben in Niederösterreich dazugewonnen, seit den Regierungsverhandlungen im Bund haben wir bei sieben von neun Landtagswahlen dazugewonnen. Aber ja, im Moment ist die Situation für Regierende nirgendwo leicht.
 58 Prozent der Bevölkerung fühlen sich von der Politik nicht vertreten.
Kogler
Dieses Misstrauen betrifft viele Institutionen, politische Parteien und Medien besonders stark. Wir müssen mit Zuversicht und Ideen für eine bessere Zukunft Überzeugungsarbeit leisten. Die Demokratie soll es uns wert sein, um sie zu kämpfen.
 Juckt es Sie noch, werden Sie Spitzenkandidat bei der Nationalratswahl?
Kogler
Um mit einem Van-der-Bellen-Zitat zu antworten: Wenn mir nicht ein Ziegelstein auf den Kopf fällt, ist das so.

Interview: Eva Linsinger, Fotos: Alexandra Unger

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin